6685402-1962_14_04.jpg
Digital In Arbeit

Wer den russischen Bauern hat...

Werbung
Werbung
Werbung

hängen. Allerdings ist der Senator, der 1948 von den von der regulären Parteiorganisarion abgesplitterten südlichen Demokraten zum Präsidentschaftskandidaten nominiert worden war, in seiner Untersuchung so einseitig, daß selbst seine südlichen Parteifreunde ihn kritisieren.

Wohl von Sorge um den Ausgang der Herbstwahlen getrieben, versuchte Präsident Kennedy mit kühner Strategie, die republikanisch-süddemokratische Allianz durch Aufrollung der republikanischen Flanke zu zerstören. Et übernahm sich aber und mußte eine Niederlage einstecken.

Er schlug nämlich dem Kongreß vor, ein neues Ministerium für städtische Angelegenheiten zu schaffen. Damit brachte er nicht nur die Republikaner in Verlegenheit, die die benachbarten Städter mit leeren Versprechungen hingehalten hatten, sondern bedrohte die Basis der Konservativen überhaupt. Sie besteht in dem Übergewicht der ländlichen über die städtischen Stimmen.

Gleichzeitig gab der Präsident bekannt, daß er einen Farbigen zum Minister ausersehen hatte. Wenn auch schon Eisenhower den Namen des Gesundheitsministers veröffentlicht hatte, bevor das Ministerium vom Kongreß gebilligt worden war, ist es ungewöhnlich, Amtsträger zu designieren, bevor das Amt besteht. Der Präsident wollte damit die Farbigen gemeinsam mit den Städtern gegen die Republikaner aufwiegeln, falls diese das neue Ministerium verhinderten.

Eine gescheiterte Gegenoffensive

Weil die Chancen der Vorlage im Senat besser als im Repräsentantenhaus waren, lag dem Präsidenten daran, daß zuerst im Senat abgestimmt würde. Der zuständige Ausschuß, dessen Vorsitzender ein südlicher Demokrat ist, hatte aber keine Eile, die Vorlage vor das Plenum zu bringen. Daraufhin wies Mr. Kennedy seine Offiziere im Senat an, den Ausschuß zu übergehen, und brachte mit diesem ungewöhnlichen Vorgehen, das den

Traditionen der oberen Kammer widerspricht, den Senat gegen sich auf. Mit den Stimmen sogar einiger nördlicher Demokraten lehnte dieser es ab, dem Ausschuß die Vorlage wegzunehmen. Am nächsten Tag stimmte das Repräsentantenhaus mit 264 gegen 150 Stimmen gegen die Schaffung des Ministeriums. Nicht weniger als 111 Demokraten, darunter 18 nördliche, opponierten dem Präsidenten.

Die Republikaner verfolgten den „sich absetzenden“ Feind erbarmungslos. Sie erklärten, falls der Präsident Dr. Weaver, den farbigen Minister in spe, zum Leiter des wichtigeren Gesundheitsministeriums bestellen wollte, würden sie für die Ernennung stimmen.

Zumindest indirekt bedeutet dies Ergebnis also eine Stärkung der reaktionären Kräfte. Wenn es noch dazu gelingt, Mr. Welch durch einen Mann mit größeren Fähigkeiten der Massenbeeinflussung zu ersetzen, haben sich die Reaktionäre eine massive Ausgangsposition für die Herbstwahlen geschaffen.

Die Einberufung des Zentralkomitees der KPdSU durch Chruschtschow im März dieses Jahres erfolgte, um aktuelle Fragen der Landwirtschaft zu behandeln. Im Westen vertrat man mancherorts die Meinung, daß das Thema Landwirtschaft nur ein zweitrangiger Anlaß, gewissermaßen eine Kulisse für wichtigere, geheimnisvolle Fragen, gewesen sei, um das ZK einzuberufen. Wir sind jedoch der Überzeugung, daß es bei der Tagung des höchsten Parteigremiums tatsächlich um Fragen der Landwirtschaft ging-

Wir gehen dabei von zwei Überlegungen aus: Erstens, die Landwirtschaft ist seit eh und je das Kernproblem des russischen Raumes. Die Industrialisierung der Sowjetunion ist eine Erscheinung unserer Zeit, die Landwirtschaft dagegen gehört substantiell zum russischen Leben. Wer den russischen Bauern gewonnen hat, hat Rußland für sich. Den Bauern kann man nur dann für sich gewinnen, wenn man seinen Hunger nach Boden und seine Not an landwirtschaftlichen Produkten zu meistern versteht. Dies wurde auch von Lenin klar erkannt. Nicht umsonst war das erste kommunistische Gesetz das Agrargesetz, das den ganzen Boden, also alles, was Staat, Kirche und Großgrundbesitzer besaßen, den Bauern zur Verfügung stellte. Damit war die

Stalin und die Saatenfolge '

Betrachten wir, zweitens, die Stellungnahme Chruschtschows zum Problem Landwirtschaft, so sehen wir, mit welcher Leidenschaft und Gründlichkeit er auf die verschiedenen Fragen einging. Angesichts der Länge seines Referats und der erschöpfenden Behandlung des ganzen Fragenkomplexes kann man sich gar nicht denken, daß andere Fragen die Zentralstellung dieser- ZK-Tagung hätten einnehmen können. Für den Kenner sowjetischer Verhältnisse steckt genug Inhalt und Dramatik in den von Chruschtschow behandelten vier Punkten: Da sind einmal das Problem der Saatenfolge, dann die Schwierigkeiten bei der Mechanisierung der Landwirtschaft, ferner das Problem der — wenn auch langsam — steigenden Kaufkraft der Bevölkerung und schließlich und endlich die Frage des Einsatzes von Arbeitskräften in der Landwirtschaft. Somit Probleme von entscheidender Bedeutung. Sie wurden von Chruschtschow auch klar, wenn auch, im ganzen gesehen, etwas langatmig formuliert: „Dadurch, daß wir in der Führung der Landwirtschaft nachgelassen haben, ist die Durchführung des Siebenjahrplans der landwirtschaftlichen Produktion ernstlich gefährdet.“

Zu Stalins Zeiten wurde die Saatenfolge einheitlich für das ganze Riesenreich nach den Methoden des Akademiemitgliedes W. P. Wiljams geregelt. Nach der Lehre von Wiljams mußten zur Bodenverbesserung und als Futtermittel hauptsächlich Kulturgräser (verschiedene Kleearten usw.) angebaut werden. Dies hatte zur Folge, daß manche Kolchosen die Hälfte ihrer Anbaufläche mit diesen im großen und ganzen wenig ertragreichen Gräsern bebaut hatten. Riesige Flächen blieben

somit für die Produktion von Nahrungsmitteln ungenützt. Chruschtschow fordert nun schon seit geraumer Zeit, dieses wenig produktive System aufzugeben und statt dessen Bohnen- und Maiskulturen anzulegen. Er verspricht sich dabei bedeutend höhere Ernteergebnisse und damit mehr Futtermittel, mehr Fleisch, mehr Fett, mehr Milch. Schon bei seinem Rechenschaftsbericht vor dem XX. Parteitag im Jahre 1956 vertrat er die Forderung:

„Ein wichtiger Faktor für die Hebung der Landwirtschaft ist eine richtige Saatgutzucht. Die Saatgutzucht wird bei uns vernachlässigt, obwohl man meinen sollte, daß diese Aufgabe in einem organisierten Großbetrieb nicht so schwer zu lösen ist. Und wenn sie nicht gelöst wird, so nur bei einer Unterschätzung dieser Frage durch die Mitarbeiter der Landwirtschaft.“ Chruschtschows Argumente sind stichhaltig — ob sie sich aber gegen den Konservativismus der für die Landwirtschaft Verantwortlichen durchsetzen werden, wird die Zukunft zeigen.

Zwei Schritte vorwärts, einen zurück

Einem in der Prawda am 14. März 1962 abgedruckten Brief Lenins ist zu entnehmen, daß er schon früh die

Bohnen bei der Hebung der landwirtschaftlichen Produktion erkannt habe. Er habe Sofortmaßnahmen verfügt, um diese Produkte zur Verwendung als Nahrungsmittel heranzuziehen. Lenin sprach in diesem Zusammenhang von „Gewohnheiten und Traditionen der Bauern“, die freilich erst überwunden werden mußten. Er schrieb diesen Brief am 17. •ktober 1921, also in einer Zeit der größten Not. Das Wolgagebiet war der Schauplatz einer der größten Hungerkatastrophen der damaligen Zeit. Wiederholte Mißernten, der Zerfall des ohnehin schon

während der Zarenzeit brüchigen Wirtschaftssystems, der Bürgerkrieg hatten zu einer Hungersnot unvorstellbaren Ausmaßes in einem riesigen Gebiet Rußlands geführt. Fälle von Kannibalismus waren an der Tagesordnung. Die Rettung für die hungernde Bevölkerung brachte damals der große Norweger Fridtjof Nansen, für die Landwirtschaft bewirkte die Einführung der „Neuen Ökonomischen Politik“, genannt NEP, eine Wendung zum Besseren. Die Politik des NEP bedeutete ein Zugeständnis, einen Schritt zurück. Nach dem leninistischen Prinzip des „Zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück“ also eine durchaus akzeptable Maßnahme.

Rufen wir uns bei dieser Gelegenheit ins Gedächtnis zurück, daß Rußland bereits zwei Jahre später nach dem Westen Lebensmittel exportierte — allerdings ohne besondere Rücksichtnahme auf den Bedarf der eigenen Bevölkerung. In diesem Punkt ist die heutige Situation anders. Heute steht das Konsumationsbedürfnis der eigenen Bevölkerung im Vordergrund. Chruschtschow formuliert das folgendermaßen :

„Man muß die landwirtschaftliche Produktion in kürzester Zeit verdoppeln und verdreifachen. Um das zu erreichen, was wir bisher erreicht haben, haben wir 40 Jahre gekämpft. Was wir nun erreichen sollen, ist, nicht in vierzig, sondern in einigen Jahren zu verdoppeln, zu verdreifachen. Das verlangt das Leben Bezeichnend ist auch, wie gerne man bei der Behandlung von Agrar-problemen immer wieder auf Lenin zurückgreift, nicht nur, weil er d e t Klassiker ist, sondern auch desweeen, weil er gerade bei der russischer Bauernschaft hoch im Ansehen stand und steht. Hatten es doch die russischen Bauern erstmalig unter der Regierung Lenins zu einem gewissen Wohlstand gebracht!

Warum applaudiert ihr jetzt nicht?

Das nächste Problem, das von Chruschtschow aufgezeigt wurde, die Mechanisierung der Landwirtschaft, bot sich durch die angeführten Beispiele und statistischen Unterlagen mit all seinen Mängeln dar. Bloß ein Viertel aller sowjetischen Kühe wird maschinell gemolken. Kartoffeln. Mais, Zuckerrüben werden noch immer ohne maschinelle Hilfsmittel geerntet. Freimütig bekennt Chruschtschow, daß man keine großen landwirtschaftlichen Erfolge haben könne, ohne ausreichend mechanisiert zu sein: „Es nützt nichts, die Leute aufzurufen, ohne ihnen die Mittel der Technik zur Verfügung zu stellen.“ Diese Feststellungen wurden

von den Genossen mit Beifall quittiert. Darauf fuhr Chruschtschow mit einem Anflug von Sarkasmus fort: „Das hat einigen gefallen. Aber man kann nicht gut Mais mit einer Hacke ernten oder . Mähdrescher stehen lassen, nur weil sie nicht genügend instand gesetzt worden waren. Nun, Genossen, applaudiert jetzt, warum applaudiert ihr nicht?“ Chruschtschow brachte statistische Angaben der Staatsgüter, die ja vom Staat besonders gepflegt und gefördert werden. Wie trist muß dann erst die Lage auf den Kolchosen seinl

Zur Illustration einige Zahlen über en Maschinenpark:

Diese Zahlen sprechen für sich. Chruschtschow selbst gibt zu, daß es mindestens zwei bis drei Jahre dauern werde, bis die von der Landwirtschaft dringend benötigten Maschinen konstruiert werden. Nun, in etwa drei Jahren wird ein ganz anderer quantitativer und qualitativer Bedarf herrschen!

Besser essen 1

Ein weiteres Glied in der Kette der landwirtschaftlichen Probleme stellt die steigende Kaufkraft der Bevölkerung dar: sie bewirkt einen steigenden Kaufhunger. Die Bevölkerung will mehr Waren und Nahrungsmittel kaufen, will besser essen, also wieder: mehr Fleisch, mehr Butter, mehr Geflügel usw.

Es war mehr als eine rhetorische Meisterleistung, daß Chruschtschow im letzten Teil seines vielstündigen Referats das aus den vorhergehenden Fragen resultierende vierte Kardinalproblem der sowjetischen Landwirtschaft, das des Einsatzes und der Bewährung des Menschen in der Landwirtschaft, zu einer wahren Dramatik steigern konnte. Zur Bewältigung besonderer Aufgaben werden nach bewährtem Muster „der Parteigenosse“ und die Parteijugend, die Komsomolzen, aufgerufen, ihre Arbeitskraft der Landwirtschaft zur Verfügung zu stellen. Komitees sollen gegründet werden, um mit Rat und Tat zu helfen. Es ergeht der Ruf an tatkräftige Menschen, die vernünftig und mit Verantwortungsbewußtsein handeln, die wirtschaftlich denken können; so wie ein Landwirt im kapitalistischen Westen sich um seine Landwirtschaft sorgt, so soll sich auch der sowjetische Kolchosnik' um die Kollektivwirtschaft kümmern.

j Wie bei allen menschlichen Einrichtungen ist auch hier die Einstellung des einzelnen, unmittelbar Betroffenen der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Wird es der Führung der sowjetischen Landwirtschaft gelingen, zur Lösung all der schwerwiegenden Probleme die richtigen Leute zu finden und einzusetzen, oder wird sie gezwungen sein, das ganze Kapitel Landwirtschaft noch einmal von Grund aul durchzudenken?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung