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Wer ist ein Antiitaliene ?

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Lieber Freund A.!

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Lieber Freund A.!

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Mehr als zwei Jahre bin ich nun schon in Rom, ich habe eine Unmenge von Artikeln über Italien geschrieben, mit Dir und anderen Freunden habe ich nächtelang über das Südtirolproblem diskutiert — aber bis vor kurzem waren Politik und Privatleben in meinem römischen Dasein streng geschieden. Mit anderen Worten: Niemand machte mir meine Nationalität oder meine Meinung zum Vorwurf, wie auch ich niemand nach seiner Nationalität oder seiner Meinung einschätze, sondern bloß nach seinen menschlichen Werten. Soll es letzt anders werden? Das Gespräch, das wir neulich miteinander führten, gibt Anlaß. solches zu befürchten.

Du erinnerst Dich noch: Ich hatte Dich um eine Gefälligkeit gebeten, in Deiner großzügigen Art sagtest Du zu, alles schien auf dem besten Weg zu sein — aber dann riefst Du plötzlich mit allen Zeichen der Aufregung an, ich kam in Dein Büro, und Du stelltest an mich ohne Umschweif die Gretchenfrage. Ob es denn wahr sei, daß ich ein Antiitaliener wäre? Deine Freunde hätten trotz Deiner Intervention die Erfüllung meiner Bitte verweigert; sie hätten diesen und jenen von meinen Artikeln über Südtirol gelesen und daraus den Schluß gezogen, daß ich ein Feind Italiens sei. Mit Feinden Italiens aber wollten sie nichts zu tun haben.

Ich gestehe, daß ich im ersten Augenblick perplex uw. Die Verwirrung nahm zu, als ich von Dir hören mußte, daß Deine Freunde allen Ernstes den Abbruch ihrer persönlichen Beziehungen zu allen Österreichern, Südtirolern und Deutschen in Erwägung ziehen: man sehe ja letzt wieder aus dem Eichmann-Prozeß mit Deutlichkeit, was für finstere Gesellen die Deutschen seien, sagtest Du. Da war sie wieder, die längst überholt geglaubte These von der Kollektivschuld;

Du;, dehntest .: sie,,¡¡sozusagen rinn Vorübergehen, gleich noch auf die Südtiroler ms, die sich in Rom ■ ihr Brot verdienen, weil es unanständig sei. in der Hauptsadt eines Staates zu arbeiten, dem man sich, trotz Besitzes der Staatsbürgerschaft, nicht zugehörig fühle.

Es war kein sehr erfreuliches Zwiegespräch, und als ich Dich verließ, hatte ich gemerkt, daß der kalte Krieg zwischen Österreich und Italien nun wirklich begonnen hat. Ungefähr zur gleichen Zeit wurden in Südtirol die Schützentrachten verboten, in Tramin richtete man, als ein neues Zwing- Uri, ein Polizeikommissariat mit 27 italienischen Polizeibeamten ein, und die Südtirolreferentin der Tiroler Landesregierung, Frau Regierungsrat Dr. Viktoria Stadlmayr, wurde beim Überschreiten der Brennergrenze unter der Anklage der „antinationalen Propaganda“ verhaftet.

So weit sind also zwei der ältesten Kulturnationen Europas gekommen, daß über ihre Streitigkeiten die diversen Kasavubus entscheiden dürfen, während sie selbst jeden, der nicht ihrer Meinung ist, von vorneherein zum Feind des Vaterlandes stempeln.

Es ergibt sich somit, im Konkreten, die Frage, ob jeder, der in der Südtirolfrage nicht auf der Seite Italiens steht, deshalb ein Feind Italiens ist. Damit ist auch eines der schwierigsten Probleme der österreichischen Außenpolitik angeschnitten: Österreich sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die berechtigten Forderungen seiner Landsleute in Südtirol zu vertreten, ohne gegenüber Italien einen Zustand beständiger Spannung herbeizuführen, was im Zeitalter der europäischen Integration zweifellos ein Anachronismus wäre. Der frühere Außenminister Ing. Dr. Figl versuchte zu diesem Ergebnis zu gelangen, indem er sehr leise und behutsam, ganz im Sinne der alten Geheimdiplomatie, vorging; dies brachte ihm den Vorwurf ein, er interessiere sich nicht für die Südtirolfrage. Der jetzige Außenminister Doktor Kreisky scheut die Öffentlichkeit nicht; das verschafft ihm in Österreich und in Südtirol Popularität, verstärkt aber bei den Italienern die Meinung, daß es Österreich im Grunde doch nicht bloß auf die Auwnomie, sondern auf den Anschluß Südtirols abgesehen haben könnte. Niemand hat

noch eine Lösung für die Quadratur des Zirkels gefunden.

Tatsächlich ist eine Lösung der Südtirolfrage auch nicht denkbar, solange nicht als Voraussetzung erst jenes Mindestmaß an Vertrauen hergestellt wird, ohne das Verhandlungen von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Österreicher müssen glauben können, daß Italien die deutschsprachige Mehrheit im Lande zwischen Brenner und Salurn zu bewahren bereit ist — und die Italiener müssen glauben können, daß sich hinter der Forderung nach echter Autonomie für Südtirol nicht ein machiavellistischer Rückgewinnungsplan auf lange Sicht, sondern bloß die Sorge um den Fortbestand Tiroler Art in den politisch zu Italien gehörenden Alpentälern ver- birgt.

Wir wollen ganz ehrlich sein: Wahrscheinlich gibt es niemanden in Österreich, der eine Rückkehr Südtirols nicht als gerecht empfinden würde. Italiens Besitztitel — das wirst Du zwar nie zugeben, aber Du sollst Dir wenigstens selbst darüber Rechenschaft ab- legen — sind schwach: Im Jahre 1938 gab es in der heutigen Provinz Bozen ganze 7000 Italiener, der Prozentsatz der Italiener in der Stadt Wien war höher als der in der Stadt Bozen, und auch das historische Argument, nämlich die Besiedlung durch die alten Römer, geht vollkommen daneben, weil Italien mit dem gleichen Recht auch die ehemaligen Römersiedlungen

Wien, Paris und London beanspruchen könnte. Was die natürliche Grenze betrifft, so haben zahlreiche Staaten, darunter Österreich, eine solche nie besessen; im Zeitalter der Atombombe hat sie ohnedies keine Bedeutung mehr. Und das Blutopfer der 600.000 Italiener im ersten Weltkrieg als Argument zu gebrauchen, wie es häufig geschieht — „Dieses Land haben wir mit dem Blut unserer Väter erobert“ — scheint erst recht abwegig, weil beispielsweise Deutschland, das im zweiten Weltkrieg 4,1 Millionen Menschen verlor, mit der gleichen Beweisführung die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über ganz Europa rechtfertigen könnte. Bleibt also nur noch die Berufung auf das Abkommen zwischen Hitler und Mussolini und die Optionen und Rückoptionen; aber Du wirst zugeben müssen, daß die einfachen Bergbauern, die sich aus Furcht, nach Kalabrien oder Äthiopien verpflanzt zu werden, lieber nach Kärnten oder Bayern verpflanzen lassen wollten, damit kein Bekenntnis zum Nationalsozialismus abgelegt haben, ebensowenig wie ihre Rückoption ein Bekenntnis zu Italien bedeutete, sondern nur der Liebe zur Vätererde und zu jenem Begriff der „Heimat“ entsprang, für den die italienische Sprache keine Bezeichnung hat.

Wenn aber so viele Gründe für eine Rückgliederung Südtirols an Österreich sprechen könnten, so sprechen ebenso viele oder noch mehr dagegen. Der rein machtpolitische liegt darin, daß der neutrale Siebenmillionenstaat Österreich gar nicht die Möglichkeit hat, einen etwaigen Territorialanspruch gegenüber dem 5l-Millionen-NATO- Staat Italien durchzusetzen; und da Politik die Kunst des Möglichen ist, hegen nicht einmal die radikalsten Tiroler den Traum, die Kaiserjäger mit klingendem Spiel durch die Straßen von Bozen marschieren zu sehen. Aber selbst wenn Österreich die Möglichkeit hätte, mit Aussicht auf Erfolg territoriale Forderungen zu erheben:

Läge dies in seinem wohlverstandenen Interesse? Die Antwort kann, so glaube ich, nur negativ ausfallen.

Wir wissen, daß sich die Zahl der Italiener in der Provinz Bozen dank der Einwanderungspolitik Mussolinis in den Maßen der abrahamitischen Weissagung vermehrt hat; aus den 7000 Italienern des Jahres 1918 sind mittlerweile 135.000 geworden. Die binnenitalienische Süd-Nord-W ande-

rung in den letzten anderthalb Jahrzehnten hat zu der politisch bedingten Einwanderung der faschistischen Ära noch die wirtschaftlich bedingte Einwanderung des demokratischen Regimes gefügt, und so besteht heute fast ein Drittel der Südtiroler Bevölkerung aus italienischen Zuwanderern und ihren Nachkommen. Die Südtiröler sind von diesen neuen Mitbürgern noch weniger begeistert als die Bewohner von Mailand und Turin von den ihren, weil die Kalabresen und Sizilianer in Südtirol nicht nur wie in den norditalienischen Industriestädten die wirtschaftlichen Interessen der Eingessenen bedrohen, sondern ihre gesamte nationale und kulturelle Existenz, ihr Dasein als geschlossene deutschsprachige Volksgruppe. So ist die gesamte Politik der Südtiroler Volkspartei seit je auf eine Eindämmung der Zuwanderung gerichtet gewesen, und sie wird es auch in Zukunft sein. Aber gleichgültig, wie man zu der Zuwanderung stehen mag, sie ist jedenfalls bereits eine vollendete

Tatsache, und man muß sie in Rechnung stellen. Käme Südtirol heute zu Österreich, so gäbe es zwar keine österreichische Minderheit in Italien mehr, dafür aber eine italienische in Österreich, und der Zank würde mit umgekehrten Vorzeichen fortgesetzt werden.

Eine solche Situation hätte in den klassischen Zeiten des Nationalismus und der europäischen Kleinstaaterei wohl überhaupt nicht gelöst werden können, um so mehr, als Italien nicht nur auf seine eingewanderte Bevölkerung, sondern auch auf seine wirtschaftlichen Interessen und Investitionen Bedacht zu nehmen hat. Aber heute besteht die Brennergrenze ja nur noch in Zeiten besonderer politischer Hochspannung und dient daun zur Verhaftung von Leuten wie der Frau Dr. Stadlmayr, einem, am Rande bemerkt, meiner Meinung nach unglaublich törichtem Akt; sonst haben sie die Millionen von Touristen, allen politisch begründeten Boykottdrohungen zum Trotz, längst zum Einsturz gebracht, und gewisse Orte an der Adria sind heute ein ebenso selbstverständliches Sommerfrischenziel der Wiener, wie es zur Zeit meines Großvaters die nur 30 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Orte Neulengbach oder Gutenstein gewesen sind. Deshalb haben weder Wien noch die Villa Brigl, ja nicht einmal Innsbruck, die Brennergeuze je in Frage gestellt, und es ist den italienischen Extremisten Vorbehalten geblieben, propagandistisch zur Verteidigung der „heiligen Brennergrenze“ auszurücken, obwohl diese gar nicht bedroht ist oder schon längst nicht mehr besteht, je nachdem, wie man es betrachten will.

Je weiter die Einigung Europas fortschreitet — und die Annäherung Englands an die EWG ist wiederum ein großer Schritt voran — desto sinnloser wird es, bunte Linien in die Landkarten zu zeichnen. Um so wichtiger freilich wird es, durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, daß

jede Volksgruppe in ihrem angestammten Lebens: aum nach ihrer eigenen Fasson selig werden kann. Gegen die Freizügigkeit in Europa ist nichts einzuwenden; sie darf aber nicht dazu führen, daß durch Unterwanderung Piemont deutschen, Württemberg italienischen oder das Gebiet der Rhone spanischen Charakter gewinnt. Ebensowenig sollte, so glaube ich, Südtirol seinen Tiroler Charakter verlieren, gleichgültig, welche Fahne am Brenner weht.

Vielleicht verstehst Du jetzt besser, warum Österreich mit solchem Nachdruck auf der echten Autonomie für die Provinz Bozen besteht: Es geht nicht um einen ethischen Naturschutzpark, wie manchmal auf italienischer Seite ironisiert wird, auch nicht um den Anschluß an Österreich, sondern einfach darum, daß die Südtiroler, wenn schon ihr Land bei Italien bleibt, bei aller Achtung vor der Staatsautorität und den Rechten des Staatsvolkes in den wesentlichen Belangen so leben können, als ob das Gebiet noch unter Österreich wäre. Nur so kann eine europäische Lösung aussehen, die sowohl den Interessen Italiens wie denen Österreichs und der Südtiroler Rechnung trägt. Wird eine solche Lösung getroffen, so hört das Problem des sogenannten Südtiroler lrredentismus von selber auf. Wird sie allerdings nicht getroffen, so ist die Prognose düster-, wenn von österreichischer Seite gelegentlich das Beispiel Zyperns angeführt wird, so ist das keine Drohung, sondern nur ein Ausdruck der Sorge, die allzu wenig elastische italienische Politik könnte irgendwelche Wirrköpfe dazu veranlassen, es einmal mit der Gewalt zu versuchen. Ich will nicht einmal leugnen, daß es in Österreich und Deutschland Leute gibt, die eine solche Entwicklung unterstützen wollen-, aber eine vernünftige italienische Politik, die sich von dem Vorurteil frei tHdcltf, daß dl&1 Süd irSkÄWeht J9Afp ihrer Staatsbürgerschaft, sondern auch ihrem Volkstum nach Italiener sein müssen, würde diesen Kräften sofort das Wasser abgraben, während eine unvernünftige italienische Politik ihnen geradezu in die Hand arbeitet.

Weil ich kein Antiitaliener, sondern im Gegenteil ein Freund Italiens bin, meine ich, daß Italien am Brenner eine Aufgabe zu erfüllen hat. Dem italienischen Volk ist neben anderen Tugenden vor allem die Kunst des Maßhaltens zu eigen;. es hat dies in der jüngsten Vergangenheit neuerdings bewiesen, als die faschistische Diktatur vor den Greueltaten zurückschreckte, die der Nationalsozialismus bei uns beging, und als Italien, wie der Eichmann-Prozeß zeigt, sogar den verfolgten Juden Hilfe und Unterstützung gewährte. Wahrscheinlich hätte es die Südtirolfrage schon längst im europäischen Sinne gelöst, wenn ihm nicht eine hundertjährige zentralistische und nationalistische Tradition das Verständnis jeder Autonomiebestrebung erschwerte. Sind auch die Südtiroler, entgegen der italienischen Behauptung, lange nicht die bestbehandelte Minderheit Europas, so sind sie doch besser behandelt worden als die Armenier in der Türkei, die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei, die Leute aus Ostpreußen und dem Wartheland in Polen-, Leute wie der Senator Tolomei, der die deutschen Familiennamen auf den Grabsteinen in den Friedhöfen tilgen ließ, vertreten nicht das wahre Italien. Die wirklichen Italiener können ihrer Anlage nach aus den Süd- tirolem in Wahrheit die bestbehandelte Minderheit Europas machen.

So gebt doch eurem Herzen einen Stoß, ihr Italiener! Laßt die Südtiroler Südtiroler sein! Hören wir auch auf, in unseren Zeitungen Österreich als ein Land von nazistischen Verbrechern und Italien als ein Land von faschistischen Verbrechern darzustellen; es stimmt das eine so wenig wie das andere. Eine europäische Lösung für Südtirol, die das Land bei Italien beläßt, aber den Südtirolern ihr Tiroler Volkstum garantiert — dann brauchen wir einander nicht mehr als Antiitaliener oder Antiösterreicher abzustempeln! Dann haben wir wenigstens auf ein paar hundert Quadratkilometer zwischen Brenner und Salurn das Europa ver-1 wirklicht, von dem wir träumen. I

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