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Wer sich nicht auskennt, zahlt drauf

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Das Beispiel ist als Einzelfall von geringer Bedeutung, als Symptom aber mit den Metastasen vergleichbar, die den unheilvollen Herd einer gefährlichen Erkrankung anzeigen.

Ein Autobus kommt von Hietzing und fährt in die Innere Stadt... Es ist ein Nachtautobus. (Wie dankbar sind wir doch unseren Stadtvätern, daß sie uns wenigstens samstags durch das nächtlich-stille Dorf“ Wien heimexpedieren!) — Man muß einen kleinen Umweg machen; denn man wohnt im Nordwesten der Stadt. Pro Teilstrecke zahlt man einen Schilling. Fünf Teilstrecken sind es bis zum Stephansplatz. Wenn man Pech hat, wartet man dort eine halbe Stunde. Und abermals fünf Teilstrecken sind es bis Gersthof; Von da nach Pötzleinsdorf hinaus geht die Linie per pedes (der Fußmarsch ist im Preis mitinbegriffen). Fährt man zu viert — dies ereignete sich — so zahlt man den Verkehrsbetrieben für eine Reise von — so man Pech hat — eineinhalb Stunden samt Wartezeit und Fußmarsch — vierzig Schilling. Man muß sich eben auskennen. Hätte man ein Taxi genommen, so wäre man für fünfunddreißig Schilling in einer Viertelstunde bis vor die Haustür gelangt.

Ja, das Gebot der Stunde „Man muß sich halt auskennen“ blüht am Stämmchen der gegenseitigen Uebervorteilung. Das ergibt Zwietracht, Feindschaft und gefinkelte

Gegenwehr. Gefinkeltes gegen Gefinkeltes. Wie denn nicht?! — Gäbe es das alles aber, wenn jeder für seine Leistung nur den Preis verlangte, den er anstandshalber von seinem teilten. In Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten ist dieses ärztliche „Tearn Work“ weiter entwickelt als bei uns. Es kann hierbei nicht übersehen werden, daß dieser erste Vorstoß gegen die bisherige individualistische Berufsausübung aus den Reihen der Aerzte selbst kam.

Nachdem aber die Sozialversicherung vor allem in den beiden Nachkriegszeiten sich zum Politikum ersten Ranges entwickelt hatte, lag es in der Richtung dieser Politik, die Sozialisierungstendenzen auch auf den ärztlichen Beruf auszudehnen. Die Begründung von fachärztlichen Ambulatorien wurde zunächst einleuchtend damit motiviert, daß der einzelne Facharzt heutzutage ja gar nicht mehr imstande sei, alle modernen erforderlichen Apparaturen selbst zu beschaffen. Der Einzelarzt arbeite hierbei höchst „unrationell“. Diagnose und Therapie seien immer komplizierter und kostspieliger geworden und erfordern einen Aufwand von Mitteln, der die Leistungsfähigkeit des einzelnen weit übersteige. Es ergebe sich demnach scheinbar mit logischer Notwendigkeit, daß das Schwergewicht der fachärztlichen Tätigkeit fortschreitend aus dem wenig leistungsfähigen privatärztlichen „Kleinbetrieb“ in den „Großbetrieb“ der kasseneigenen Ambulatorien und Spitäler verlegt werden müsse.

Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß die Ambulatorien in gewissem Ausmaße eine notwendige und wertvolle Ergänzung zur kassenärztlichen Ordination darstellen. Sie ermöglichen dem Kassenarzt die Durchführung kostspieliger und technisch schwieriger Untersuchungsmethoden für die Diagnose und eine Erweiterung der Therapie, die seine Leistungsfähigkeit übersteigen würde. So arbeiten zum Beispiel 'Ambulatorien für physikalische Therapie durchaus rationell.

Was aber abgelehnt werden muß, ist die Tendenz zur Hypertrophie der Ambulatorien auf Kosten der freien Praxis.

Wenn man dieser Tendenz mit allen ihren unvermeidlichen Konsequenzen ins Auge schaut, so ergibt sich aus ihr, daß ihr Ziel das Ende der ärztlichen Berufsfreiheit bedeutet. Und darum gilt ihr der Kampf aller Aerzte: nicht nur derer, die- von den Krankenkassen einen gerechten und menschenwürdigen Lohn auch für den Arzt fordern, sondern vor allem der Aerzte, denen die Berufsfreiheit zum unveräußerlichen Wesen des ärztlichen Berufes selbst gehört.

Rein materiell würde es der Mehrzahl der Aerzte bei der Vollsozialisierung ihres Berufes sicher nicht schlechter gehen als bei der derzeitigen Situation, in der die Berufsfreiheit ohnehin nur mehr eine mühsam aufrechterhaltene Fiktion darstellt (G r o t j a h n).

Es geht aber um mehr — es geht um das Wesen des Arztberufes, des Verhältnisses zwischen dem kranken Menschen und dem helfenden Arzt. Die Heilbehandlung kann nun einmal nicht von ihrer individualistischen Wurzel losgelöst werden, ohne daß das,Wesen eines höchstpersönlichen Vertrauensverhältnisses preisgegeben- werden müßte.

Wie bereits ausgeführt wurde, bedeutet Kassenpraxis notwendig Massenpraxis und Massenbetrieb. Daß in den Ambulatorien ein unpersönlicher Massenbetrieb unvermeidlich ist, dürften die bisherigen Erfahrungen wohl eindeutig bestätigt haben. Daß auch in den Ordinationen der Kassenärzte Massenbetrieb unvermeidlich ist, ist gleichfalls bereits erwähnt wotden. Dies liegt freilich nicht nur am Honorarsystem der Krankenkassen; an jenem System des Pauperismus, das auch aufrechterhalten wurde, als die Kassen längst nicht mehr bloß die Armen erfaßt hatten, sondern immer weitere Volksklassen bis zu Einkommensstufen, die das Einkommen des Arztes oft um ein Vielfaches übertrafen, für die also keine Notwendigkeit mehr bestand, die Sozialversicherung in Anspruch zu nehmen, die sich jederzeit auch neben dem Kassenarzt einen „Privatarzt“ leisten können, während der Kassenarzt, um notdürftig leben zu können, auf den Massenbetrieb immer mehr angewiesen war. Daß dieser Massenbetrieb aber für die Krankenkassenpraxis geradezu zum Wesenselement geworden ist, liegt weniger daran, daß der Kassenarzt auf ihn materiell angewiesen ist, als an einem grundlegenden Konstruktionsfehler unserer Krankenversicherung, der nicht notwendig und wesensbegründet ist, sondern der bei einigem guten Willen und Gerechtigkeitssinn zu beseitigen wäre.

Dieser Fehler liegt in dem die ganze Krankenversicherung beherrschenden Prinzip der „Arztleistung bzw. Krankenhilfe i n na t u r a“. Soweit die Krankenversicherung wirklich Unbemittelte, Bedürftige und Notleidende erfaßt, ist dieses Prinzip berechtigt und unvermeidlich. Es bedeutet: Die Kosten für Arzt, Arznei und Apotheke usw. werden von der Kasse selbst getragen. Sie werden nicht unmittelbar vom Kranken bezahlt und an diesen nur rückvergütet. So notwendig die Krankenhilfe in natura für den Armen ist, so schädlich wirkt sie sich als Verletzung des grundlegenden Sozialprinzips der Subsidiarität bei den gehobenen Einkommenstufen aus. Hier steht die Krankenkasse ohne Not zwischen dem Arzt und dem Kranken, anstatt hinter dem letzteren als bloße Rückendeckung zu stehen.

Dieser Fehler bringt es mit sich, daß der Arzt mit Bagatellfällen überlaufen wird, in denen er nur einen Schein zu unterschreiben hat, durch den ein Anspruch gegen die Kasse begründet wird (zum Beispiel Verordnung von Brillen, Bruchbändern, sogenannten „kleinen Heilbehelfen“). Er bringt weiter mit sich, daß der Arzt- ständig nur Scheine zu unterschreiben hat, mit denen anderweitige Ansprüche, wie Zuweisungen an Fachärzte und Spitäler, außergewöhnliche Verordnungen, physikalische Behandlung, Gewährung kostspieligerer Heilmittel, begründet werden. Das ist die zweite und wichtigere Ursache dafür, daß ein unpersönlicher Massenbetrieb in der Kassenpraxis unvermeidlich ist, in dem es eine individuelle Heilbehandlung nicht mehr geben kann, schon deshalb, weil für den einzelnen Patienten viel zuwenig Zeit bleibt.

Wir wollen hier davon absehen, daß das Dazwischentreten der Kasse zwischen Arzt und Kranken ein Dreiecksverhältnis begründet, das seinerseits die ärztliche Ethik tief untergraben, aber auch die Ethik der Kranken gegenüber dem Arzt und der Kasse schwer korrumpiert hat. K i r s t e i n hat schon 1922 treffend auf dieses „Betrugsdr e i e c k“ hingewiesen.

Es hat Autoren gegeben, die die Meinung vertreten haben, die erwähnte Deroute der ärztlichen Ethik liege keineswegs an der Krankenversicherung als einer Form der sozialisierten Medizin, sondern vielmehr daran, daß die Krankenversicherung in ihrer bisherigen Form lediglich eine halbe bzw. auf halbem Wege stehengebliebene Sozialisierung darstelle. Um ihre schädlichen Folgen für die Sozialhygiene und die ärztliche Ethik zu beheben, gebe es nur einen Weg: Den der konsequenten, bis zum Ende durchgeführten Vollsozialisierung (cf. Cronin, Kneucker). Das würde nur bedeuten, die letzten Reste einer Berufsfreiheit preiszugeben, die ohnehin keine mehr sei, um die es daher nicht schade sei. Als Beamter des Staates bzw. als festangestellter Funktionär der Kassen würde der Arzt freier und unabhängiger als bisher und dazu auch materiell weit besser gestellt sein.

Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß gerade die französischen Aerzte sich bisher am leidenschaftlichsten für die Verteidigung der ärztlichen Berufsfreiheit und der individuellen Medizin gegen die Uebermacht der sozialisierten Medizin eingesetzt haben.

Der französische Jurist S a v a t i e r (Universität Poitiers) hat in einer geistvollen und tiefschürfenden Abhandlung über die ärztliche Verantwortlichkeit (La responsable med'icale) keineswegs die schweren Gefahren für die ärztliche Ethik verkannt, die sich aus einer egoistischen Entartung individualistischer Medizin ergeben und -die er als „mercantilisation“ bezeichnet. Sava-t i e r hat aber auch überzeugend darauf hingewiesen, daß bei einer Vollsozialisierung der Medizin eine andere, vielleicht noch schwerere Gefahr für die ärztliche Ethik droht: Er bezeichnet sie als „fonetionan sation“. Wird der Arzt nur noch „Funk tionär“, dann hört jede freie menschlich< Verantwortlichkeit dem Kranken gegenübe: auf. Dann hat der Arzt nur noch die .„Vor schrift“ zu beachten; wenn er dies< minutiös befolgt hat, ist er ir jedem Fall gedeckt, auch bein unglücklichsten Mißerfolg; hat er die „Vorschrift“ verletzt, ist er auf jeden Fall haftbar, &#187;elbst wenn durch die Verletzung der Dienstesanweisung ein glänzender Erfolg erzielt würde. Die Tätigkeit des behandelnden Arztes erträgt aber keine Reglementarisierung. Die ärztliche Verantwortung gedeiht eben nur in der Freiheit und Unabhängigkeit des Berufes.

Diese Gedanken zeigen, was mit der Berufsfreiheit des Arztes auf dem Spiele steht: welch unersetzlicher Verlust es für die Allgemeinheit wäre, wenn man dieses hohe Gut leichtfertig preisgeben wollte, weil es gegenwärtig schon allzu weitgehend ausgehöhlt ist.

Diese Erwägungen zeigen aber auch, was getan werden muß, um die gegenwärtige Sozialversicherung von ihren grundlegenden Fehlern zu befreien, damit sie zu einem Segen und nicht zu einem Fluch für das Volk werde (Liek, Bäumer). Sie zeigen die Grundlage, auf der allein eine wahre Sozialhygiene und eine wirklich soziale Medizin möglich ist und auf der echte ärztliche Ethik gedeihen kann.

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