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Wickham Steed

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Als die Londoner „Times“ im Jahre 1902 den Posten ihres Wiener Korrespondenten neu besetzen mußte, fiel ihre Wahl ohne langes Zögern auf den Mann, der sie schon 1896 durch einige Monate in Berlin und seither in der italienischen Hauptstadt vertreten hatte. Henry Wickham Steed, so hieß dieser damals dreißigjährige Journalist (er ist jetzt, am 13. Jänner, 84 Jahre alt, in London gestorben), schien in der Tat für seine neue Mission in hohem Maße qualifiziert. Er hatte seine gesamten Hochschulstudien auf dem Kontinent - in Jena, Berlin und Paris — und mit ausgezeichnetem Erfolg zurückgelegt; er verfügte über ein bei Engländern ungewohntes Sprachentalent; er war nicht nur fleißig, er hatte, was noch mehr ins Gewicht fiel, ein Feingefühl für die Entdeckung interessanter Tatsachen; es war also nicht zu bezweifeln, daß er sich, als Korrespondent nach Wien entsendet, in den komplizierten Verhältnissen der Donaumonarchie bald zurechtfinden und seinem Blatt dort mindestens so gute Dienste leisten würde, wie er es in Berlin und in Rom getan hatte Diese am Printing House Square gehegte Erwartung wurde nicht enttäuscht. Aber Steeds Ehrgeiz trieb ihn weiter, als es seine journalistische Mission ihm vorschrieb. Er wollte nicht nur über die aller Welt sichtbaren Vorgänge in Oesterreich-Ungarn berichten und sie sozusagen von außen her kommentieren; er war entschlossen, hinter die Kulissen zu blicken und sich über die tieferen Ursachen und inneren Zusammenhänge des Geschehens gründlich zu informieren. Wie er dabei vorging und mit welchem Ergebnis, das hat er selbst nicht lang vor seinem Tod in einem Schreiben an den Verfasser dieser Zeilen wie folgt rekapituliert:

..Als politischer Beobachter war ich, wie meine anerkannt zutreffende Berichterstattung aus Paris, Berlin und Rom gezeigt hatte, nicht unerfahren; die Lage iedoch, die ich in der Habsburgermonarchie vorfand, war derartig verworren, daß ich volle vier lahre eifrigen Studiums dazu brauchte, um festzustellen, daß ich sie einfach nicht verstand. Ich hatte alle Persönlichkeiten von Bedeutung im öffentlichen Leben dies- und jenseits der Leitha zu Rate gezogen und befragt, und sogar die madjarische Sprache gut genug erlernt, um die ungarische Presse lesen und den Ruda-pester Parlamentsreden folgen zu können, ohne daß es mir gelungen wäre, zu begreifen, was wirklich vorging: bU schließlich ein Gespräch mit dem Grafen KhuenHederväry, dem gewesenen ungarischen Ministerpräsidenten und ietzt Ranus von Kroatien, mich auf den richtigen Gedanken brachte. Das war 1906. Nachdem Wien und Budapest sich als Beobachtungspunkte so gut wie nutzlos erwiesen hatten, begann ich die Monarchie zu bereisen; ich besuchte jedes Kronland, von Vorarlberg bis Siebenbürgen, von Galizien und der Bukovina bis Dalmatien, von Böhmen bis Kroatien und hinein nach Bosnien und der Herzegowina — ich frage mich, wie viele Oesterreicher oder Ungarn das je getan haben —, und als Resultat gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß die Donaumonarchie große Gefahr lief, im Falle einer ernsten europäischen Krise durch äußere Einwirkung zerstört zu werden, so sie es verabsäumte, sich rechtzeitig von innen heraus zu reformieren und zu rekonstruieren

Zum genannten Zeitpunkt war Steed noch keineswegs, wie vielfach angenommen wird, ein Verbündeter jener Kräfte, die bereits emsig am Werke waren, dem Vielvölkerreich das Grab zu schaufeln. Im Gegenteil, er wollte dieses Reich, dessen Geschichte er bewunderte und dessen überragende Bedeutung für die europäische Kultur und für die Erhaltung des europäischen Gleichgewichts ihm nicht entging, in seinem Bestand gesichert wissen; daher sein Bemühen

— womit er freilich die Aufgabe eines Zeitungskorrespondenten weit überschritt —, selbst in das Rad der Entwicklung einzugreifen. Er wollte Oesterreich vor allem hinsichtlich der südslawischen Frage, die er für absolut entscheidend hielt, und die seiner Ansicht nach sogar noch 1907 hätte befriedigend gelöst werden können, von einem Kurs abbringen, der — davon war er überzeugt — zu einem katastrophalen Ende führen mußte. Nach der Annexion Bosniens, die er mit allen Registern seines nicht unbeträchtlichen Einflusses versucht hatte, zu' verhindern — seine diesbezüglichen Bemühungen waren im August 1908 sogar in einem Gemeinsamen Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers besprochen, aber verworfen worden -s begann Steed, an dem bevorstehenden Untergang des alten Reiches nicht mehr zweifelnd, sich mit den Projekten für die künftige Neugestaltung des Donauraumes zu beschäftigen, die von verschiedenen Seiten an ihn herangetragen wurden. Er verließ Wien 1913, ein Herold des Schicksals, das er unabwendbar über die Monarchie hereinbrechen sah; erbittert über die Mißachtung, die seine Ratschläge zu ihrer Rettung gefunden hatten. Aber, noch am 21. Juli 1914, als ihn der k. u. k. Botschafter Albert Mensdorff als Freund Oesterreichs apostrophierte und bat, seinen Einfluß bei den „Times“ dahingehend geltend zu machen, daß das Blatt mithelfe, den österreichisch-serbischen Konflikt zu lokalisieren, konnte er aufrichtigen Herzens erwidern:

„Ich liebe Oesterreich viel zu sehr, als daß ich ihm Beihilfe leisten könnte, Selbstmord zu begehen. Denn was bleibt zu .lokalisieren' übrig, wenn ein “österreichischer Angriff auf Serbien unweigerlich zum Krieg zwischen Oesterreich und Rußland, zum Eingreifen Deutschlands, zur Verletzung der belgischen Neutralität durch die Deutschen und als dessen Folge zur Intervention Englands führen muß? Und wo ist die Chance, daß die Donaumonarchie in einem Ringen solcher Kräfte nicht untergehen würde?“

Allerdings, von dem Augenblick an, da der Krieg ausgebrochen war, erwies sich Henry Wickham Steed als unerbittlicher und einer der gefährlichsten Gegner Oesterreichs; dabei gelenkt, wie er in dem erwähnten Brief nochmals betonte, vom Haß gegen die Deutschen, die er eben am sichersten in ihrem österreichischen Bundesgenossen zu treffen hoffte. Als außenpolitischer Redakteur der „Times“ 1914—1919 und als Chef einer Alliierten-Mission in Italien, deren Aufgabe es war, die innere Front der Donaumonarchie zu zersetzen, hat er der Sache Oesterreichs unermeßlichen Schaden zugefügt und entscheidend dazu beigetragen, den Führern der Alliierten und ihren Völkern den anfangs durchaus nicht populären Gedanken einer Zertrümmerung des Habsburgerreiches mundgerecht zu machen. Daß die von ihm propagierten staatlichen Neubildungen — die CSR war sein besonderes Lieblingskind — nicht imstande waren, die Atomisierung des Donauraumes wettzumachen, sondern durch ihre innere Schwäche und Zwiespältigkeit den Ausbruch der zweiten, noch umfassenderen Weltkatastrophe geradezu heraufbeschworen, einer Katastrophe, deren Folgen sie sich bis heute nicht zu entwinden vermochten, dieses tragische Schauspiel, das er trotz seiner sonstigen politischen Sehkraft nicht vorausgesehen hatte, hat Steeds letzte Lebensjahre vergällt.

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