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Wie gehabt

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An die 90.000 der vor 1938 in Österreich lebenden 250.000 Juden sind von der Hitlerei ermordet worden. Den übrigen gelang es, vorher außer Landes zu gehen. Die Zahl der seither Zurückgekehrten ist nach Hunderten zu zählen, und die seit 1945 aus den kommunistischen Ländern zu uns gekommenen Juden treten gleichfalls sowohl zahlenmäßig, vor allem aber sozial, politisch und ökonomisch kaum in Erscheinung. Man sollte daher meinen, daß es — rein personell gesehen — keinen Ansatzpunkt für weiteren Antisemitismus in Österreich geben könne. Nichtsdestoweniger haben — wie aus einer Meinungsbefragung unlängst hervorging — 40 Prozent der befragten Österreicher erklärt, daß sie die Juden nicht mögen, und 15 Prozent haben sich sogar als Antisemiten im aktiven, deklarativen Sinne bezeichnet.

Diesen 40 und 15 Prozent vermutlich entsprechend, wurden vergangene Woche zwei Burschen, die einen illegalen nazistischen Verein aufgezogen hatten (mit Hakenkreuzfahne und dem Ziel, gegen „die Herrschaft des Weltjudentums und die Verju-dung Österreichs“ zu kämpfen) von einem Wiener Gericht vom Verbrechen nazistischer Wiederbetätigung freigesprochen und lediglich wegen „Geheimbündelei“, gleichsam wegen einer „harmlosen Jugendeselei“, zu vier beziehungsweise sechs Wochen Arrest verurteilt, die jedoch durch die Untersuchungshaft getilgt waren. Was in Frage steht, ist, ob mit diesem Urteil der Meinung der übrigen 60 Prozent der Österreicher entsprochen wurde. Es geht nämlich bei alldem überhaupt nicht mehr um die Juden. Angesichts der obengenann-

ten Zahlen und seit der Existenz eines jüdischen Staates Israel (der, wie die Erfahrung zeigt, das Wohl seiner Bürger zu verteidigen versteht) ist der Antisemitismus in Österreich im eigentlichen nicht mehr ein Problem der Juden, sehr wohl aber der NichtJuden. Der Antisemitismus ist eine Volksseuche, ein Krebsgeschwür am Denken und Fühlen. So kann es den davon freien 60 Prozent der Österreicher nicht gleichgültig sein, daß 40 Prozent ihrer Landsleute die Seuche in sich tragen und gelegentlich weiterverbreiten, insbesondere — wie das Alter dar beiden „Geheimbündler“ erweist — unter der Jugend des Landes. Die Sache ist auch mit der Bezeichnung „Seuche“ nicht abgetan. Der Antisemitismus ist nicht eine Krankheit im biologisch-medizinischen Sinn, die nur passiv übertragen wird. Als Teil einer menschlich-politischen Gesamthaltung wirkt er sich unaufhaltsam auch im Verhalten gegenüber anderen als Juden aus. Es muß daher nicht nur das Urteil in jenem Prozeß bedenklich erscheinen, sondern auch, daß ein großer Teil der österreichischen Presse es '-ommentarlos überging. Der Antisemitismus wurde einmal von Bebel als „Sozialismus der dummen Kerls“ bezeichnet. Seither ist viel Zeit vergangen, in der Fürchterliches passiert ist. Wir können uns uar niemals damit abfinden, daß irgendein Zug atavistischer Bosheit der Menschen sich selbst überlassen und freigestellt wird. Der Antisemitismus ist ein solcher Zug, der nicht hingenommen werden darf. Schon gar nicht, da es gesetzliche Handhaben gegen ihn gibt, wo er organisierte Formen annimmt

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