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Wie lange kann Europa noch warten?

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Wie ist es zu erklären, daß ein Gedanke, den alle einsichtigen Menschen als den einzigen Ausweg aus den chaotischen Zuständen Europas ansehen, ein Gedanke, mit dem sich schon lange vor dem zweiten Weltkrieg die besten Geister unseres Kontinents beschäftigt haben und der sogar damals Gegenstand eines offiziellen Vorschlags der französischen Regierung gebildet hat, ein Gedanke, dessen Verwirklichung nunmehr unter den herrschenden tragischen Verhältnissen hundermal dringlicher erscheint, für den sich täglich Organisationen der verschiedensten Art, wirtschaftliche Körperschaften, große Zeitungen, Kulturanstalten aller europäischer Länder einsetzen, ja dem auch Staatsmänner, sobald sie außer Amte sind, mit selbstverständlicher Überzeugung huldigen, keine einzige europäische Regierung zu einer Tat, zu einem Schritte hindrängt? Was kann in einem Augenblick, da schon um die Handschrift der Odyssee, den Tisch im Kyffhäuser und den Mantel der Jeanne d'Arc zwischen den Westmächten gewürfelt wird, die europäischen Staatskanzleien ausnahmslos wie auf Verabredung darüber schweigen heißen, was sozusagen auf aller Lippen liegt und Tagesgespräch der Vernünftigen ist: die Notwendigkeit eines europäischen Zusammenschlusses? Welche unbegreifliche Rücksicht, welcher geheime Grund, welche mysteriöse Macht mag alle diese Männer, die an den kleineren oder größeren Staatsrudern Europas sitzen und sich doch wohl verantwortlich für die so grauenhaft bedrohte Zukunft dieses Festlandes fühlen müssen, daran hindern, einander zuzurufen: „Verständigen wir uns doch über ein Minimum gemeinsamer Haltung und gemeinsamen Handelns, wenigstens über ein Minimum politischen und wirtschaftlichen Zusammenwirkens, damit unser geheiligter Roden nicht morgen zum Land der Schakale werde!“ Wiegt denn die gemeinsame Gefahr, der diese europäischen Länder insgesamt ausgesetzt sind, nicht unendlich schwerer als das augenblickliche Opfer, das sie ihrer Souveränität abzuzwingen hätten, wenn sie sich etwa auf einen gemeinsamen Wirtschaftsplan für den Fall eines Krieges einigten?

Churchill hat kürzlich in der ersten Veranstaltung des von ihm gegründeten „Ausschusses für ein Vereintes Europa“ den Ruf nach einem europäischen Zusammenschluß, den er seit seiner vor der Züricher Uni-versitätsjugend am, 19. September 1946 gehaltenen Rede zum Leitmotiv seiner jetzigen politischen Tätigkeit gemacht hat, mit jenen unwiderleglichen Argumenten wiederholt, denen sich heute selbst der fanatischeste Nationalist des Festlandes nicht mehr verschließen kann und die durch das Scheitern der Moskauer Konferenz noch erhöhte Bedeutung gewonnen haben: „Wenn Europa leben will, kann es nur als Föderation leben.“ „Europa hat nur die Wahl, entweder Schlachtfeld eines weltpolitischen Interessenkonflikts zu werden oder sich zusammenzuschließen'.“ „Ohne ein einiges Europa gibt es keine Weltregierung.“ „Es gibt keine lebensfähige europäische Föderation ohne Deutschland und keine lebensfähige deutsche Demokratie ohne eine europäische Einigung.“ —

In den mannigfachen Äußerungen, die Churchill seit einem Jahre diesem Probleme widmet, hat es der gewesene Premierminister leider — absichtlich oder unabsichtlich — bisher unterlassen, mit aller Deutlichkeit auszusprechen, daß es sich bei diesem Vorschlag nur um eine Föderation der europäischen Festlandstaaten handeln kann und daß England nicht daran denkt, eine solche Föderation unter sein Protektorat zu nehmen. In der Tat würde eine solche Absicht, bestünde sie auch nur als entfernter Hintergedanke, von vornherein den ganzen Plan zum Scheitern verurteilen. Doch glauben wir nicht, daß dies in der Linie der politischen Vorstellungen Churchills liegt, denn in seiner Züricher Rede wie in den Artikeln, die er Ende Dezember 1946 im „ Daily Telegraph“ unter dem Titel „One way to stop a new war“ veröffentlichte, spricht er von dem Weltgleichgewicht, das durch die Schaffung einer europäischen Union neben dem britischen Commonwealth, der Sowjetunion und Panamerika gesichert würde.

Der stärkste Einwand, den man gegen sofortige Verhandlungen über einen europäischen Zusammenschluß erheben kann, ist wohl der Hinweis auf das offene Problem Deutschland. Da eine europäische Union ohne Deutschland ein nach Westen überhängender Torso wäre, müßte jede Regierung, welche die Initiative zu solchen Unionsverhandlungen ergreifen wollte, zunächst mit der schärfsten Opposition Rußlands rechnen. Vielleicht läßt sich aber diese Argumentation auch insoferne umkehren, als man die Lösung des deutschen Problems zwischen den Westmächten und Rußland über den Weg eines europäischen Unionsvorschlages versucht. Erscheint es auch begreiflich, daß die rege Tätigkeit Churchills zugunsten eines europäischen Zusammenschlusses in Moskau Argwohn erregt, so ist andererseits nicht einzusehen, aus welchem Grunde die russische Regierung eine von den Westmächten effektiv unabhängige europäische Föderation ablehnen sollte, es wäre denn, daß sie schon darin eine Barriere gegen eine unbeschränkte Ausdehnung ihres Einflusses erblicken wollte. Würde eine solche Überlegung tatsächlich den Kreml veranlassen, jede Art eines europäischen Festlandbundes mit allen Mitteln zu bekämpfen, so könnte eine derartige Politik sehr leicht gerade jene Entwicklung fördern, die Moskau verhindern will: nämlich die Bildung eines westeuropäischen Blocks unter britischer Führung. Wenn Rußland, wie wir annehmen, als Endziel seiner Politik, die außer hinreichenden Entschädigungen für seine gewiß ungeheuren Kriegsverluste sich weitgehende Sicherungen nach Westen zu verschaffen wünscht, doch die Erhaltung des Friedens und die Verständigung mit den angelsächsischen Mächten anstrebt, dann gibt es keinen besseren Weg, um gleichzeitig beides zu erreichen, Sicherheit und Verständigung, als den über die Bildung einer nach allen Seiten durchaus unabhängigen europäischen Föderation, natürlich mit Einschluß Deutschlands.

Die Rede des englischen Außenministers bei Eröffnung der Unterhausdebatte über die Moskauer Konferenz schwankte in auffallender Weise zwischen Pessimismus und Zuversicht. Auf der einen Seite sagte er, daß man im Falle eines neuerlichen Scheiterns der auf den November vertagten und nach London verlegten Alliiertenkonferenz den weiteren Ablauf der Weltgeschichte nicht voraussehen könne, auf der anderen teilte er — wenigstens nach dem uns zugekommenen Wortlaute — dem Unterhause mit, er werde die Revision des englischrussischen Vertrages im November wahrscheinlich zu einer positiven Lösung führen. Es ist klar, daß Bevin großes Gewicht auf das Zustandekommen dieses neuen Vertrages legt. Wenn wir voraussetzen dürfen, daß auch auf russischer Seite ein ähnliches Interesse besteht, dann wäre ja im Rahmen dieser Verhandlungen Gelegenheit gegeben, auch über die beiderseitige Haltung zum Problem einer europäischen Föderation zu sprechen. Denn wenn auch keines der festländischen Kabinette bisher den Mut aufgebracht hat, Besprechungen über das Minimum einer zwischenstaatlichen Einigung zu eröffnen, so steht auch ohne eine solche Initiative dieses Problem nun einmal zur Diskussion. Es kann, solange über Europa noch verhandelt wird, nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Jede Verhandlung über irgendwelche europäischen Verhältnisse rückt es nur immer mehr in den Vordergrund. Es ist das Problem, das jedes andere europäische Problem beherrscht. Es ist die Lösung, die hundert andere mühsame Teillösungen überflüssig macht. Aber wie lange kann Europa noch warten?

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