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Wie verhindere ich den Krieg?

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DIE ENTSCHEIDUNG DRÄNGT. Grundfragen westlicher Außenpolitik. Von Henry A. Kissing er. Econ-Verlag, Düsseldorf, 1961. 416 Seiten, Leinen, Preis 19.80 DM.

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DIE ENTSCHEIDUNG DRÄNGT. Grundfragen westlicher Außenpolitik. Von Henry A. Kissing er. Econ-Verlag, Düsseldorf, 1961. 416 Seiten, Leinen, Preis 19.80 DM.

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Das vorliegende Buch des 38jährigen Harvard-Professors Henry A. Kissinger ist das Ergebnis mehrjähriger Diskussionen, die im Center f o r International Affaires (Harvard) und im Council oa Foreign Relation abgeführt wurden, eine mit vielseitiger Förderung unternommene Zusammenfassung der politisch-militärischen Zeitfragen. Eben erst hat der amerikanische Chefdelegierte in Genf ein Programm vorgelegt, das durch internationale Kontrollen den „Krieg durch Zufall“ verhindern soll. Wer auf diesem Gebiet mitdenken will, der muß zu Kissingers Buch greifen, das einen willkommenen Führer durch das Gestrüpp von Kriegsgefahr und Kriegsverhinderung darstellt. Wie sehr alles im FluP bleibt, zeigt die Tatsache, daß der Autor 1958 für seine „N u c 1 e a r W e a p o n s“ den Wilson-Preis erhielt, in seinem folgenden Werk aber — und es gereicht ihm zur Ehre — gesteht: „Mehrere Entwicklungen jedoch haben mich zu einer Revision meiner Meinung (Bewertung der Streitkräfte) veranlaßt.“ Das schmälert aber in keiner Weise die Bedeutung seiner jetzigen Untersuchungen, die zweifellos zu den besten ihrer Art zählen. Nicht umsonst wurde er vor kurzem von Präsident Kennedy zum Sonderberater in Fragen der nationalen Sicherheit ernannt. „Die Entscheidung drängt“ beleuchtet die vordringlichsten Fragen von allen Seiten, sie formt ein klares, logisch aufgebautes Panorama der augenblicklichen Weltpolitik, das weder Utopie noch alleinseligmachendes Rezept ist.

Kissinger bezieht den Standpunkt, die westliche Welt habe kein Programm, sie verkenne ideenlos den revolutionären Charakter der Zeit, und auch militärisch sei sie unzureichend. Alle Erwägungen kreisen um die Möglichkeit eines Krieges mit Rußland, und sie sollen einem solchen vorbeugen helfen. Von dieser Konkretisierung des Themas sollte aber der Leser absehen, um allgemein gültige Folgerungen zu gewinnen, wie sie der Verfasser zwar nicht direkt formuliert, doch — und das ist sein Vorzug — durch Erarbeitung aller Alternativen leichter ziehen läßt. Von den angeschnittenen Fragen können nur die hervorstechenden etwas näher besprochen werden: Zunächst das Problem der Abschreckung, das zwar nicht „neu“ (S. 24) ist, denn die chinesische Mauer war ebenso Abschreckung wie die „Fleet in being“, das aber immer als Mittel zur Kriegsverhütung im Vordergrund bleibt. Das neue an der Abschreckung liegt heute wohl darin, daß der Faktor Zeit in der Entstehung eines Krieges von der politischen Spannung bis zum ersten Schuß mikroskopisch klein geworden ist. Kissinger versteht es ausgezeichnet, diesem Moment gerecht zu werden. Sehr heikel ist die Frage des „begrenzten Krieges“, der sicher möglich bleibt, zu dem aber gesagt werden müßte, daß ihn nur jener führen kann, der auch Herr des totalen Krieges ist. Außerordentlich instruktiv sind die Betrachtungen über die Notwendigkeit einer Beweglichmachung der Raketenbasen zur Steigerung der Unverwundbarkeit der Abwehr.

Zustimmen muß man ferner der Ansicht, daß eine Alliance „vor allem politisch zusammenwachsen muß“. „Militärische Arrangements können nur Ausdruck politischen Zusammenhaltes sein“, das heißt, die Reihenfolge ist Politik — Militär — Wirtschaft, und nicht umgekehrt, wie es anderwärts versucht wird. Eine weitere Kernfrage wird berührt hinsichtlich der Atomwaffen. Aus den Darlegungen geht hervor, daß Monopole in Waffen die Entwaffneten den Bewaffneten ausliefern, daher wirksames Zusammengehen verhindern, ferner, daß einseitige Atombewaffnung auch das Recht nach sich zieht, über Krieg und Frieden einseitig zu entscheiden. Ganze 23 Seiten sind Deutschland gewidmet, dort erblickt Kissinger den Schlüssel zu einer Lösung in der Beseitigung jeder Unklarheit über die Oder-Neisse-Grenze. Erwogen wird eine Neutralisierung Deutschlands, die nur unter zahllosen, jede Neutralität beachtenden Voraussetzungen denkbar sei, erwogen wird ein sich an Rapacki anlehnender Plan, „Rüstungsüberwachung in Europa“, der wohl unausgeführt in den schon gigantischen Archiven der Abrüstung landen wird müssen. Abrüstung und Rüstungskontrolle bleiben ein nie endendes Kapitel der internationalen Politik, und es ist ein ganz besonderes Verdienst des Autors, die wahrscheinliche Ausweglosigkeit aus diesem Irrgarten angedeutet zu haben.

Was sind nun die Lehren des Augenblicks aus allen Überlegungen? „Wer sich zur Verteidigung bekennt, muß ständig bereit sein...“ „Die Stärke der freien Welt an herkömmlichen Waffen müßte mindestens so groß sein, daß der Rückgriff auf Atomwaffen die letzte und nicht einzige Chance böte ...“ „Ein stehendes (konventionelles) Heer ist daher heute wichtiger als je zuvor • • • $i Es kommt aber vor allem auf ein höheres Maß nationaler Anstrengung an ...“ „Wir können nur noch wählen zwischen Anpassung an die neuen Verhältnisse oder Paralyse und Niedergang...“ Das sind die Rüstungsforderungen, die gestellt werden, der Autor bleibt aber in diesen nicht stecken, und dadurch gewinnt sein Buch eine gesteigerte Bedeutung. Kissinger steuert auf den Frieden zu und nicht auf den Krieg, und deshalb billigt er auch alle noch so dilettantischen und noch so undurchdachten Bemühungen um den Frieden. Kein Staat dürfe sich auch von den untauglichsten Versuchen fernhalten (S. 336). Als höchstes Ziel erkennt er jedoch eine Umkehr des Menschen: gemeinsamer Weg von alt und jung, keine Scheu vor Opfern, ohne die es keinen Fortschritt gibt, Abkehr von den Ausartungen der Demokratie, die mit ihrem ..Ausschußsystem mit endlosen Debatten“ verantwortungsvolle Männer der Tat beseiteschiebt, Rückkehr von der Materie, von Masseninstinkt und Phrasenseuche zum Geist, zur Seele, zur inneren Bildung.

Diese Erneuerung des Menschen — um den es letzten Endes geht — bedeutet für den Autor auch eine grundlegende Voraussetzung zur richtigen Einwirkung auf die Entwicklungsvölker, um die der Wettlauf der Mächtigen begonnen hat. Das ist allerdings der weiteste und schwierigste, doch zugleich der erfolgversprechendste Weg.

Jeder Leser wird in hohem Maße befriedigt sein, wenn er das Buch bewältigt hat. Einige Fragen könnten noch breiter ausgeführt sein, ob zum Beispiel eine allgemeine Freigabe der Rüstungen ohne jede Kontrolle, die doch durch den wohleingespielten Nachrichtendienst ohnehin dauernd erfolgt,' der ganze Unruheherd dei reichlich unernsten Abrüstungspolitik nicht ausgetilgt werden könnte; ob der Gedanke einseitiger Waffenverbote nicht grundsätzlich zu verwerfen wäre; ob nicht die Wissenschaft an Stelle von papierenen Manifesten das Äußerste daranzusetzen hätte, um die Wirkung der Atomwaffen zu paralysieren und derart die Welt von einem unerträglichen Alpdruck zu befreien. Kissinger analysiert den Politiker und Diplomaten, stellt ersteren in Gegensatz zum „Intellektuellen“, sieht letzteren nur noch eingeengt auf das Spiel der beiden Weltmächte. Wenn sich der Autor auch bemüht, rein militärischen Problemen an den Leib zu rücken, wie er es vorbildlich mit der Potentialeinschätzung vornimmt (S. 27$ f.), so scheint uns doch die Fixierung des Militärs im Räderwerk des Staates nicht genügend ausgedrückt. Vom zwangsläufigen Mechanismus — politische Aktion, militärische Bereitschaft, Rüstungsreform — wird zuwenig gesprochen. Es wäre ferner von Vorteil, den Terminus Strategie nicht auf unzuständige Gebiete auszudehnen, um die Verwischung von Begriffen zu vermeiden.

Niemand wird es einem am Steuer der Politik stehenden Manne, sei es in der Volksvertretung, in der Regierung und an sonst entscheidender Stelle, zumuten, das 4)6 Seiten starke Buch zu studieren, so erwünscht dies auch wäre. Es wird aber Aufgabe der militärischen Fachmänner sein, dafür zu sorgen, daß alle für Österreich brauchbaren Gedanken den für unsere Verteidigung maßgebenden Faktoren vermittelt werden.

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