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Wiedergeburt des Naturrechts

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In einem jüngst in der Juristischen Gesellschaft über den Nürnberger Prozeß gehaltenen Vortrag hat Staatsanwalt Dr. Laßmann mit Recht betont, daß die Bestrafung der nationalsozialistisdien Übeltäter für ihre Verbrechen gegen den Frieden keineswegs eine strafrechtlich abzulehnende Normenrückwirkung zur Voraussetzung habe, sondern daß vielmehr die nationalsozialistischen Machthaber es am Willen zur Menschlichkeit haben fehlen lassen und daher heute mit Recht zur Verantwortung gezogen werden.

Dieser Gedankengang deckt sich mit den Ausführungen des Hauptanklägers der Vereinigten Staaten, Jackson, die er vor Beginn des Nürnberger Prozesses gegenüber Präsidenten Truman entwickelte:

„Diese das Gewissen unseres Volkes verletzenden Handlungen waren nach den in allen Kulturländern gemeinhin geltenden Wertmaßstäben verbrecherisch, und wir: können meines Erachtens an die Bestrafung der dafür Verantwortlichen gehen, durchaus im Einklang mit unserer eigenen Tradition von Recht und Billigkeit, wie auch mit den international angenommenen Begriffen gerechten Verhaltens. Was wir vorschlagan, ist die Bestrafung von Handlungen, die seit den Tagen Kains als Verbrechen gelten und in den Gesetzbüchern aller Kulturvölker als solche bezeichnet werden.“

Aus diesen Worten spricht die Tradition des abendländischen Naturrechtsgedankens, an dem Westeuropa bis heute unablässig festgehalten hat, während Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gemeinsamen Bande einer einheitlichen europäischen Kultur zerriß und in der Geistesbewegung der deutL schen Romantik bewußt eigene Wege einschlug. Es erklärt sich diese Abkehr des deutschen Menschen von der Ideenwelt des übrigen Abendlandes aus der Verschiedenheit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung, die Deutsdiland und Westeuropa genommen hat.

Während in Westeuropa das Bürgertum insbesondere mit der kolonialen Expansion einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufstieg erlebte und in der Erklärung der Menschenrechte und im Sieg der französischen Revolution gewaltige politische Triumphe errang, fehlte es in dem in zahlreiche Kleinstaaten aufgespaltenen Deutschland an einem Bürgertum, das stark genug gewesen wäre, die politische Führung des Staates an sich zu reißen. Noch im 18. Jahrhundert war Deutschland arm und zum größten Teil Agrarland. Das Bürgertum, soweit es überhaupt eines gab, war wirtschaftlich schwach und politisch kraftlos, zumal es in seiner überwiegenden Mehrheit seinen Lebensunterhalt in staatlichen Diensten fristete.

So war der Weg zum politischen Handeln dem deutschen Menschen verschlossen; sein Drang zur Betätigung wurde daher auf geistiges Gebiet verwiesen, wo er als Philosoph oder Wissenschaftler revolutionäre Taten setzte, die nicht weniger umwälzend waren als die politische Revolution des europäischen Westens. Denn der stolze, zu höchsten Gedankenflügen fähige Geist des deutschen Menschen konnte es nicht ertragen, Deutschlands Entwicklung gegenüber dem

Westen und dessen politischen Errungenschaften als rückständig zu empfinden. Er leugnete daher die Vorzüge politischer Freiheit, fand die politische Weisheit Westeuropas flach und seicht und verurteilte die Iddeen der französischen Revolution. Hie-durch trennte sich Deutschland völlig von der übr.gen abendländischen Welt, welche an der ununterbrochenen Tradition der antikchristlichen Weltanschauung weiter festhielt, während der deutsche Mensch durch die maßlose Übertreibung seiner germanischen Charakterzüge immer mehr vom gemeinsamen Weg abkam, bis er schließlich in der Barbarei des Nationalsozialismus endete.

Die Ansätze zu dieser schauerlichen Entartung sind jedoch größtenteils bereits in der zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftretenden romantischen Bewegung vorhanden. Schon die beiden Strömungen eigene Überbetonung der nationalen Eigenart kennzeichnet sie als Kinder desselben Geistes. Dies gilt vor allem auf dem Gebiete des Rechts, wo die von S a v i g n y, dem Begründer der Rechtshistorischen Schule, verkündete Lehfe vom „V o 1 k s g e i s t“, wonach das Recht aus Sitte und Volksglaube durch die im Bewußtsein des Volkes lebenden Kräfte erzeugt werde, der nationalsozialistischen Rechtsauffassung vorgearbeitet hat, daß das „Gewissen des Volkes“ als letzte Quelle des Rechts zu gelten habe. Auch der ewige germanische Kampfgeist wird im Nationalsozialismus neu lebendig, dem das Recht die natürliche Lebensordnung des Volkes ist, deren Sinn „in kämpferischer Sicherung und Stärkung des Volkslebens“ liegt. Die Vergottung des Volkstums wird ins Maßlose gesteigert, die Volksgemeinschaft als „das Höchste auf Erden“, als „Glaube“ und „Religion“ aufgefaßt. So wird „alles, was dem deutschen Volke nützt“, zu Recht, während die fundamentalen Menschenrechte als leere Phrasen abgetan werden.

Gleich der Romantik, welche die absolute Wertordnung des Naturrechts vernichtete und sich von aller Rechtsphilosophie abkehrte, wodurch dem skeptischen Relativismus und dem naturalistischen Positivismus des späteren 19. Jahrhunderts der Weg bereitet wurde, verfocht auch der Nationalsozialismus den Gedanken einer „Umwertung aller Werte“, was bei ihm allerdings zu eindeutigem Rechtsmißbrauch und zu nackter Willkür ausartete. Es ist daher begreiflich, daß sich gegen solche scheinheilige Unrechtsordnung, die in ihrer kunstvollen Gestaltung eine diabolische Verherrlichung der Reditswidrigkeit darstellte, die übrige abendländische Welt zu einmütiger

Abwehr erhob. Dabei berief sie sich mit Recht in diesem Kampfe auf das traditionelle naturrechtliche , Gedankengut, an dem ja das übrige Abendland im Gegensatz zu Deutschland unaufhörlich festgehalten hatte.

Dies ist namentlich aus den Reden des amerikanischen Präsidenten Roosevelt deutlich erkennbar, der immer wieder betonte, daß es um die „Wiedererweckung alter und kostbarer moralischer Werte“ gehe, die Jahrhunderte lang fast überall auf der Erde gegolten haben. Er sah mit Recht „die tiefsten Grundlagen der Zivilisation ernstlich bedroht“, da „alle Tradition der Ordnung, des Rechts und der Gerechtigkeit niedergetrampelt“ wurde. So trat er stets von neuem für die ausdrückliche Anerkennung der Menschenrechte ein, „um die Wahrheit des Satzes zu retten, daß alle Menschen vor Gott gleich sind“. Denn er wußte, daß die Geschichte Rechenschaft fordern wird „für das Leben und Glück aller — auch der Geringsten“.

Die Rückkehr zum Naturrecht bedeutet aber nicht nur den geistigen Anschluß an die übrige abendländische Welt .und die endgültige Aufgabe eines Irrweges, den das deutsche Volk nun schon seit mehr als 100 Jahren bis zum völligen Zusammenbruch ging, sie stellt vielmehr auch einen wesentlichen Beitrag zur Wiederherstellung der kulturellen Einheit des Abendlandes dar.

Dabei ergeben sich gerade für den Juristen Österreichs, dessen Gesetzgebung — wie zum Beispiel das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetz — selbst heute noch zum Großteil auf naturrechtlicher Grundlage aufgebaut ist, bedeutende Aufgaben. Gilt es doch dem wiedererstandenen Staat aus der e habenen Tradition der alten Gesetze ein neu:s Recht zu schaffen, welches Österreich einen würdigen Platz im Kreise der europäischen Völker erobern soll.

Allerdings erfordert die Verwirklichung dieser Aufgabe zweifellos die Vertiefung des naturrechtlichen Studiums, welches durch viele Jahrzehnte auf den deutschen Universitäten vollständig vernachlässigt wurde. Denn die Vorlesungen aus Rechtsphilosophie, in denen meist positivistische Lehren vorgetragen wurden, boten für den fehlenden Naturrechtsunterricht keinen oder bestenfalls nur einen unvollkommenen Ersatz.

Die Errichtung einer Lehrkanzel für Naturrecht ist darum ein dringendes Gebot der Stunde; denn nur durch eine Erneuerung der Naturrechtslehre auf den Universitäten können wir eine neue Generation von Juristen heranziehen, die frei von allen formalistischen Bedenken Recht und Unrecht nach absoluten Werten wieder zu scheiden weiß und uns eine Rechtsordnung schenkt, die uns wieder ebenbürtig in die Reihe der führenden Kulturvölker des Abendlandes eingliedert. Zugleich würde eine Vorlesung für Naturrecht einen geistigen Sammelpunkt für Juristen, Philosophen und Theologen schaffen und somit einen Ansatz für die zu erstrebende Univer-sitas litterarum (Einheit der Geisteswissenschaften) bilden. Auf diese Weise könnte man gleichzeitig auch einem anderen Übel des 19. Jahrhunderts, dem übermäßigen Spezialistentum, entgegenwirken und wesentlich dazu beitragen, daß die zwischen den. einzelnen Fakultäten errichteten Scheidewände zum Wohle der Menschen abgebaut und der Blick fürs Ganze geschärft werde.

Dann würde der Boden wieder bereitet sein für eine Wiederkehr des Naturrechts, nicht des rationalistischen' des 18. Jahrhunderts, sondern des metaphysischen, das einst Plato und Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin, Leibniz und Kant erfüllte. Die Rückkehr zu dieser Tradition würde es noch einmal ermögl'chen, die Einheit der ?'endländischen Kultur wiederherzustellen und hiemit die ewige Sehnsudit der europäischen Völker wahrzumachen. Der lange verhängnisvolle Irrweg eines zu imperialistischen Machtstrebens entarteten Nationalgefühls hätte dann sein verdientes Ende gefunden und absolute Werte hätten wieder ihre Gültigkeit zur Ehre Gottes und zum Frieden der Menschheit!

Die Überzeugung von der Schicksalsgemeinschaft ist nur ein moderner Ausdruck für die in ihrer vollen Bedeutung fast unfaßbare urchristliche Auffassung der Verschlungenheit aller Geschlechter der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft. Wir müssen gemeinsam nach Erlösung streben. Darin gipfelt die Solidarität, die wir die Genossenschaftlichkeit nennen. Wo immer eine Genossenschaft ersteht, die in irgendwelcher Form der praktischen Betätigung sich diesem Ziele widmet, wird ihre Wirksamkeit von Segen begleitet sein.

Dr. Th. Btauer: „Christentum und öffentliches Leben“

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