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Wiedersehen mit Paul Reynaud

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Paul Reynaud hat schon im Frühsommer unserem Pariser Mitarbeiter die Weltpolitik aus seiner Sicht gedeutet. (Vgl. „Die Furche , Nr. 23.) Das Gespräch fand eine starke Internationale Beachtung — besonders hinsichtlich seiner Prognosen zum Chinesisch-sowjetischen Verhältnis, dessen Zuspitzung notgedrungen zu einer progressiven Annäherung Moskaus an Washington führen werde. Er hat seine grundsätzliche Auffassung auch nach dem Sturz Chruschtschows nicht geändert. Gegenüber der Außenpolitik General de Gaulles steht er nach wie vor in schärfster Opposition. Er fürchtet, daß die antiamerikanische Linie .des französischen Staatspräsidenten Frankreich in die völlige Isolierung führen werde. Obwohl der ehemalige Ministerpräsident im Oktober 86 Jahre alt geworden ist, entwickelt er nach wie vor eine ungewöhnliche Aktivität und bezeichnet sein eigenes Leben, nicht ohne Stolz, als eine Folge von Kämpfen für unpopuläre politische Ziele.

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Paul Reynaud hat schon im Frühsommer unserem Pariser Mitarbeiter die Weltpolitik aus seiner Sicht gedeutet. (Vgl. „Die Furche , Nr. 23.) Das Gespräch fand eine starke Internationale Beachtung — besonders hinsichtlich seiner Prognosen zum Chinesisch-sowjetischen Verhältnis, dessen Zuspitzung notgedrungen zu einer progressiven Annäherung Moskaus an Washington führen werde. Er hat seine grundsätzliche Auffassung auch nach dem Sturz Chruschtschows nicht geändert. Gegenüber der Außenpolitik General de Gaulles steht er nach wie vor in schärfster Opposition. Er fürchtet, daß die antiamerikanische Linie .des französischen Staatspräsidenten Frankreich in die völlige Isolierung führen werde. Obwohl der ehemalige Ministerpräsident im Oktober 86 Jahre alt geworden ist, entwickelt er nach wie vor eine ungewöhnliche Aktivität und bezeichnet sein eigenes Leben, nicht ohne Stolz, als eine Folge von Kämpfen für unpopuläre politische Ziele.

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MAXIMILIAN BENDA: „Herr Präsident, als wir einander im Mai dieses Jahres zum letztenmal sahen, sprachen Sie die Überzeugung aus, daß die etinerische Gefahr die Sowjets eines Tages zwingen würde, eine Verständigung mit dem Westen zu suchen. Sie würden — nach Ihren Worten — sogar einer deutschen Wiedervereinigung zustimmen, falls die Vereinigten Staaten Moskau gegen einen etwaigen Angriff Deutschlands vertraglich garantieren würden. In den verflossenen sieben Monaten hat es eine Reihe weltpolitischer Veränderungen gegeben, die mich zu diesem neuen Gespräch veranlassen. Hat der Sturz Chruschtschows Ihre Ansicht geändert?"

PAUL REYNAUD: „Nein, keineswegs. Chruschtschow war zu heftig in seinen Erwiderungen an die Adresse der chinesischen Führer. Zuweilen frage ich mich in diesem Zusammenhang, ob ich nicht einen Teil der Verantwortung dafür trage, daß er in Ungnade gefallen ist. Denn in jedem Gespräch, das ich mit Chruschtschow geführt habe, nahm ich Gelegenheit, ihm die Bedrohung seines Landes durch die Chinesen in den schrecklichsten Farben auszumalen.

Doch die Nachfolger Chruschtschows fühlen sich nach seinem Abgang an die Richtlinien des 20., 21. und 22. sowjetischen Parteikongresses gebunden. Diese Politik liegt in der Natur der Dinge: Auf der asiatischen Matte liegt neben der Sowjetunion ein viel größerer Partner als sie. Dies beunruhigt Jie. Und deshalb haben die Nachfolger Chruschtschows ihren Willen bekräftigt, an der Politik der friedlichen Koexistenz mit dem Westen festzuhalten. Dies war aber gerade das entscheidende Element des Gegensatzes zwischen Chruschtschow und den Chinesen. Kürzlich waren die Mos kauer Revolutionsfeierlichkeiten davon beeindruckt, daß vor allem die Stelle der Rede Suslows nicht durch den Beifall Tschu En-lais quittiert wurde, die sich mit der Koexistenz befaßte. Darüber hinaus hielten es die Sowjets für angebracht, sich an ihre Freundschaft gegenüber Indien zu erinnern, das Opfer eines chinesischen Angriffs wurde. Folglich war das Kommunique, das nach den

Moskauer sowjetisch-chinesischen Unterredungen veröffentlicht wurde, eisig.“

M. B.: „Wird die gegenwärtige Haltung der maßgebenden Kremlexponenten nicht auch von anderen Faktoren bestimmt?“

P. R.: „Gewiß, es gibt noch einen anderen Grund: Sie mußten alles tun, um der öffentlichen Meinung ihres Landes zu gefallen. Diese möchte aber keinen Krieg. Eine weitere Konzession an die breiten Massen war der Verzicht auf die ursprünglich vorgesehenen Steuererhöhungen für Lebensmittel, in erster Linie für Wodka. Man glaubt sich wahrhaftig in die Wahlperiode einer Demokratie versetzt.“

M. B.: „Sie glauben also, daß der von Chruschtschow beschrittene

Weg, die Konsumgütererzeugung voranzutreiben und den Lebensstandard der Massen zu heben, keine Änderung erfahren wird, weil der „Mann auf der Straße“ ein stärkeres Gewicht in der UdSSR bekommen hat…“

P. R.: „Durchaus. Und ich möchte dieser Feststellung hinzufügen, daß die Machtzunahme der öffentlichen Meinung bei den Sowjets ein äußerst wichtiges neues Faktum im diplomatischen Bereich darstellt.

Was den nach wie vor bestehenden Antagonismus zwischen Moskau und Peking angeht, so möchte ich Sie daran erinnern, daß seit meinen Prognosen, die ich vor sieben Mona-

ten aussprach, die chinesische Atombombe zur Explosion gebracht worden ist. Dieser Vorgang dürfte die Kremlgewaltigen mit Schaudern erfüllt haben. Und mithin widerspricht die hier und da auftauchende Erwartung einer grundlegenden Änderung des chinesisch-sowjetischen Verhältnisses — abgesehen von äußeren und formalen Dingen — jeder logischen Überlegung.“

M. B.: „Was halten Sie, Herr Präsident, von der multilateralen Atomwaffe, die jetzt so viel Staub aufwirbelt?“

P. R.: „Historisch gesehen, ist dieses Angebot den Europäern von den Vereinigten Staaten gemacht worden, nachdem es Washington abgelehnt hatte, weiterhin die auf ihre Kosten durchgeführten und als viel zu kostspielig erachteten britischen Blue- streak-Versuche fortzusetzen. Anfangs erschien mir das MLF-Projekt recht seltsam. So haben gewisse böse Geister jene Schiffe, deren Besatzungen sich aus Seeleuten verschiedener Nationalität zusammensetzen sollten, mit dem Turm von Babel verglichen. Das Projekt ist vom

Wunsch der USA inspiriert, die Europäer in ihrer gemeinsamen Verteidigung Europas zusammenzuschweißen. Wer könnte wohl abstreiten, daß sie dessen dringend bedürfen! Die Zustimmung der Bundesrepublik zu diesem Projekt erfolgt fraglos in erster Linie mit Rücksicht Deutschlands gegenüber den Amerikanern, denen es so sehr verpflichtet ist — wie wir übrigens auch. Darüber hinaus dürfte Bonn in der MLF einen ersten Schritt zur europäischen Force de Frappe hin sehen, an deren Kontrolle es eines Tages teilzunehmen hofft. Zu Beginn jedenfalls wird es nur einen Finger am Knopf geben — und dieser Finger wird amerikanisch sein.“

M. B.: „Sie sagten mir vor einigen Monaten, daß Ihnen Chruschtschow im Verlauf Ihres letzten Gesprächs die Frage gestellt habe, ob Sie glaubten, daß Deutschland Krieg machen werde. Sie haben ihm da-

mals die Gegenfrage gestellt: ,Womit?1 — Nun haben die Sowjets gegen das MLF-Projekt protestiert. Welche Bedeutung ist nach Ihrer Meinung diesem Protest einzuräumen?“

P. R.: „Nach meiner Überzeugung handelt es sich hier nicht um einen rein formalen Protest. Die Russen haben ihre mehrere Jahrhunderte alte Angst vor den Germanen nicht überwunden. Freilich glaube ich nicht, daß ihre Befürchtungen im Zusammenhang mit der MLF auf militärischem Gebiet kaum ernsthaft sein könnten. Denn welches Gewicht fällt schon einigen Überwasserschiffen neben amerikanischen Unterseebooten zu, die im getauchten Zustand ihre Polaris-Raketen abfeuern können? Nein, Moskaus Unruhe ist vornehmlich politischer Natur. Die Sowjets wollen ein gespaltenes Europa, und in dieser Richtung kommen wir ihnen ja wahrhaft entgegen. Was jedoch umgekehrt zur Einigung Europas beiträgt, löst bei den Sowjets einen Alpdruck aus.“

M. B.: „Nun hat sich Frankreich nicht darauf beschränkt, das Angebot abzulehnen. Es hat sich auch bemüht, die anderen daran zu hindern, das amerikanische Anerbieten anzunehmen. Dies hat den Generalsekretär der NATO, Brosic, der einem Konflikt innerhalb der atlantischen Organisation auszuweichen suchte, nun soeben zu der Erklärung veranlaßt, daß nichts ohne ein gemeinsames Übereinkommen aller Alliierter durchgeführt werden könne…“

P. R.: „Ich möchte Ihnen meine Befürchtung nicht verschweigen, daß diese Auseinandersetzung das Gebälk der atlantischen Allianz zum Krachen bringen könnte.

Kommen wir also zum Schluß: Ich glaube, daß eine enge Solidarität zwischen den Völkern Europas — mag es sich um Deutschland oder Frankreich handeln — und den Vereinigten Staaten durch die Natur der Dinge aufgezwungen ist. Ich bin davon überzeugt, daß sowohl die Völker der Bundesrepublik, als auch Frankreichs ohne Anwesenheit der USA in Europa ihre Freiheit verlieren würden.“

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