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WIENER DRAMATURGIE

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Vor einigen Wochen erschien in einer Wiener Tageszeitung eine teils allgemeinkritische, teils selbstkritische Betrachtung der Wiener Theatersituation, mit welcher der Autor der nachfolgenden Ausführungen eine Autodiagnose zu stellen versuchte, mit dem Ziel, eine Therapie für den „Patienten”, das Wiener Theater, zu finden. Die Krankheitssymptome (fieberhafte Spielplangestaltung, krampfartige, dem Ensemble-Gedanken widersprechende Starengagements und blutleere Theaterabende) wurden aufgezeigt und die Aktionen des Theaterleiters sowie die Reaktionen von Publikum und Presse analysiert.

Um andere Spitzen abzubrechen, wurde als wesentlicher Schritt zur Gesundung eine rückhaltlose Zusammenarbeit der Wiener Theater gefordert und erstmalig der Gedanke der Schaffung einer „Wiener Dramaturgie”, eines Konsiliums Berufener zur Diskussion gestellt, die der inneren Krise des Theaters ein Rezept zur schrittweisen Genesung zu erstellen hätten. Aus der Tätigkeit einer Wiener Dramaturgie, des Zusammenschlusses der guten Kräfte des Wiener Theaters, würde die neue Kraft für das Wiener Theater im besonderen und für das deutschsprachige Theater im allgemeinen kommen, hieß es da, und diese Kraft würde über die Erkenntnis des Negativen zur Erringung des Positiven führen. Abstimmung des Spielplans sämtlicher Wiener Theater zugunsten des Wiener Publikums, Verzicht auf das Wettlaufen um Erstaufführungen um jeden Preis im nicht- geeigttettn Rahmeftzugunsten der besten Aufführung eines Werkes irii’bestgeeigneten Rahmen, wenigstens teilweise Verlagerung des Schwergewichtes deutschsprachiger Erstaufführungen und somit des Theatergespräches im deutschsprachigen Raum überhaupt nach Wien, die Bearbeitung von Stücken der Weltliteratur, das Heranbilden junger österreichischer Autoren mit dramaturgischer Unterstützung durch die „Fachleute”. Die Wiener Dramaturgie solle den Wiener Theatern weder über- noch untergeordnet sein, ihre Mitglieder müßten Lehrer und Schüler gleicherweise sein und sie würden mit dem Höchstmaß an Verantwortung nur nach künstlerischen Gesichtspunkten zu raten und zu arbeiten haben und ihr Rat, so wurde gesagt, könnte dann kaum überhört werden.

Negative und positive Reaktionen

Die heimischen Gewässer wurden lebendig. „Das Unbehagen in der Theaterwelt”, so überschrieb Fritz Hochwälder seine Stellungnahme, die in der „Presse” erschien. Hochwälder kritisiert die Idee und meinte, „Wien sei so gesund wie einst”. „Wen will man durch Etablierung eines dramaturgischen Konsiliums aneifern? Die jungen Dramatiker? Sie bedürfen weder unserer Belehrung noch unseres Unterrichts, meinetwegen mögen sie kunstlos produzieren, allen dramaturgischen Regeln zuwider, was ihnen nottut, ist keineswegs Perfektion, vielmehr unmittelbarer, drängender, tiefgefühlter Glaube an die Notwendigkeit eigener Aussage. selbst wenn diese Aussage die Verkündung des Unglaubens bezwecke. Kann ein dramaturgisches Konsilium den jungen Leuten Glauben einflößen? Oder erweist es sich als notwendig, ein intensives Theaterstück, das dramaturgisch auf schwachen Beinen steht, zu verbessern? Wer wollte den jungen Schiller, den unvollendeten Georg Büchner verbessern?”

Negativ war auch Hans Friedrich K ü h n e 1 t. „Mir persönlich ist es lieber, wenn ein Stück von mir nicht gespielt wird, als mit halbem Herzen, denn dann geht es immer schief. Was die Zusammenarbeit verschiedener Autoren anbelangt. bin ich ebenfalls skeptisch. Schöpferische Menschen arbeiten am besten allein. Der Schriftsteller ist kein Herdentier, er lebt in einer Stadt und mit seiner Stadt eventuell, aber nicht mit seinen Kollegen.”

Und dann kamen die, die das Theater machen. Professor Dr. Friedrich Schreyvogl meinte: „Es ist gut, daß diese Gedanken formuliert werden. Die Gegensätze, die zwischen den Wiener Theatern herrschen, sind keine natürlichen, sondern künstliche und leicht aus der Welt zu schaffen. Ich bin absolut für eine Konkordanz, eine gemeinsame Planung auf lange Sicht.”

Professor Dr. Oscar Fritz Schuh, der künstlerische Leiter des Berliner Theaters am Kurfürstendamm: „Ich habe die Diskussion in den Wiener Blättern mit Interesse verfolgt, wie ich alles verfolge, was in Wien geschieht. Ich finde die Vorschläge sehr gut, und bin meinerseits gern bereit, mitzumachen, soweit es in meiner Macht steht. Der Tod des Theaters ist die Isolation der einzelnen Bühnen, seine Zukunft das Zusammenarbeiten. Eine der wichtigsten Aufgaben müßte es sein, Dichter und Schriftsteller, die sich jetzt nicht mit dem Theater beschäftigen, heranzuziehen. Viele unserer Begabtesten sind zum Roman und zum Fernsehen abgewandert, und diese heranzuziehen, kann eine lohnende Aufgabe sein.”

Direktor Leon Epp vom Volkstheater: „Im Theater ist das Wesentliche, daß etwas geschieht. Eines ist sicher, so geht es nicht weiter. Wir haben leider im Jahre 1945 verabsäumt, Verlage nach Wien zu ziehen und dieser Fehler hat saure Früchte getragen. Das ist einer der Gründe, warum unser Kampf um Uraufführungen so hoffnungslos ist, denn die deutschen Verlage gehorchen einem gewissen Lokalpatriotismus. Außerdem ist Koordination von größter Wichtigkeit.”

Hofrat Dr. Ernst Lothar: „Der Nachdruck auf die Spielplangestaltung ist vollkommen zutreffend. Der Spielplan ist tatsächlich das Wesen des Theaters, wobei der Nachdruck auf ,Plan’ liegt. Unsere Theater drohen gesichtslos zu werden und die einen erfüllen die Aufgaben der anderen. Es ist meines Erachtens unerläßlich, daß jedes Theater entsprechend seiner Eigenart die Stücke spielt, die ihm gemäß sind. Also kein zufälliges Zickzack, sondern eine vorausgeplante , Linie, tunlichst eine aufsteigende. Nicht Gelegenheitsmacherei für einzelne Schauspieler oder Reiseregisseure, sondern dem betreffenden Theater erreichbare Aufgaben, an denen das Ensemble wächst, das ständig neue Blutzufuhr vor allem durch junge Darsteller braucht.”

Der Leiter der Bundestheaterverwaltung, Ministerialrat Ernst M a r b o e : „Die gegenseitige Rücksichtnahme und die Abstimmung des Spielplanes der verschiedenen Theater ist eine der Generalabsicht naherückende Sache. Der jetzige Spielplan der Theater ist zu oft der Aktualität und dem Augenblick verhaftet. Eine grundsätzliche Zusammenarbeit der Theater müßte absolut ins Auge gefaßt werden.”

Die Kritik schaltet sich ein. Der Rundfunk meldete’ sich, die deutsche Presse nahm Notiz von der Anregung. Das Theaterwissenschaftliche Institut, das die ersten positiven Reaktionen zeigte, begann sofort zu planen, um mit Zustimmung des Bundesministers für Unterricht auf akademischem Boden das Konsilium einzuberufen. Der Stadtrat für Kultur und Volksbil- dunglädtzueinerEnqueteüberdie „W iener Dramaturgie” ein. Die mit überwältigender Mehrheit dargetane positive Reaktion war ebenso erfreulich wie die kleine Minderheit der negativen Kritik, solange sich diese in konstruktiven Bahnen bewegte. „Was soll denn diese .Wiener Dramaturgie’ eigentlich sein? Soll das eine Stelle oder ein Amt sein”, fragt Otto A m b r o s im österreichischen Rundfunk. „Was ist der nächste Schritt” fragten andere.

Freiheit der Initiative

Es ist an der Zeit, uns mit den kritischen Stimmen auseinanderzusetzen: „Die Wiener Dramaturgie” soll keineswegs eine Beschränkung der schriftstellerischen oder gar dichterischen Freiheit des Autors, sondern nur eine Hilfeleistung für ihn und in seinem Sinn bedeuten. Diese Hilfeleistung ist sehr, sehr oft notwendig. Vielleicht nicht bei Büchner und bei Schiller, aber bei sehr vielen Autoren, deren Stücke wir heute Iefen und aufführen sollen und wollen. Es wird auch leider oft geschehen, daß Stücke mit halbem Herzen gespielt v/erden. Sie sind auch manchmal noch kein Ganzes wert, aber wenn das Herz ein wirkliches Theaterherz ist, dann ist das halbe groß genug, um dem Stück zum Durchbruch zu verhelfen. Die Kraft eines wirklich lebendigen, dramatischen Bühnenwerkes wird durch die gute Besetzung gewiß gesteigert, kann aber durch die schlechtere nicht gänzlich verlorengehen. Ein Autor kann nicht nur auf den Idealfall der von ihm erträumten Besetzung warten, er schreibt nicht für ein Theater oder für einen bestimmten Schauspieler, er schreibt für alle Theater und für das Publikum.

Die „Wiener Dramaturgie” soll keine Stelle und schon gar kein Amt sein, aber sie soll eine Kraft sein, sie soll eine Vereinigung geistig schaffender Menschen sein, die die Materie kett- nen und1 lieben und die für das und mit dem Theater leben. Jene, die dem Theater den Puls fühlen können und die den Blutkreislauf des Theaterorganismus um seiner und ihrer selbst willen weitertreiben müssen. Sie sollen sich im wahrsten Sinne des Wortes zusammensetzen und über ihre Träume wachen. Der in der Diskussion im Oesterreichischen Rundfunk gemachte Vorschlag, wonach jedes der großen Wiener Theater je drei Vertrauensleute, Persönlichkeiten des Wiener Theaterlebens, die nicht dem eigenen Hause angehören, nominieren möge, wurde von dem Leiter des Theaterwissenschaftlichen Institutes, Professor Kindermann, aufgegriffen. Diese Gruppe von Theaterfachleuten im weiteren Sinne wird die Beratungen in Kürze aufnehmen. Jeder dieser „Wiener Dramaturgen” verfügt über einen eigenen Kreis, den er innerhalb des „Konsiliums” vertritt. Es würde so gelingen, eine möglichst große Anzahl interessierter und interessanter Persönlichkeiten in den Arbeitsprozeß einzuschalten, die Schlagkraft aber durch ein möglichst kleines Arbeitskomitee zu gewährleisten.

Lenkung des Theaters, keinesfalls im Sinn einer zentralen Lenkung mit Ausschaltung oder Einschränkung der Initiative des Risikos de Theaterleiters, keine wie immer geartete Form einer Absicherung gegen etwaige Mißerfolge, im Gegenteil: Erhöhung des Risikos durch gesteigerte künstlerische Ansprüche. Aber das Einbeziehen des gesamten verfügbaren geistigen Potentials zur Stärkung einer gemeinsamen künstlerischen Linie (ad Piero Rismondo).

Es muß auch durch eine Spielplanabstimmung das jeweilige Theater einer Stadt wie Wien wieder zu seinem Stil geführt werden. Dadurch wird automatisch das Schauspielerproblem, das Wegengagieren, das Wegtendieren gelöst werden. Auch der Schauspieler wird an das Theater gehen, das seine Rollen spielt (ad Ernst Lothar und Otto Basil).

Ensembletheäterstadt

In diesem Zusammenhang könnte man vielleicht zu der Einsicht kommen, daß es in einer Zeit wirtschaftlicher Bedrängnis der Wiener Theater kaum vertretbar ist, dem einen oder dem anderen der hundert fest engagierten Mitglieder des Staatstheaters zu verwehren, in einem anderen Wiener Theater, das letztlich, wenn auch in geringerem Maße, von der öffentlichen Hand gestützt wird, zeitweise eine künstlerische Aufgabe zu erfüllen, die aus gegebenen Gründen im eigenen Hause nicht immer vorhanden ist. So kann man vermeiden, daß Schauspieler nicht notwendigerweise höheren künstlerischen Flanges für das Drei- und Vierfache der Gage importiert werden müssen, da für solche Besetzungen verwendbare Schauspieler ohnehin von derselben öffentlichen Hand bezahlt werden, aber vor unseren Auęen Spazierengehen. Eine sinnvolle Lockerung dieses bestehenden starren Systems würde nach allen Seiten hin befruchtend wirken, ohne die persönliche Note des Instituts zu gefährden, das einen solchen Schritt im Sinne künstlerischer und wirtschaftlicher Erkenntnis wagt. Die Wechselwirkung könnte die Antwort auf eine der aktuellsten Fragen, die in anderem Zusammenhang in diesen Tapen diskutiert wird, ein: „Ensembletheater” — Wunschtraum oder Realität. In der Zeit der Filmgagenkonkurrenz, der Fernsehgagenkonkurrenz und der Tournee- gagenkonkurrenz ist der ganzjährige dreifache EnsemMetheater-Gedanke ein Wunschtraum, der einer Ensembletheater stadt aber eine Realität.

Der nächste Schritt

Nach knappen vier Wochen ist die Möglichkeit der Schaffung einer „Wiener Dramaturgie” mit allen ihren Risken ins Reale gerückt. Die Großen haben ihr Placet gegeben, und es liegt nun wieder an uns, an denen, die das Unbehagen nicht nur gespürt, sondern zugegeben haben, es liegt an uns, wieder offen zu sein. Glauben wir trotz all dieser unwahrscheinlich positiven Anfänge tatsächlich an die Möglichkeit, hier in Wien mit dem Theater etwas Wirkliches von Weltgeltung schaffen zu können? Glauben wir an eine reale Möglichkeit der Zusammenarbeit im engsten und im weitesten Sinn, oder lassen wir einander nur schön reden, um dann im besten Fall gefunden zu haben, daß es ja auf keinen Fall geschadet haben kann? Ist uns der Gedanke, mit einer „Wiener Dramaturgie” die Geister, die wir riefen, nicht mehr loszuwerden, vielleicht ein größeres Unbehagen als das, was wir leider nun schon einmal zugegeben haben? Haben wir vor der eigenen Courage Angst bekommen? Wir werden über die Diskussion für und wider die „Wiener Dramaturgie” miteinander ins Gespräch gekommen sein und werden fortan das „Mea culpa” vielleicht gar nicht mehr aussprechen müssen. Gelegentlich daran zu denken wird keinem von uns schaden. Die „Wiener Dramaturgie” wird über Konzeptplanung, Arbeitsprogramm, Erfolg und Mißerfolg hinaus auch dort ihren Sinn gefunden haben, wo zwei, vielleicht sogar drei Wiener Theaterdirektoren zusammensitzen und sich überlegen, welche Stücke sich im Spielplan der Bühnen der nächsten Saison überschneiden, welche Schauspieler zu deren Besten und zum Besten der Theater in diesem bleiben oder von jenem gehen sollten. Die „Wiener Dramaturgie” wird auch dort ihren Sinn gefunden haben, wo zwei, vielleicht sogar drei Wiener Kritiker zusammensitzen und die Wichtigkeit des Neuen, des Experimentellen, des notwendigerweise Unfertigen zu überschätzen statt zu unterschätzen bereit sind und dort, wo 20.000, vielleicht sogar 30.0000 Wiener Theaterbesucher einen gewissen Prozentsatz der ia immer nur für sie bestimmten Theaterabende akzeptieren, auch wenn ihnen dabei das eine oder andere Mal das Lachen vergeht. Und die „Wiener Dramaturgie” wird diesen Sinn beibehalten, wann immer, wo immer und solange das Wiener Theater eine Synthese des Herzens und des Geistes ist. Und nur dann wird sie über ihren konkreten Atifgabenkreis hinaus eine Schutzmarke sein für geistiges Theater „Made in Austria”.

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