Wiener Zögern und Lavieren

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Moskauer Panzer gegen den „Prager Frühling“. Der August 1968 – von der österreichischen Seite aus betrachtet.

Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei begann am 20. August 1968 um 23.00 Uhr. Mit Militärgewalt sollten der „Prager Frühling“ erstickt und endgültig die Versuche unterbunden werden, ein totalitäres System zu reformieren. „Die militärische Intervention der Sowjetregierung in der Tschechoslowakei kam für uns ebenso wie für die übrige Welt überraschend“, erklärte Österreichs Außenminister Kurt Waldheim in einer Rede vor dem Ministerrat am 10. September 1968. Die militärische Führung des österreichischen Bundesheeres hatte angesichts der bedrohlichen politischen Lage in der CSSR jedoch schon im Frühjahr des Jahres 1968 entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um einer eventuellen Bedrohung entsprechend entgegentreten zu können.

Deckname „Urgestein“

Am 13. Mai 1968 besprachen Verteidigungsminister Georg Prader und Generaltruppeninspektor General Erwin Fussenegger das Vorgehen im Fall eines bewaffneten Konfliktes im Nachbarland Tschechoslowakei. Dabei wurde erörtert, dass sich „bei einem Einmarsch sowjetischer Truppen an einem Wochenende die Situation für das Bundesheer kritisch entwickeln könnte, da auf Grund der dienstfreien Zeit nicht genügend Soldaten zur Verfügung stehen würden“, analysiert der Militärhistoriker Andreas Steiger. Daher erteilte Minister Prader – offiziell aus Übungsgründen – die Weisung, für die folgenden zwei Monate auf den Truppenübungsplätzen Allentsteig und Bruck/Leitha an Wochenenden und an Feiertagen entsprechende Truppenteile marschbereit zu halten.

Die österreichischen Politiker rechneten zwar nicht mit einem militärischen Vorgehen der Warschauer-Pakt-Truppen gegen die CSSR. Dennoch fand am 23. Juli 1968 eine Besprechung zwischen Vertretern des Innen- und des Verteidigungsministeriums statt, um für den Fall eines bewaffneten Konflikts die notwendigen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in Österreich zu beraten und zu koordinieren. Das Besprechungsergebnis erhielt einen Tag später als Befehl den Decknamen „Urgestein“ und beinhaltete jene Maßnahmen für das Bundesheer, die im Falle eines Einmarsches von Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR zur Sicherung der Grenze zu treffen sind: „Die Möglichkeit eines Eingreifens von Streitkräften des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei kann weiterhin nicht ausgeschlossen werden“, außerdem wurde mit dem „Übertreten bewaffneter tschechischer Soldaten gerechnet“.

Kanzler ohne Telefon

Doch als in der Nacht auf den 21. August 1968 die Beamten im Innenministerium auf Grund der einlaufenden Meldungen feststellten, dass die Truppenbewegungen im Nachbarland kein Manöver waren, sondern die militärische Besetzung der CSSR, funktionierte der vereinbarte Einsatzplan nur teilweise. Die zur Sicherung der Grenze und Grenzübergänge geplanten Maßnahmen des Innenministeriums wurden reibungslos durchgeführt; außerdem wurde bis zum Mittag des 21. August die Exekutive an den vorgesehenen Einsatzpunkten mit 930 Gendarmeriebeamten verstärkt. Doch der Einsatz des Bundesheeres „deckte Schwächen im Entscheidungsprozess der politischen Führung Österreichs auf, neben organisatorischen Mängeln verzögerten vor allem Meinungsverschiedenheiten in der Lagebeurteilung und Kompetenzstreitigkeiten den seit 8.00 Uhr möglichen Abmarsch des Bundesheeres um über acht Stunden“, kritisiert der Historiker Reiner Eger die damalige Bundesregierung.

Es war Urlaubszeit – Bundeskanzler Josef Klaus besaß in seinem Haus in Wolfpassing bei Tulln kein Telefon, sodass sein Sekretär Thomas Klestil in der Nacht zu ihm fahren musste, um den Kanzler zu informieren und ihn nach Wien zu bringen. Innenminister Franz Soronics wiederum fuhr mit dem Auto von seinem Urlaubsort in Tirol nach Wien, anstatt einen Hubschrauber anzufordern, und traf erst um 8.40 Uhr im Bundeskanzleramt ein – da hatte der Kanzler schon längst (um 7.00 Uhr) über den ORF eine Erklärung an die österreichische Bevölkerung zu den tragischen Ereignissen im Nachbarland abgegeben.

Einmarsch nicht verurteilt

Josef Klaus verwies dabei auf die konsequente Neutralitäts- und Unabhängigkeitspolitik Österreichs, womit man sich „das Vertrauen aller vier Signatarmächte des Staatsvertrags, aber auch … seiner Nachbarländer erworben“ habe. Der Bundeskanzler sagte aber auch, dass „uns das Schicksal anderer Länder und Völker“ nicht gleichgültig sei. „Mit diesen Worten traf Klaus den Nagel auf den Kopf“, erklärt Peter Ruggenthaler, Historiker am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz, denn er habe im Interesse des Landes dafür zu sorgen gehabt, dass sich „die Krise nicht durch falsche Signale und Töne an Moskau über die eigenen Grenzen ausdehnen könnte“. Zugleich brachte Klaus aber auch das Mitgefühl gegenüber der tschechoslowakischen Bevölkerung zum Ausdruck, auch wenn er den Einmarsch selbst nicht verurteilte.

Bereits wenige Stunden später erläuterte Boris Podcerob, der sowjetische Botschafter in Wien, dem Bundeskanzler die Gründe für den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei hätten die „Lebensinteressen der Sowjetunion“ verletzt, und die „Bedrohung des sozialistischen Staatsaufbaus in der CSSR“ würde gleichzeitig auch eine „Bedrohung der Grundsätze des europäischen Friedens und der internationalen Sicherheit“ darstellen: der Einmarsch also als „Hilferuf“ der Genossen in der CSSR. Podcerob versicherte, dass der Einmarsch in keiner Weise die sowjetisch-österreichischen Beziehungen betreffe.

Der Historiker Michael Gehler zieht über den August 1968 den Schluss, dass das zögernde und lavierende Verhalten der Bundesregierung nach dem Einmarsch zur Verunsicherung der Bevölkerung beitrug und letztendlich zu einem Imageverlust der Regierung Klaus führte. Ob die österreichischen Politiker allerdings überfordert waren, ist zu hinterfragen. Andererseits fragt Gehler zu Recht, so Ruggenthaler, was sich denn geändert hätte, wäre die Regierung entschiedener und resoluter aufgetreten.

Keine US-Garantie

„Die Zurückhaltung Österreichs nach dem Einmarsch der Bündnistruppen des Warschauer Paktes kann durchaus auch mit einer fehlenden Sicherheitsgarantie von Seiten der USA erklärt werden“, erläutert Ruggenthaler. Denn 1956 erfolgte diese während der Ungarn-Krise ausdrücklich. 1968 blieb eine solche Garantie nach Meinung des Historikers vermutlich deshalb aus, weil sich die US-Regierung „stets bewusst war, dass sich die Militäraktion des Warschauer Paktes auf die Tschechoslowakei beschränken würde“. Auch aus wirtschaftlicher Sicht hätte sich Österreich 1968 in eine Sackgasse manövrieren können, hätte man sich gegenüber Moskau anders verhalten, denn „die intensive Reisetätigkeit in Länder des ‚Ostblocks‘ hatte bereits Früchte getragen, und die EWG-Annäherung war aufgrund der Südtirolfrage ungewiss“ (Ruggenthaler).

„Ein Hauch von Freiheit“

Stefan Karner, Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgenforschung, versucht eine Bilanz über die Auswirkungen für die Menschen zu ziehen: „Die Vorgänge im Jahr 1968 waren prägend für die Bewohner auf beiden Seiten der Grenze. In der CSSR brachten sie zuerst einen Hauch von Freiheit, unmittelbar gefolgt von der Niederschlagung im August 1968. Der Eiserne Vorhang hob sich erst wieder 1989. Die Angst vor einem sowjetischen Einmarsch gab es auch in Österreich. Zehntausende Tschechen und Slowaken fanden bei uns Aufnahme. Viele wussten damals nicht, wie es weitergehen würde!“ Für den Historiker sind diese schicksalhaften Monate des Jahres 1968 auch ein zentrales Thema bei der NÖ Landesausstellung, die 2009 erstmals in zwei Ländern gezeigt wird – „Österreich - Tschechien. Im Herzen Europas“: „In der Landesausstellung 2009 sollen die Ereignisse, Erwartungen und Schicksale der Menschen daher auch aus beiderlei Sichtweisen dargestellt werden.“

Reinhard Linke ist Redakteur beim ORF Niederösterreich.

Peter Fritz ist Mitarbeiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz.

„Im Herzen Europas“

NÖ Landesausstellung 2009 (in Horn, Raabs und im grenznahen TelcÇ).

Buchtipp

Prager Frühling

Hg. v. Stefan Karner u. a., Böhlau, Wien 2008 (Bd. 1: Beiträge, 1300 S.; Bd. 2: Dokumente, 1600 S.; je € 49,90)

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