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Wildgans und das humanistische Gymnasium

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Der folgende — bisher unveröffentlichte — Brief des Dichters Anton Wildgans gibt uns ein bedeutsames Bekenntnis seiner Stellung zur Problematik des humanistischen Gymnasiums. Die Veröffentlichung möge zugleich dem Gedenken an den Geburtstag des Dichters 17. April gewidmet sein. Das Original, das sich in meinem Besitz befindet, wurde mir seinerzeit aus dem Nachlaß des im Jahr 1941 in Baden verstorbenen Adressaten, Hofrates Univ.-Prof. Dr. Edmund H a u 1 e r, überlassen. Die Abfassungszeit des Briefes ist aus dem Datum ersichtlich der Dichter weilte damals, mit der Arbeit am Drama „Kain“ beschäftigt, in Mönichkirchen, er würde also in der großen Briefsammlung 1 zwischen den noch in Mödling geschriebenen Brief an A. Hansa und den schon aus Mönichkirchen tammenden an F. Winterholler fallen.

Die Bedeutung des untenstehenden Briefes liegt einerseits auf literarhistorischem Gebiet — hierher gehören z. B. die Bemerkungen über die eigene Gymnasialzeit, die kritische Auffassung des Jusstudiums, im weiteren Sinn aber auch die Einstellung zu den damals 1919 aktuellen Fragen der Mittelschulreform“ — die Auswertung in dieser Richtung, die den gegebenen Rahmen überschritte, möchten wir einer umfangreicheren Arbeit des Mitherausgebers der Sämtlichen Werke“ Vorbehalten. Zugleich bietet uns der Brief aber auch deutlich einen bildungsthepretischen Aspekt, auf den wir hier — wie schon im Titel angedeutet — besonders hinweisen wollen. Offensichtlich zeigt nämlich die Problematik des humanistischen Gymnasiums nach dem ersten Weltkrieg vielfache Parallelen mit unserer Zeit nach dem zweiten großen Krieg. Wir werden zwar von dem Dichter keine bloße „Apologie“ des Gymnasiums erwarten einer solchen hätte es übrigens dem Adressaten gegenüber auch nicht bedurft, an manchen Stellen besteht eher der Eindruck gewisser Vorbehalte; der Verfasser hat ferner natürlich keine systematische Darstellung geben wollen, sondern in einer zum Teil durch rein persönliche Erfahrungen gefärbt erscheinenden Art seine Auffassung einiger Hauptprobleme skizziert. Doch wem entgeht die brennende Aktualität der Fragen: Demokratie und Bildung. A.u s- lese der Schüler des humanistischen Gymnasiums, Notwendigkeit des Griechischunterrichts, Förderung der Begabten, Reformpläne einer „Einheitsmittelschule“ und die Gefährdung des Gymnasiums? Manche Aeußerung des Dichters würden wir heute etwas anders formulieren, einiges daran ist auch zeitgebunden und daher sachlich überholt, sehr vieles Wesentliche jedoch ist auch für uns noch und wieder sorgfältigster Ueberlegung und Beherzigung wert!

Hochverehrter Herr Hofrat! zur humanistischen Bildung. Das ist das einzige Kapitel, das ich dem ideellen Vermögen des Vereines zuschießen könnte. Dieser Liebe explicite Ausdruck zu verleihen, ist mir bisher nicht beigekommen, implicite ist sie, so glaube ich, enthalten in allem, was ich schreibe. Dieser Tatsache meinte ich den ehrenvollen Antrag, in den Ausschuß eintreten, verdanken zu dürfen und habe mich auch auf das freudigste bereit erklärt. Ich gebe nun gerne zu, daß man von mir eine aktivere Form der Mitgliedschaft erwarten konnte und glaube auch, in einiger Zeit diese Erwartungen zu rechtfertigen. Schon vor Erhalt Ihres heutigen Schreibens hatte ich mir vorgenommen, an den Ausschuß ein Schreiben zu richten, in dem ich meinen Standpunkt näher umschreiben wollte und gebeten hätte, mir mitzuteilen, ob angesichts der von mir kundgetanen Stellungnahme zu verschiedenen Fragen meine Mitarbeit tatsächlich erwünscht sei. Das Problem, ob humanistische Bildung oder nicht, weist nämlich gerade im gegenwärtigen Augenblicke die mannigfachsten Verästelungen auf. Von vorneherein bin ich natürlich dafür, daß jene, die humanistische Bildung anstreben, des Griechischen absolut nicht ent- raten können. Wie aber vollzieht sich in Hinkunft das Erkennen und die Auswahl jener, die humanistische Bildung wollen? Bisher war diese Frage leichter zu lösen, indem das Gymnasium praktisch eine Angelegenheit der sozialen Klasse war, der humanistische Bildungsgang mehr oder weniger, das — wenn auch vielfach vermittels von Stipendien, Schulgeldbefreiungen

Ich bin sehr bestürzt, einen Irrtum walten su sehen, der mir mehr als peinlich ist, obwohl ich besten Wissens und Gewissens bekennen darf, daß ich ihn nicht verschuldet habe. Herr Redakteur Schulz hat mich zwar eingeladen, dem Ausschüsse beizutreten, hat auch allerdings davon gesprochen, daß es begrüßt würde, wenn ich einen Vortrag hielte; daß dies aber bereits in der kommenden Jahresversammlung geschehen solle, dies hat er mir nicht angedeutet und konnte er von mir auch nicht erwarten, da ich ihm mitteilte, daß ich auf längere Zeit, in der Absicht, an Neuem zu arbeiten, nach Mönichkirchen reisen würde. Im übrigen habe ich Herrn Redakteur Schulz keineswegs verhehlt, daß ich mich als Vortragender noch niemals, versucht habe. In der Tat, ich bin nichts weniger als ein Redner und ganz besonders nicht auf einem Gebiete, das ich zunächst selbst erst näher kennenlernen muß. Was in mir lebendig ist, das ist die Liebe usw. durchbrochene Vorrecht des bürgerlichen Mittelstandes. Die neue Zeit gedenkt aber mit allen Vorrechten einer sozialen Klasse, besonders der bürgerlichen, zu brechen, plant Vereinheitlichung und Demo-kratisierung der Schule. Humanistische Bildung heißt aber Aristokratisierung im besten aller Sinne. Diese widerstrebenden Tendenzen’ könnten nun gewiß leicht dadurch ausgeglichen werden, daß man nicht so sehr die humanistische Bildung selbst als vielmehr die Möglichkeit, sie zu erlangen, demokratisiert, was so viel bedeutete, als daß man eben Begabte aller Stände und Vermögenslagen zu ihr zuließe, ja sogar heranzöge. Dadurch würde das Gymnasium, was es ja bisher immer hätte sein sollen und ideell auch war, eine Eliteschule und die wahre Vorbereitung für die wissenschaftlichen Universitätsstudien. Praktisch war aber das Gymnasium bisher, wie gesägt, eine Anstalt der Bildungseitelkeit für Anger- hörige jener Klasse, die sich für ihre Kinder den Luxus eines achtjährigen brotlosen Studiums leisten konnte, war, was noch schlimmer ist, ein Instrument zur Proletarisierung der humanistischen Bildung, das Mittel, sich für Hochschulstudien zu legitimieren, durch die dann der Proletarisierungs- prozeß besonders an der juristischen Fakultät auf einer höheren Ebene fortgesetzt würde. Alles dies, hochverehrter Herr Hofrat, ist sicher schon so oder besser gesagt worden, vielleicht aber noch nicht seit Ausbruch der neuen Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Schulbildung. Und so wagte ich, es nochmals zu sagen, trotz dieser neuen Bestrebungen, die ich als vollkommen berechtigt anerkenne und gerade deshalb für die Freunde des humanistischen Gymnasiums für besonders bedenkenswert halte. Die humanistischen Disziplinen Latein und Griechisch der Einheitsschule aufpfropfen zu wollen — schiene mir gänzlich verfehlt und überdies unmöglich. Die Einheitsschule, wenn sie Wirklichkeit wird, würde diese „unpraktische“ Belastung nicht vertragen und jene Disziplinen würden noch mehr darunter leiden. Erst nach Absolvierung der Einheitsschule mit der klassischen Bildung einzusetzen, wäre zu spät. Was also not täte, wäre der Mut, klipp und klar auszusprechen, daß das humanistische Gymnasium mehr denn je eine aristokratische Angelegenheit sei, wobei freilich der Begriff der Aristokratie anders und etymologisch richtiger bestimmt würde als bisher. Das Gymnasium hat die jedem Staatsbürger zugängliche Bildungsstätte für alle jene 2tt werden, die sich wissenschaftlich ausbilden wollen, oder besser gesagt, an denen die Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit innerhalb einer gewissen Vorbereitungszeit die etwa mit dem Untergymnasium identisch sein könnte, nach dem Urteil nicht nur der eigenen Fachlehrer klar erkennbar ist. Hand in Hand damit müßte hinwiederum eine verständnisvollere Differenzierung der Befähigungen gehen. Ich weiß es aus meiner eigenen Erfahrung, wie schmerzhaft und für mein ganzes Leben schädlich jener Mangel an größerer Differenzierung war. Zu den klassischen Sprachen, zur Grammatik im allgemeinen, zur Geschichte ausgesprochen begabt, kam ich während der ganzen Gymnasialzeit nicht dazu, mich in all diesen Gegenständen mit jener Genauigkeit zu präparieren, die mir Neigung und Ehrgeiz geboten hätte, und zwar deshalb, weil ich meine ganze. Energie und Zeit dazu aufwenden mußte, um in Mathematik und Physik nicht durchzufallen. Die Tendenz, durch das Gymnasium eine möglichst allgemeine Bildung zu vermitteln, so lobenswert sie an sich sein mag, kommt in den meisten Fällen auf eine Vergewaltigung heraus. Gerade die Besten sind in der Regel einseitig begabt. Die allseitig in einem tiefen Sinne Begabten sind ganz selten und müssen strenge von jenen scheinbar allseitig Begabten unterschieden werden, die besonders verdächtig sind, weil an ihrer Oberfläche leicht alles wahllos haften bleibt.

Mit all dem will ich nichts anderes sagen, als daß das Problem, um das es sich uns Freunden des humanistischen Gymnasiums handelt, gerade gegenwärtig äußerst kompliziert. ist. An sich ist es für uns ja überhaupt kein Problem, denn die Frage, ob ja oder nein, kann von uns doch ohnehin nur in einem einzigen Sinne beantwortet werden. Ich glaube aber zweifeln zu dürfen, daß wir durch Lobpreisungen des humanistischen Gymnasiums, durch Aufzählung aller seiner Vorteile, die ja doch wieder nur wir voll ermessen können, unseren Bestrebungen einen wirksamen Dienst zu leisten vermögen. Es scheint mir gar nicht einmal wünschenswert, das Gymnasium so, wie es jetzt ist, erhalten zu wollen. Dieser edle Wein ist bereits allzusehr verwässert. Soweit ich es beurteilen kann, haben die meisten bisherigen Reformen das Gymnasium seiner eigentlichen Wesentlichkeit mehr entfremdet als sonst etwas, haben es zu einem Mischling gemacht, der weder Fisch noch Fleisch ist. Das humanistische Gymnasium ist keine Volksküche der allgemeinen Bildung, es ist eine Anstalt, in der Feinschmecker des Geistes erzögen werden sollen. Auf den Rock, den sie anhaben, soll es nicht mehr ankommen. Und es müßte auch dafür gesorgt werden, daß ihnen, wenn nötig, der Rock besorgt wird, und zwar von der Allgemeinheit, die ein Interesse daran haben muß, daß es Leute in ihr gibt, die sich um Wissen mehr kümmern als ums Verdienen und Genießen im Sinne einer grob-materialistischen Lebensanschauung. Das Gymnasium sei die Stätte der Liebe zu den edlen Keimen im Acker des Volkstums. Demgemäß sei die Auswahl der Schüler und der Lehrer.

Dies sind, ex abrupto angedeutet, die Ideen, die mir zur Frage des humanistischen Gymnasiums im Augenblick bewußt geworden sind; sollten sie, hochverehrter Herr Hofrat, für die Zwecke des Vereines irgendwie von Wert sein, sollten sie sich mit ihnen überhaupt vertragen, so bitte ich Sie, von meiner Zusage, dem Ausschuß angehören zu wollen, gütigst Gebrauch zu machen. Vor allem aber bitte ich das von mir unverschuldete Mißverständnis zu entschuldigen, das Sie annehmen ließ, ich würde in der Jahresversammlung einen Vortrag halten. Abgesehen davon, daß ich erst im Juli zurückkehre, fühle ich mich dazu vorläufig noch keineswegs befähigt und berufen. Noch muß ich selbst erst lernen und mich in allen ein-schläglgen fragen unterrichten, worin Ich Ihnen für alle Arten von Winken und Anleitungen dankbar wäre als Ihr Ihnen in Hochschätzung ergebener Anton Wildgans Mönichkirchen, am 15. Mai 1919.

Wildgans: Ein Leben in Briefen, bg. v. Lilly Wildgans, 3 Bde., Frick, Wien 1947, Bd. 2, S. 129 bzw. 130.

Dr. E. Donatin TWien plant unter Heranziehung des im Mödlinger Archiv befindlichen Materials ein größeres Werk über den Dichter.

Hofrat Univ.-Prof. Dr. Edmund Hauler, Ordinarius der Klassischen Philologie an der Universität in Wien, gest. 1. April 1941.

Der „Verein der Freunde des humanistischen Gymnasiums" in Wien besteht mit einer kriegsbedingten Unterbrechung auch heute noch.

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