6784082-1970_05_03.jpg
Digital In Arbeit

Wir alle sind mitschuldig an Krieg und Frieden

19451960198020002020

Krieg ist an sich schon ein Greuel, und dieser Greuel ist eine Eigenheit der Menschheit. Bei den Tieren kämpfen die Männchen miteinander um die Weibchen ihrer Art; wenn aber der unterlegene Kämpfer seine Niederlage zugibt, schont der Sieger sein Leben. Anscheinend sind es nur die Menschen, die einander bis auf den Tod bekämpfen.

19451960198020002020

Krieg ist an sich schon ein Greuel, und dieser Greuel ist eine Eigenheit der Menschheit. Bei den Tieren kämpfen die Männchen miteinander um die Weibchen ihrer Art; wenn aber der unterlegene Kämpfer seine Niederlage zugibt, schont der Sieger sein Leben. Anscheinend sind es nur die Menschen, die einander bis auf den Tod bekämpfen.

Werbung
Werbung
Werbung

Krieg ist ein Greuel, und er ist auch eine Institution, wenn auch keine sehr alte. Kriege können nur geführt werden von menschlichen Gemeinschaften, deren Mitglieder dazu verführt oder gezwungen worden sind, dieses unnatürliche Verbrechen zu begehen. Mehr noch: Kriege können nur von Gemeinschaften geführt werden, deren Technik genügend entwickelt ist, um einen Überschuß, der über die Erfordernisse der nackten Existenz hinausgeht, produzieren zu können. Sowohl die unmoralische Verführung als auch der wirtschaftliche Uberschuß waren die Früchte eines technischen Sieges: der Verwandlung von Dschungelsümpfen in fruchtbare Äcker durch organisierte Gemeinschaftsarbeit; und dieser technische und organisatorische Sieg mit seinem unheilvollen sozialen Ergebnis wurde vor nicht mehr als etwa 5000 Jahren errungen. In der ersten Million Jahre seines Daseins war der Mensch wahrscheinlich ebenso unfähig, Krieg zu führen, wie seine nichtmenschlichen Mitgeschöpfe es waren. Es ist die Aufgabe unserer Generation, das schwarze Blatt in der Geschichte des Menschen umzuschlagen und unseren Nachkommen für die nächsten Millionen Jahre eine Welt ohne Krieg zu hinterlassen. Der Krieg ist die Schande, und der. Fluch, die der Mensch-selbst auf shär lädt. tts •Die Abschaffung des Krieges liegt tatsächlich in unserer Macht, allerdings zu einem Preis, den wir sehr hoch finden werden. Große Übel können nur zu einem hohen Preis ausgerottet werden. Der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, unsere Nachfahren vom Fluch des Krieges zu befreien, wird in einem Ausmaß von Selbstverleugnung und Selbstaufopferung bestehen, das zu ertragen wir bisher nicht bereit waren. Vor allem werden wir uns dazu bringen müssen, die nationale Souveränität einer wirksamen übergeordneten Form von Weltregierung unterzuordnen.

Da der Krieg eine Institution ist, hat er seine Regeln, und die Verstöße gegen diese Regeln, die die VerÜbung dieses Krieg genannten Greuels regieren sollen, sind die Superver-brechen, die im technischen Sprachgebrauch „Greueltaten“ geheißen werden.

Die fundamentale Regel des Krieges lautet, daß der Krieg die Regeln der zu Friedenszeiten geltenden Moral aufhebt. In Friedenszeiten wird das Verwunden und Töten von Mitmenschen als das Verbrechen, das es ist, verurteilt und bestraft; im Krieg dagegen wird dieses selbe Verbrechen als die Erfüllung einer ehrenhaften Pflicht gepriesen. Betrachtet man es unvoreingenommen, so ist das Schwert ein ebenso abstoßendes Mordwerkzeug wie das Messer eines Metzgers. Doch die Tradition, die den Krieg sanktioniert hat, hat auch das Schwert glorifiziert als ein Symbol des Adels und des Abenteuers — und das in der christlichen Welt, ungeachtet Christi Verweis an Petrus, weil dieser in Verteidigung seines Meisters ein Schwert gebraucht hatte, und ungeachtet Christi Warnung, daß „wer das Schwert braucht, durch das Schwert umkommen wird“.

Christus zahlte freiwillig den Preis dafür, daß er es ablehnte, dem Bösen mit Gewalt zu widerstehen. Der Preis für ihn war die Kreuzigung. Doch der Preis wäre noch viel höher gewesen für ihn, wäre er Petri Beispiel gefolgt. Die Alternative bestand darin, die Waffen zu ergreifen gegen die Sadduzäer und ihre römischen Oberherren, und wenn Chri-

stus und seine Jünger eine Horde kampflustiger Zeloten gewesen wären, hätten sie sich sicher dazu hinreißen lassen, Vergeltungsmaßnahmen zu treffen gegen ihre Verfolger, indem sie die gleichen Greuel taten begangen hätten, die ihre Verfolger ihnen angetan hätten; und dies wäre einer Verwerfung all des-

sen gleichgekommen, wofür Christus eingestanden war.

Verzicht auf Widerstand

Verzicht auf Widerstand war das kleinere Übel; aber der Verzicht auf den Widerstand ist ein fast ebenso qualvolles Kreuz wie die Kreuzigung selbst. In unserer Zeit hätte der Verzicht auf Widerstand im Jahre 1914 bedeutet, daß man Deutschland ungestraft Belgien überfallen und Europa erobern ließ; und 1939 hätte der Verzicht bedeutet, daß man Hitler auch noch die andere Wange hingehalten hätte.

Unglücklicherweise kann das Schwert, wenn es — zu welchem Zweck auch immer — einmal gezogen worden ist, nur noch sein unmenschliches Werk verrichten. Wenn wir uns entscheiden, in Verteidigung des Rechts das Böse zu bekriegen, sollten wir natürlich unseren Prinzipien gemäß handeln. Wir sollten uns niemals durch die Greueltaten des bösen Gegners dazu provozieren lassen, selber auch Greueltaten zu begehen. Doch die Kriegsgeschichte hat immer wieder gezeigt, daß dieses Ideal nur unendlich schwer aufrechtzuerhalten ist. Es ist schwer, weil der Krieg selbst eine verbrecherische Tätigkeit ist; so ist es in der Tat schwer, Krieg zu führen — und wäre es auch für eine gerechte Sache —, ohne in die verbrecherischen Praktiken zu verfallen, gegen die man die Waffen ergriffen hat.

„Töten, nicht morden!“

„Töten, nicht morden“ ist die Grundregel des Krieges, weil es die Umkehrung normaler Werte ist, die eine Ausübung des Verbrechens des Krieges ermöglicht. Es gibt noch andere Kriegsregeln, die angeblich die Abscheulichkeit des Krieges mildern,

indem sie ihm Grenzen setzen. Ein Soldat soll — genau wie ein Stier — das Leben des Feindes, der sich ergibt, schonen. Ein Soldat soll nur Soldaten verwunden und töten, in der Behandlung von Zivilpersonen jedoch, die zufällig Untertanen der Regierung sind, mit der des Soldaten eigene Regierung sich in Kriegszustand befindet, weiterhin die Regeln der Friedenszeit beachten. Vor allem aber soll der Soldat sich an die in Friedenszeiten geltenden Verhaltensregeln gegenüber Kindern, Frauen, alten Leuten und sogar Männern in dienstpflichtigem Alter, sofern sie nicht am Kampf beteiligt sind, halten.

Jedermann, der alt genug ist, um sich

an 1914 zu erinnern, hat es mit angesehen, wie alle diese eindämmenden Kriegsregeln weggefegt wurden. Die Welt war empört, als deutsche Soldaten im August 1914 bei ihrem Uberfall auf Belgien Zivilisten zusammentrieben und erschossen — und dabei hatte die Regierung dieser deutschen Soldaten die Neutralität Belgiens feierlich garantiert! Und kaum war der Krieg von 1914/18 vorbei, wurden die selbstgerechten Völker Großbritanniens und Frankreichs beschämt durch die Greueltaten, die britische „Black and Tans“ in Irland und französische Truppen in Syrien verübten. Jede Armee, die in ein fremdes Land eingefallen ist oder — aus was für Gründen auch immer — in einen Bürgerkrieg in einem fremden Land eingegriffen hat, gerät in Versuchung, Greueltaten gegen Zivilisten zu begehen. Die Armee, die einrückt oder das Land besetzt, weiß, daß mindestens ein Teil der Zivilbevölkerung ihr gegenüber feindselig eingestellt ist. Vor allem aber haben die fremden Soldaten Angst. Sie fürchten, sie könnten aufgerieben werden zwischen den feindlichen Kämpfern in Uniform vor ihnen und den getarnten Mitgliedern einer zivilen Widerstandsbewegung in ihrem Rücken. Ihre Nerven sind aufs äußerste angespannt, und sie sind leicht dazu zu bewegen, „feindliche“ Zivilisten zu massakrieren — auf die Möglichkeit hin, daß diese Mitglieder einer Widerstandsbewegung sind und die fremden Soldaten umbringen werden, wenn diese sie nicht zuerst umbringen.

Das ist die Situation, in welcher deutsche Soldaten 1914 belgische Zivilisten massakrierten und in welcher amerikanische Soldaten beschuldigt werden, 1968 vietnamesische Zivilisten massakriert zu haben.

Da der Krieg an sich schon ein Greuel ist, werden Regeln, die seine Scheußlichkeit eindämmen und mildern sollen, immer leicht gebrochen von Menschen, die man dazu gebracht hat, die unnatürliche Rolle des Soldaten zu spielen. Soldaten werden gewöhnlich jung ausgehoben; selbst viele Offiziere sind wenig über zwanzig Jahre alt. „Wehe der Welt um der Ärgernisse willen!“ Krieg ist nicht eines jener Ärgernisse, die unvermeidbar sind. Kriege entstehen durch vorsätzliche Entscheidungen, und daher sollte, wenn das Ärgernis ein Krieg ist, ir doppeltem Maße das Wort gelten: „Wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis entsteht!“ Wehe den Men-

schen mittleren Alters — denn ihre Generation ist an der Macht —, wenn sie unreife Knaben ausschicken, um zu leiden und die Greuel zuzufügen, die dem Kriegführen innewohnen!

„Ich gab ihnen einen braven Jungen, und sie machten einen Mörder aus ihm.“ Das soll Paul Meadlos Mutter gesagt haben über das, was ihr Sohn getan hatte und was ihm angetan worden war. Die Untersuchung und Bestrafung von Greueltaten sollte hinauf und immer weiter hinauf getragen werden, die aufsteigende

Kette der Chargen hinauf bis zur Spitze; aber der Oberkommandierende oder das Staatsoberhaupt ist nicht ein einsamer Verbrecher: seine Schuld wird geteilt von allen seinen Mitbürgern seiner eigenen Generation, die den Krieg verlangt oder gutgeheißen haben, für den die offizielle Verantwortung nun auf den Schultern von Generälen und Politikern liegt.

Abschaffung des Krieges!

Der einzige Weg, die mit dem Krieg verbundenen Greueltaten zu verhindern, besteht darin, den Erz-greuel, den Krieg selbst, abzuschaffen. In den letzten 5000 Jahren hätte dies das erste Geschäft auf der Tagesordnung der Menschheit sein müssen. In unserer Zeit steht das Überleben der Menschheit auf dem Spiel mit dieser schändlich vernachlässigten moralischen Pflicht. In unserer Zeit hat das ungestüme Vorrücken der Technik die traditionellen Regeln der sogenannten „zivilisierten Kriegsführung“ zu Staub und Schmutz zermalmt. Die aus dem 18. Jahrhundert stammende Unterscheidung zwischen kämpfenden Soldaten und nicht-kämpfenden Zivilisten ist abgeschafft worden durch unsere Macht des 20. Jahrhunderts, dank der Technik des Flugwesens Bomben auf Städte fallen zu lassen. Als die baskische Stadt Guernica im Spanischen Bürgerkrieg bombardiert wurde, war die Welt wieder einmal empört, wie sie es gewesen war, als 1914 belgische Zivilisten massakriert wurden. Die Ermordung von Zivilisten durch Bombardierungen — eine Greueltat, in deren Natur es liegt, unterschiedslos zu wjrken — wird heute“ für selbstverständlich, gehalten. Vergiftete Pfeilspitzen und Vergiftung von Brunnen: Wer regt sich darüber noch auf, da wir inzwischen zwei giftige Atombomben auf Japan abgeworfen haben und genug andere auf Lager liegen, um alles Leben auf diesem unseren Planeten auszulöschen? Dumdumgeschosse: was sind sie, verglichen mit den „unpersönlichen“ Bomben und dem Napalm?

Wir haben schon die elfte Stunde hinter uns. Greueltaten wohnen dem Greuel des Kriegs selbst inne. Die Verantwortung für die Untaten von Knaben, die ausgehoben und in Uniformen gesteckt und zu unmenschlichem Tun geschult wurden, sollte jenem Mann, durch welchen das i Ärgernis entsteht“, zur Last gelegt werden, und „jener Mann“ ist die 1 ganze Generation von mittlerem i Alter — eine Generation, die nicht ! in Uniform steckt und nicht ihr : Leben riskiert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung