"Wir schauen viel zu wenig in den Osten"

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"Österreich existiert weitaus länger als seit 1918. Von diesem kulturellen Erbe leben wir. Das macht uns stark und ist die Brücke zu unseren Nachbarländern."

Mitteleuropa zu reflektieren, steht auf der Agenda des ehemaligen Ministers und Vizekanzlers Erhard Busek, seit 1995 Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa -so auch in seinem jüngsten Buch "Mitteleuropa revisited" (2018). Im FURCHE-Gespräch im Rahmen der Interview-Reihe "1914/2014-1918/2018" betont er das kulturelle Erbe der Habsburger Monarchie als Basis für einen verstärkten Austausch in Mitteleuropa, gerade auch im Rahmen der anstehenden EU-Ratspräsidentschaft.

FURCHE: 1918 zerbrachen teils Jahrhunderte bestehende Strukturen und neue geographische wie auch staatsrechtliche Verhältnisse traten an deren Stelle. Dieser Umbruch spiegelte sich auch in der Geschichte Ihrer Familie wider. Was bedeutete 1918 für Ihre Großeltern?

Erhard Busek: Für meinen Großvater war das Jahr 1918 eine Katastrophe, nicht weil er ein Monarchist gewesen wäre -da hatte er eine gewisse Skepsis. Er war als Baupolier bei Fellner &Helmer im Raum der alten Monarchie tätig und musste nun ständig irgendwelche Grenzen überqueren und den Pass herzeigen, was für ihn schrecklich war. Das wurde von ihm als massiver Bruch empfunden und für diese Generation blieb die nachfolgende Welt mehr oder weniger unverständlich.

FURCHE: Im Unterschied zur politischen Ebene hatten die kulturellen Beziehungen in diesem Raum länger Bestand. Die Wiener Moderne wäre ohne die Migration aus allen Teilen der Monarchie, nicht zuletzt auch ohne ihre jüdische Tradition, nicht möglich gewesen. Welche Nachwirkungen hat diese kulturelle Melange?

Busek: Das hat eine ungeheure Nachwirkung! Es muss endlich einmal deutlich gesagt werden, dass die Republik Österreich im November 1918 in einem hohen Ausmaß das Erbe der Monarchie angetreten hat, nicht im politischen, aber gerade im kulturellen Sinn. Das wird viel zu wenig gewürdigt; man beschränkt sich darauf hinzuweisen, dass vor dem Parlament 1918 die Republik ausgerufen wurde. Punkt. Viel zu rasch wird der Blick dann gleich auf das Jahr 1938 geworfen, ohne zu untersuchen, dass der Schock der Auflösung der Monarchie nicht richtig verkraftet wurde. Die Schwierigkeit war, um ein Modewort von heute zu verwenden, dass das Österreich von 1918 eigentlich kein Narrativ hatte. "Autriche, c'est le reste" - Diese zynische Bemerkung von Clemenceau hat natürlich auch das Gefühl beschrieben, dass die Bürger dieses "Restes" empfanden. Dies manifestierte sich auch darin, dass in einigen Bundesländern Abstimmungen über einen Beitritt zur Weimarer Republik stattfanden. Diese Aspekte werden zu wenig behandelt und ich werfe insbesondere der Sozialdemokratie vor, immer behauptet zu haben, Österreich hätte erst 1918 begonnen. Österreich existiert weitaus länger - natürlich unter anderen Umständen. Von diesem kulturellen Erbe leben wir. Das macht uns eigentlich stark und ist auch die Brücke zu unseren Nachbarländern.

FURCHE: Wien um 1900, die Wiener Moderne, war geprägt von einer Melange verschiedenster kultureller Einflüsse. Können wir angesichts unserer heutigen Vielfalt an kulturellen Traditionen etwas von der Zeit vor 100 Jahren lernen?

Busek: Es gab eine gewisse Wiederentdeckung, die mit der berühmten Ausstellung "Wien um 1900" begonnen hat und quasi im "Untergrund" noch vorhanden ist, aber viel zu wenig bewusst. Ich sehe in dieser Frage auch die Arbeit der Universitäten, die diese Aspekte viel zu wenig beleuchtet haben, kritisch und verweise auf Historiker, die den Bezug zu der Verfasstheit Österreichs vor 1918 ungenügend darstellen. Wir sind mit einer gewissen "Verfremdung" dieser Fächer konfrontiert, vor allem durch die starke Berufung deutscher Professoren, denen oft der Bezug fehlt. Schwieriger ist es mit der Pflege jüdischer Kulturtraditionen, weil der "Anschluss" 1938 und dessen Folgen zu deren fast vollständigen Vernichtung geführt haben. Das Jüdische Museum Wien ist vorbildlich bemüht, aber es handelt sich eigentlich nur um Erinnerungskultur und keine aktive Kultur, was aber dringend notwendig wäre. Der große Fehler, den Österreich nach 1945 gemacht hat: Wir haben nie eine Kampagne für die Rückkehr der Emigrierten nach Wien bzw. Österreich gestartet. Dieses Milieu fehlt uns und jetzt ist es zu spät. Was die heutige Situation der Durchmischung durch Migration, die nicht nur in Wien eingetreten ist, betrifft, verweise ich auf die Schlüsselfunktion der Bildungspolitik. Das beginnt mit der Frage gemischter Grundschulklassen und reicht bis zur Lehrer(fort)bildung.

FURCHE: Sie riefen die kulturellen Verflechtungen mit unseren mitteleuropäischen Nachbarn ins Bewusstsein, als noch ein Eiserner Vorhang den Kontinent trennte und es schien, dass über die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme kaum eine Brücke zu schlagen wäre. Was war Ihr Motiv, sich hier zu engagieren?

Busek: Eigentlich unsere Nachbarn. Der Eiserne Vorhang führte in seinen kulturpolitischen Auswirkungen dazu, dass von diesen selbst das Gemeinsame wiederentdeckt wurde. "Mitteleuropa" wurde zu einer Art Metaebene der Verständigung - politisch war man getrennt, abgeschlossen, aber kulturelle G e m e i n s a m ke i te n wurden in einem sehr lebendigen Ausmaß wiederentdeckt, vor allem von Literaten, Wissenschaftlern, Historikern usw. Es trifft mich, dass es nicht gelungen ist, diesen Prozess fortzusetzen. Ich würde mir das weitaus mehr wünschen, nicht nur im Bereich der Kulturpolitik, wo es vielleicht da und dort existiert -etwa im Rahmen der Salzburger Festspiele, manchmal auch bei den Wiener Festwochen. Aber das ist entschieden zu wenig, es gibt weitaus mehr Potenzial! Wir nützen die Geschichte ganz brutal für den Tourismus aus, ohne uns aber der Verantwortung für diese bewusst zu sein.

FURCHE: Mitteleuropa ist in Kommentaren oft dann ein Thema, wenn es um die Visegrád-Länder geht. Was hat "Visegrád" mit Mitteleuropa gemeinsam, wo liegen die Unterschiede?

Busek: Die beiden Begriffe haben gar nichts miteinander zu tun, das muss man in aller Deutlichkeit sagen! Bei aller Sympathie für die Visegrád-Länder: das ist eine Gruppierung, die bestenfalls aus der Gemeinsamkeit des Erlebens des Kommunismus und dessen Folgen kommt, auch aus einer gewissen Spannungssituation zur Europäischen Union. Dieser Staatengruppe wird in den Medien mehr Gemeinsamkeiten zugeschrieben, als es tatsächlich der Fall ist. Es gibt zum Glück den Visegrád-Fonds für kulturelle Angelegenheiten, aber viel mehr ist es nicht.

FURCHE: Welche Initiativen sollte Österreich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft in Bezug auf Mitteleuropa setzen?

Busek: Ich sehe den Schwerpunkt auf der Bildungspolitik. In Wirklichkeit ist es eine Schwäche der EU, dass sie nicht über Bildungskompetenzen verfügt. Gerade die mitteleuropäischen Länder müssten interessiert sein, hier mehr Gemeinsamkeit zu finden. Ich war ein Anhänger davon, österreichische Schulen in unseren Nachbarländern zu errichten; gelungen ist das nur in Prag und auf eine gewisse Weise in Budapest. In dieser Richtung müsste mehr passieren, denn das Bildungspotenzial ist zweifellos vorhanden und die Herausforderung besteht angesichts der Migration noch mehr. Die Regierung muss schließlich auch die Frage beantworten, wofür Österreich in der EU überhaupt stehen will. Diese Antwort wurde nach dem Beitritt versäumt. Wir haben in Österreich eine ganz eigenartige Perspektive, immer nur in den Westen bzw. nach Amerika zu blicken -was sicher notwendig ist -, aber wir schauen viel zu wenig in die Mitte und in den Osten unseres Kontinents. Das wäre angesichts der Veränderungen, die dort bemerkbar sind, aber dringend notwendig.

FURCHE: Es gibt im Rahmen der EU formelle wie informelle Gruppierungen wie den "Club Med", die BENELUX-Gruppe oder die Kooperation der baltischen Staaten mit dem Ziel, gemeinsame Interessen durchzusetzen. Sollte es etwas Ähnliches nicht auch für Mitteleuropa geben?

Busek: Formelle Gruppierungen innerhalb der Europäischen Union halte ich nicht für notwendig. Die BENELUX-Gruppe hat heute auch nicht mehr die Bedeutung wie einst, als sie eigentlich die europäische Integration reformiert hat. Die Kooperation der baltischen Staaten ist inzwischen in der Ostsee-Kooperation aufgegangen, wie das für unseren Raum und auch für die European Union Strategy for the Danube Region (EUSDR) gilt. Das hat am ehesten Ähnlichkeit und setzt auch nicht so enge Grenzen.

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