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Wirtschaftlicher Wiederaufbau in Holland

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Den Haag, Anfang August Holland ist eines jener Länder, die durch den deutschen Einmarsch, durch die fünfjährige Besetzung und durch die Kriegsereignisse der Jahre 1944 und 1945 am meisten gelitten haben. Schon in den Maitagen des Jahres 1940, als die deutschen Armeen die Niederlande ohne vorherige Kriegserklärung überrannten, sind zahlreiche Städte und Dörfer, Siedlungen und Fabriken, Brücken und Hafenanlagen der Furie des Krieges erlegen. Dann kamen die harten Jahre der Besetzung, die Zwangslieferungen von Vieh, von Milchprodukten, von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen an das Deutsche Reich — Lieferungen, die in den letzten Kriegsjahren einen Notzustand in den Niederlanden zur Folge hatten. Auch Maschinen und vollständige Fabrikseinrichtungen wanderten über die Grenze. Immer größer wurde die Not, bis schließlich im Winter 1944/1945 der Hunger in diesem Lande siegte, das niemals einen Hunger gekannt hatte. Die Tragödie des niederländischen Volkes erreichte in diesem eisigen Hungerwinter seinen Höhepunkt, als zehntausende Menschen starben und ein Vielfaches an Menschen kraftlos und unterernährt in den ungeheizten Wohnungen dahinsiechten. Die alliierten Armeen hatten im September 1944 am Moerdijk haltmachen müssen und erst im Frühjahr 1945 ihren Vormarsch nach Norden und Westen fortsetzen können. In diesem halben Jahre sind noch viele holländische Städte und Dörfer der Schauplatz des Krieges gewesen, Orte wie Arnheim, Nimwegen, Wageningen, Breda und andere haben die Zerstörungswut kennen lernen müssen.

Wer heute, mehr als ein Jahr nach der Befreiung der Niederlande, dieses Land durchkreuzt, staunt über die Veränderungen, die sich in dieser Zeitspanne vollzogen haben. Der Hunger ist gewichen. Es wird fleißig gearbeitet. Der Viehbestand ist zwar noch stark vermindert, aber der Gartenbau ist soweit, daß Holland genau so wie früher nicht nur den eigenen Bedarf deckt, sondern auch erheblich exportieren kann. Und im Norden sind riesige Gebiete mit Kartoffeln bebaut, von denen ein großer Teil für den Export bestimmt ist. — Die Kohlengruben in Limburg sind zum Teil in vollem Betrieb und die Förderung beginnt sich der Friedensproduktion zu nähern. Einige der großen Eisenbahn- und Verkehrsbrücken sind wieder hergestellt. Der Eisenbahnverkehr ist im ganzen Lande wieder im Gange und auf den zahlreichen schönen Autobahnen nimmt man einen starken Autoverkehr wahr. Dagegen hat die niederländische Industrie, die von je her auf die Einfuhr von Rohstoffen aus dem Ausland angewiesen war, ihre frühere Höhe noch nicht erreichen können. Einige Betriebe stehen noch still, viele arbeiten noch nicht mit voller Kapazität. Die Einfuhr der Rohstoffe bereitet noch manches Kopfzerbrechen mit Rücksicht auf die schwierige Devisenlage.

Die Niederlande hatten seit jeher eine passive Handelsbilanz, weil dieses Land — das selbst außer Kohle keine Rohstoffe besitzt — auf die Einfuhr von solchen angewiesen ist. Aber auch Industrieprodukte, Fertigwaren, Baumaterial, Holz, Erze, Stahl, Eisen und weiters Lebensmittel, und vor allem Weizen mußten eingeführt werden. Diese stark passive Handelsbilanz konnte jedoch immer ausgeglichen werden durch Einkünfte aus den Hafenbetrieben, durch den Transithandel, den Schiffsverkehr, durch den Zinsendienst und durch die Einkünfte aus den Kolonien, so daß die Zahlungsbilanz durch diesen Ausgleich immer eine sehr aktive war. Heute jedoch sind die Häfen durch den Mangel an Schiffsraum in der ganzen Welt bei weitem nicht voll ausgenützt, kann die holländische Handelsflotte wegen ihrer großen Verluste während des Krieges ihre Aufgabe nur zum Teil erfüllen, heute liegt der Zinsendienst großenteils lahm und die niederländischen Kolonien haben die Schwierigkeiten noch nicht überwunden. Holland leidet daher unter einem Mangel an Devisen, muß den eigenen Export forcieren, muß jeden überflüssigen Import verhindern und wird gezwungen sein, Anleihen aufzunehmen, um die notwendigen Einkäufe im Ausland vornehmen zu können. Die Devisenbewirtschaftung ist in Holland eine sehr strenge, sie erscheint um so strenger, als man hier noch nie mit Devisenproblemen zu kämpfen hatte und solche Bestimmungen etwas Neues darstellen. Der Handel mit dem Ausland wird durch Behörden überwacht und gelenkt, ebenfalls etwas Ungewohntes für ein Land, das immer für den Freihandel eingetreten war und nur zögernd die Einmischung der Staatsgewalt in den Handel vorgenommen hat. Der Handel fügt sich nur widerwillig diesem Zwange und auch die Regierung sähe am liebsten die Zwangsbewirtschaftung aufgehoben. Die Devisenlage der Niederlande ist aber eine derartige, daß eine Lockerung vorläufig unmöglich ist. Mit einigen Ländern wurden bereits Handelsverträge geschlossen, mit den anderen entwickelt sich der Handel auf Basis von Kompensationen, zum Beispiel mit Österreich.

Das Eingreifen der Regierung in die Privatwirtschaft geht in den Niederlanden nur so weit, als es das Interesse des Landes erfordert. Ideologische Momente treten hier noch nicht in den Vordergrund. Eine S o z i a 1 i s i e r u n g von Betrieben wird in den Niederlanden nicht erörtert, es sei denn jene der Kohlengruben, doch diese befindet sich noch im Anfangsstadium.

Die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens, der Wiederaufbau und die Wiedergutmachung der erlittenen Kriegsschäden haben ein Aufsaugen der Arbeitslosigkeit zur Folge gehabt. Es gibt praktisch keine Arbeitslosen mehr in den Niederlanden, es besteht sogar ein Mangel an geistigen und manuellen Arbeitskräften. Die Tagesblätter bringen täglich Reihen von Anzeigen übor offene Stellen in Fabriken und in Büros. Sogar die Hausgehilfinnen sind durch die Wirtschaft aufgenommen worden und es ergibt sich ein für Holland ungewohntes Bild, daß die Haushalte sich ohne Hauspersonal behelfen müssen.

Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß der schwarze Markt einem kleinen Teil der Arbeitsfähigen eine vorübergehende Existenz verschafft und sie dem Arbeitsprozeß entzogen hat. Der Schleichhandel wird in den Niederlanden ebenso bekämpft wie in anderen Ländern, mit ebensoviel oder ebensowenig Erfolg wie anderswo.

Und dann gibt es noch eine stattliche Zahl von Leuten, welche nicht arbeiten, das sind die „NSB-er“, die früheren Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung Musserts, und andere, die sich irgendwie während der Besetzung als SS, als NSKK, als Angeber oder als Treuhänder die Grundlage zu einer Existenz im Dritten Reich, dessen Provinz die Niederlande hätten werden sollen/ legen wollten. Nach der Befreiung der Niederlande wurden diese Leute sofort hinter Schloß und Riegel gesetzt, meist wurden zu diesem Zwecke die früheren deutschen KZ-Lager verwendet, wo allerdings die heutigen Insassen ein viel angenehmeres Leben führen als zur Zeit Seyss-Inquarts. Es waren ihrer nach der Befreiung mehr als 100.000, heute sind es noch etwa 70.000, der Rest ist inzwischen abgeurteilt oder aber freigelassen worden. Diese 70.000 Mann sind eine schwere Betastung für die Staatskasse, und aus diesem Grunde sowie aus menschlichen Erwägungen hat sich die Regierung entschlossen, innerhalb der nächsten zwei Monate weitere Entlassungen der sogenannten „leichteren Fälle“ vorzunehmen, so daß im Oktober dieses Jahres nur mehr etwa 25.000 „schwere Fälle“ die Lager bevölkern werden. Die Rückkehr dieser „leichten Fälle“ io die bürgerliche Gesellschaft ist eine Angelegenheit, die nicht leicht zu lösen sein wird. Die Erfahrung hat gelehrt, daß der Großteil des niederländischen Volkes nicht gewillt ist, ehemalige Nationalsozialisten wieder aufzunehmen. Es sind bereits Fälle vorgekommen, daß solche Rückkehrer nach ihrer Heimkunft erschlagen worden sind, Arbeiter weigern sich, mit diesen Leuten in einem Betrieb zusammenzuarbeiten, in Geschäften werden sie nicht bedient. Es ist nicht zu vergessen, daß für einen Holländer der Weg zum Nazismus viel länger hätte sein .müssen, als etwa für einen Deutschösterreicher. Hier entschuldigt keine schwere Wirtschaftskrise und lange Arbeitslosigkeit und keine nationale Anschlußideologie. Deshalb die Erbitterung der holländischen Bevölkerung gegen die Abtrünnigen. Die Regierung, an deren Spitze der Katholik Dr. Beel steht, will nun versuchen, die Kirche und die Gewerkschaften zur Mitarbeit heranzuziehen, um mit deren Hilfe eine Heimkehr der früheren Nazi zu ermöglichen. Es bleibt noch dahingestellt, ob dieser Versuch gelingen wird. Inzwischen sind bereits Unterhandlungen mit Argentinien angeknüpft worden, um eine Auswanderung der in Holland freigelassenen Nazi dorthin bewilligt zu bekommen. In Argentinien sollen diese ehermligen NSB-er bei der Regulierung des Rio de la Plata eingesetzt werden.

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