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Wirtschaftskommentar I

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Die Zahlungsbilanz, Anfang der sechziger Jahre Liebkind der österreichischen Wirtschaftspolitik, beginnt sich in den Augen mancher Ökonomen in ein Enfant ferrible zu verwandeln. Hatte sie in den Jahren 1961 bis 1964 einen Überschuh von insgesamt mehr als 14 Milliarden Schilling erbracht, wurde sie 1965 plötzlich mit mehr als zwei Milliarden Schilling passiv; das lief) selbst Insider aufhorchen. Man beeilte sich zu versichern, die Zahlungsbilanz sei nur temporär passiv (so noch zu lesen in Heft 6 der Monatsberichte des österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung), in Wahrheit könne dies nicht als Symptom der „englischen Krankheit" aulgelaßt werden. Nun stellen sich die Ergebnisse des ersten Halbjahres 1966 allerdings doch als Schaffen auf dem Röntgenschirm des Diagnostikers dar, die nicht mehr mit einem oberflächlichen Kommentar abgetan werden können. In den letzten Monaten hat sich herumgesprochen, dafj die österreichische Zahlungsbilanz nicht mehr die goldene Gans von früher ist, aut deren eifrige Legetätigkeit man getrost bauen durfte.

Ein hohes Aktivum der Zahlungsbilanz ist allerdings keineswegs ohne Vorbehalte wünschenswert. Mit Recht hatten sich einige chronische Überschußländer, darunter die Bundesrepublik Deutschland und Österreich, über den Zufluß an Liquidität beklagt, der durch die Hintertür der „importierten Inflation" das ohnehin ächzende inländische Preisgefüge noch stärker belastete. Schon Anfang der sechziger Jahre gab es daher — recht einsame — Rufer in der Wüste, die Zweifel hegten, ob die von der österreichischen Nationalbank angehäuften Gold- und Devisenschätze nicht einem sinnlosen Horten im Sparstrumpf gleichkämen.

Die Passivierung der Zahlung bilanz hat Hand in Hand mit einer von der Notenbank ziemlich konsequent betriebenen Restriktionspolitik, die erst in letzter Zeit etwas gemildert wurde, nunmehr das Finanzierungspendel in die andere Richtung ausschlagen lassen. Man kann — wie Staatssekretär Taus beim Alpbacher Wirtschaftsgespräch feststeilte — nicht leugnen, dafj in einem gewinn- gesteuerten Wirtschaftssystem durch eine Resfriktionspolifik die „Intensität der Wirtschaftstätigkeit" schlechthin verändert wird. Auch die Gewinne der Wachstumsbranchen werden durch eine solche Abschwächung vermindert, denn die Summe der Gewinne und Verluste in der Volkswirtschaft ist eben nicht konstant. Somit entpuppt sich die Restriktionspolitik als Kuckucksei, wenn statt der Preise die Gewinne getroffen und durch einen Prozeß der Selbsfverstärkung Wachsfumsverlangsamungen (oder gar ein Schrumpfungsprozeß) ausgelöst werden, die einer Kontrolle von oben nicht mehr zugänglich sind. Professor Karnitz wartete in seiner Entgegnung auf die Taussche Expansionsattacke unter anderem mit der Zahlungsbilanzenfwicklung auf: Aut die Dauer gebe es keinen Dritten, der die Zahlungsbilanzabgänge bezahlt; je länger man mit Korrekturmaßnahmen zuwarte, desto drastischer müßten sie sein, überdies treffe die Restriktion vor allem die schwächeren Branchen; sie begünstige daher die Umleitung der Produktionsfaktoren von schwachen in starke Branchen und Betriebe. Die Erfahrung zeigt aber, daß eine (zahlungsbilanzorientierte) Bremsungs- polifik die Banken auch daran hindert, jene Unternehmen mit Krediten zu versorgen, deren Wachstums(Ge- winn-)chancen günstig sind.

Wirtschaffswachstum und Zahlungsbilanz stehen in einem Zusammenhang, der selten richtig gewürdigt wird. Man klammert sich an ein Stabilifätsdenken, dessen Prämissen in verflochtenen' Volkswirtschaften längst zu Staub zerfallen sind. Die Chance, den Wachstumsvorsprung der Konkurrenzländer aufzuholen, liegt heute nicht mehr darin allein, sich möglichst weitgehend von der weltweiten Inflation auszuschließen: Kleine Staaten mit starker Außenhandelsverflechtung wie Österreich („Konjunkturnehmer") stehen dabei von vornherein auf verlorenem Posten. Wenn im Inland — aus strukturellen und anderen Gründen — keine Kapazitätsreserven mobil gemacht werden können, um eine überbordende Konsumlast zu befriedigen, muß man die Zeche über die Zahlungsbilanz bezahlen. Natürlich sind die Zusammenhänge nicht so einfach; die Wechselwirkungen zwischen den ins Spiel kommenden Variablen erfordern eine umfassende und minuziöse Analyse. Immerhin läßt sich ein Grundgedanke herausschälen: Man kann den Passivsaldo der Zahlungsbilanz „produktiv" oder „unproduktiv" verwenden. Tut man letzteres, vermindert man die Wachs- fumsimpulse und schafft überdies einen Wohlsfandsbauch auf Kredit, der doch einmal wieder — mit Leistungen! — abgezahlt werden muß. Meist wird durch eine passive Handels- und Leistungsbilanz auch der Kapitalverkehr in Mitleidenschaft gezogen. Wenn die Importe kein zusätzliches Wachstum auslösen — also hauptsächlich aus Konsumgütern bestehen —, dann gerät man nur allzu leicht in den Verdacht, „über seine Verhältnisse zu leben".

Die Ergebnisse der österreichischen Zahlungsbilanz im ersten Halbjahr weisen leider Symptome einer Entwicklung auf, die leicht einer chronisch werdenden Krankheit zugeschrieben werden könnten. Die Abnahme der Währungsreserven Österreichs betrug in den ersten sechs Monaten 1,26 Milliarden Schilling, während sich im gleichen Zeitraum der beiden Vorjahre noch Zunahmen von 193 Millionen Schilling und 1,79 Milliarden Schilling ergeben hatten. Schuld daran war in erster Linie das Defizit der Handelsbilanz, das im Vergleich zum ersten Halbjahr 1965 um fast 50 Prozent (I) auf 9,23 Milliarden Schilling anschwoll. Dagegen stagnierten die Einnahmen aus der Dienstleistungsbilanz (die traditionellen Ausgleichsposten) wie schon in den Jahren zuvor, vor allem weil sich die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr kaum noch erhöhen ließen. Nicht unschuldig daran war die zunehmende Neigung der Österreicher, ihren Urlaub im Ausland zu verbringen. Als Korrektur dieser Ziffern muß allerdings der positive Saldo der sogenannten statistischen Differenz von zwei Milliarden Schilling gesehen werden, die vor allem das Auseinanderfallen der Güterströme und der effektiven Zahlungen widerspiegelt. (Die Handelsbilanz fußt auf der Statistik des Warenverkehrs, wogegen die Währungsreserven natürlich nur von den Zahlungen betroffen werden.)

Die Importneigung der österreichischen Wirtschaft hat die Exportneigung sichtlich überflügelt: Die Einfuhren nahmen von Jänner bis Juni um 17,5 Prozent, die Ausfuhren jedoch nur um 7,3 Prozent zu. Allein die Einfuhr von Nahrungsmitteln wies gegenüber dem Vorjahr eine Erhöhung um 26,1 Prozent aut, wenngleich man diese Ziffer nicht allein den österreichischen Gourmets, sondern auch den schlechten Ernteergebnissen des Vorjahres zuschreiben muß. Die Netfoergebnisse der Dienstleistungsbilanz hingegen stiegen lediglich um 6 Prozent, gegenüber 13 und 24 Prozent in den Jahren vorher. Im langfristigen Kapitalverkehr mußte ein Abgang von 852 Millionen Schilling hingenommen werden, der hauptsächlich durch die verstärkte Kreditgewährung an das Ausland verursacht wurde. Dabei schlugen besonders höhere Exportförde- rungskredife zu Buch: Die verschärfte Konkurrenz auf den ausländischen Märkten macht sich nunmehr nicht nur in gesteigerten Qualitätsansprüchen, sondern auch auf der Finanzierungsseite bemerkbar. Der kurzfristige Kapitalverkehr erbrachte einen Überschuß von 1,07 Milliarden Schilling; im ersten Halbjahr 1965 waren es nur 370 Millionen Schilling. Die Wirtschaft war heuer in verstärktem Maße gezwungen, kurzfristige Auslandskredife (800 Millionen Schilling) autzunehmen, weil die inländische Krediterteilungsreserve ziemlich ausgeschöpft war. Dem Kreditapparat selbst blieb nichts anderes übrig, als sich im Ausland zu verschulden. Die Liquiditäfsverknap- pung im Inland führte zu einer Wandlung der Auslandsposifion von einem Forderungsüberhang von 753 Millionen Schilling zum Medio des Vorjahres in einen Passivsaldo von 2,12 Milliarden Schilling Mitte dieses Jahres.

Wie weif eine Mißachtung des Zusammenhangs zwischen Zahlungsbilanz und wirtschaftlicher Entwicklung im Inland führen kann, hat das Beispiel Großbritanniens gezeigt. Ohne für Österreich eine analoge Diagnose stellen zu wollen und daher die gleiche Therapie verordnen zu müssen, sollte der Zahlungsbilanz als Indikator der Stellung Österreichs in der Weltwirtschaft doch ernste Beachtung geschenkt werden. Die Halbjahresergebnisse lassen für 1966 ein Gesamtdefizit von drei bis vier Milliarden Schilling erwarten, vielleicht sogar etwas mehr, wenn ähnliche Überraschungen eintreten wie im Herbst des Vorjahres. Es ist kaum anzunehmen, daß jemand in Österreich Mut (und Macht!) zu einer Deflafionspolitik ä la Wilson besäße. Und wenn'— wahrscheinlich wäre das der Ruin der politischen und wirtschaftlichen Illusionen, in denen sich Österreich seit dem zweiten Weltkrieg (bisher ungestraft) wiegen durfte. Sollte die Zahlungsbilanz das Menetekel der österreichischen Wirtschaft sein?

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