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Wohin gehst du, Japan?

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Nach Berichten zuverlässiger Gewährsmänner führen jetzt die Rückschläge im Vietnamkrieg und ihre politischen Auswirkungen in den USA zu nichtöffentlichen Beratungen führender Japaner über bevorstehende Kursänderungen in der japanischen Wirtschaftspolitik und der japanischen Beziehungen zu den Weltmächten, Sie erfolgen im Rahmen wachsender Zweifel an der Wirksamkeit der amerikanischen Abschreckung gegenüber Rotchina unterhalb der nuklearen Schwelle und den hinter den Kulissen geäußerten Wünschen nach einer eigenen japanischen Aufrüstung, die mit Erwägungen über die wirtschaftlichen Folgen eines eventuellen Friedensschlusses in Vietnam für die japanische Wirtschaft in Verbindung stehen. Ein führendes japanisches Wirtschaftsforschungsinstitut (Nomura) schätzt, daß schon im ersten Jahr nach einem solchen Friedensschluß Japan einen Einnahmeausfall von fünf bis sechs Milliarden Schweizer Franken erleiden werde. Denn der Krieg habe es der japanischen Wirtschaft ermöglicht, direkt und indirekt große Mengen von Stahl, Mannschaftsausrüstungen, Munition usw. für diesen Krieg zu liefern, ganz abgesehen von den beträchtlichen zusätzlichen Einnahmen einschließlich des Ertrages vieler Überholungen in Vietnam beschädigter Flugzeuge, Schiffe und dank der laufenden Lieferung anderen teuren Kriegsmaterials.

Der Schatten von Hiroshima

Bei den Planungen zur Aufstellung eigener: Streitkräfte, deren Aufstellung absatzsteigernd sein würde, hätten es japanische Politiker und Wirtschaftsleute nicht leicht. Der gläubige Nationalismus des früheren Japan hat insbesondere bei der heran wachsenden Jugend keine Zugkraft. Japan war das einzige Land, das die furchtbaren Folgen von Atombombenabwürfen am eigenen Leib erlebte, so daß alles, was mit Waffen und Krieg zusammenhängt, bei vielen Japanern einen geradezu neurotischen Abwehrmechanismus in Gang setzt. Anderseits hat aber das japanische Volk, das Volk der Samurai und Selbstmordflieger, den furchtbaren Schock der totalen Niederlage im zweiten Weltkrieg bis heute noch nicht verwunden. Bewußt oder unbewußt fühlen viele Japaner eine Berufung zu einer neuen politischen, ja manchmal sogar geistigen Führungsrolle in der Welt, obwohl mehrere Jahrzehnte verflossen sind, seit ein japanischer Außenminister — ohne damals der Lächerlichkeit zu verfallen — allen Ernstes das Programm einer japanischen Welteroberung Verkündete, das. die progressive Eroberung ganz Ostasiens einschließlich Sibiriens, ganz Chinas, Australiens, der Philippinen, Indonesiens, und in weiterem Verlauf auch Burmas, Indiens und ganz Asiens mit dem Ausblick auf die schließliche Erringung der japanischen Weltherrschaft beinhaltete.

Im Herzen japanisch

Sogar Japaner sind sich einer gewissen Irrationalität im eigentlichen Wesen ihrer Landsleute bewußt, der die Erfahrungen der Nachkriegszeit weiteren Auftrieb gegeben haben. Bei der japanischen Jugend begann die Nachkriegszeit mit der verzweifelten Suche nach etwas Nahrung, der Abhängigkeit von verbotenen Schwarzmärkten usw., also mit einer verkappten Auflehnung gegen den früher als geradezu göttlich angesehenen Staatsapparat. Zumindest oberflächlich hat sich die junge Generation zwar der Technisierung und Vermaterialisierung des heutigen Menschen zugewandt, bleibt aber trotzdem im Herzen „japanisch”. Der gleiche junge Mann, der seine materialistische Einstellung zur Schau trägt, verrichtet auch heute noch manchmal seine Gebete vor irgendeinem Hausaltar oder schließt sich einer der vielen Nachkriegssekten an, die oft großen Zulauf haben und gelegentlich als „religiöse Modeerscheinungen” bezeichnet worden sind.

Auch scharfsinnige Beobachter sind kaum imstande, zum Beispiel die unheimlich schnelle Zunahme der Anhängerzahlen der großen Sekte Soka Gakkai in überzeugender Weise zu erklären. Ihre aggressive Technik der Missionierung — das „shakubuku” — ist sehr wirkungsvoll, doch vermag auch diese große Dynamik den enormen und andauernden Zuwachs der Zahl ihrer Anhänger nicht zu erklären. Andere wieder schreiben ihn der durch den Anschluß an die Soka Gakkai herbeigeführten zielbewußten Überwindung des Gefühls der Einsamkeit zu, das im Zuge der Technisierung viele Japaner ergriffen hat. Der Anschluß an eine eindrucksvoll aus- gebaute Massenbewegung, wie die Soka Gakkai, bietet nach dieser Erklärung dem einzelnen ein Gefühl der Geborgenheit und die Möglichkeit, der ihn bedrückenden Einsamkeit zu entfliehen.

Religion und Politik

In relativ kurzer Zeit sind in Japan zahlreiche neue Religionen und Sekten entstanden. Aus christlicher Sicht ist die Tatsache besonders bemerkenswert, daß der Gottesbegriff mehrerer japanischer Nachkriegsreligionen, wie etwa der Rissho-Kosei-Kai, den christlichen Auffassungen nicht unähnlich ist.

Die meisten dieser neuen Bewegungen sind Missionsbewegungen. Die zahlenmäßig größte, die Soka Gakkai, mit ihren etwa fünfzehn Millionen Anhängern entfaltet auch eine rege politische Tätigkeit. Sie folgt den Lehren des japanischen Heiligen Nitschiren, der im dreizehnten Jahrhundert Religion und Politik verknüpfte. Er wollte Japan in ein „heiliges Land” verwandeln, von dem die Einigung der gesamten Menschheit ausgehen sollte. Die Verwirklichung seiner Gedankengänge durch die Soka Gakkai mündet großenteils in das praktischpolitische. Nach Bemerkungen ihr feindlich gegenüberstehender Kreise, zu denen vor allem japanische und nichtjapanische Kommunisten gehören, „verschleiern ihre Versprechungen nur notdürftig einen radikalen Nationalismus”. Überdies sei ihre Organisation derart, daß man ihr „leicht bei —, doch aus ihr nur schwer austreten kann”, denn es herrsche in ihr eine eiserne Disziplin. Nach der Ansicht anscheinend objektiv Urteilender propagiert die Soka Gakkai „ein kosmisch begründetes nationales Denken”. Nur wenn das japanische Volk und die Welt ihre Lehren praktiziere, so behauptet sie, könne der Weltfrieden und das Glück des einzelnen verwirklicht werden. Eine andere bedeutende neue Sekte auf japanischem Boden ist die Rissho-Kosei-Kai, deren Präsident als eingeladener Gast der katholischen Kirche heim Zweiten Vatikanischen Konzil anwesend war. Sie wurde vor mehr als zwanzig Jahren von etwa 25 Menschen ohne beträchtliche Geldmittel und ohne Macht ins Leben gerufen. Ihre Anhängerzahl beträgt heute bereits etwa drei Millionen. Auch sie stützt sich in mancher Hinsicht auf die Schriften Nitschirens, wenn sie auch gewisse Stellen etwas anders interpretiert als die obenerwähnte Soka Gakkai.

Handel — Wandel

Bei der Beurteilung des neuen Kurses, der führenden Japanern vorschwebt, ist es zweifellos ratsam, auch geistige und religiöse Momente gebührend zu berücksichtigen.

Aber auch das soeben abgeschlossene Handelsabkommen mit Peking steht im Zeichen dieses neuen Kurses und ist in mancher Hinsicht sehr erstaunlich, da es eine unerwartete Neuorientierung der japanischen Haltung Rotchina gegenüber andeutet. Rotchina hat bei diesen Verhandlungen die Bedingung gestellt, daß Japan auf seine ganze Jahre hindurch beibehaltene Politik des seikei-bunri (Trennung von Politik und Wirtschaft) verzichte und außerdem die manchen Amerikanern vorschwebende „These der beiden China” (Anerkennung sowohl Pekings wie Formosas) ausdrücklich negiere. Japan hat unerwarteterweise diesen beiden wichtigen Bedingungen zugestimmt. Es ist übrigens bezeichnend, daß jede japanisch-rotchinesische Annäherung der Sowjetunion womöglich noch mehr Unbehagen bereitet als den USA. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang, daß zum Beispiel eine seinerzeitige Äußerung eines japanischen Premierministerkandidaten über Annäherungschancen zwischen Japan und China, „zweier Länder mit gleicher Hautfarbe und gleichem Schriftsystem”, von sowjetischer Seite sogleich als „Ausdrude eines verwerflichen asiatischen Rassismus, die Welt in Gelbe, Schwarze und Weiße zu teilen”, bezeichnet Wurde.

Die japanische Staatsführung bemüht sich, das Land zwischen den gefährlichen Klippen der derzeitigen Weltentwicklung hindurchzusteuern, während der Durchschnittsjapaner zwischen zumindest im Unterbewußtsein verankerten traditionellen Bindungen und einer neuen Zeit hin- und hergerissen wird. Auch ihn erfüllen Furcht und Lebensangst und das Gefühl zunehmender Vermassung. Auch in Japan fühlt man das Bedürfnis einer echten geistigreligiösen Neuordnung.

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