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Wohin steuert Finnland?

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Seit dem Kriegsende haben die Finnen nicht weniger als 18 Regierungen in das klassizistische Reichstagsgebäude in der Hauptstadt ein- und wieder ausziehen sehen. In dieser Zeit hat sich bereits eine gewisse Tradition der Regierungskrise gebildet: die Finnlandexperten in Skandinavien wissen einige sichere Anzeichen einer bevorstehenden Krise zu nennen. Sollten sie recht behalten, so wäre spätestens bis zum Herbst dieses Jahres mit einem erneuten Regierungswechsel in Finnland zu rechnen. Und in der Tat besteht kein Grund, die erneut aufziehenden Gewitterwolken am politischen Himmel Helsinkis zu leugnen. Der mächtige Nikiu Chruschtschow ließ es sich nicht nehmen, unlängst höchstpersönlich durch sein Moskauer Sprachrohr, die „Prawda“, in die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Finnland einzugreifen. In einem Interview mit dem Blatt beschuldigte er erneut die „Kriegsverbrecher“ Tanner und Leskinen, beide prominente Führer der finnischen Sozialdemokratie, die friedliche Koexistenzpolitik empfindlich zu stören. Nach wie vor sieht der Kreml in diesen beiden Gestalten die hartnäckigsten Gegner der Sowjetunion. Dies wird erklärlich, wenn man weiß, daß sich die beiden Sozialistepführer bis heute mit aller Entschiedenheit dagegen gewehrt haben, die Volksfrontpläne der finnischen Kommunisten auch nur andeutungsweise zu unterstützen. Weitere Anzeichen der bevorstehenden Krise sind die sich auffällig häufenden Empfänge in Kekkonnens Präsidentenpalais, die fieberhaften Anstrengungen des Minoritätskabinetts Sukselainen, die Regierungsbasis zu erweitern, und — last not least — die verstärkte Propagandatätigkeit der kommunistischen Partei in Finnland. Die unter den Journalisten üblichen „Wetten“ erreichten einen Höhepunkt, als im Informationszentrum der Presse bekannt wurde, daß „Finnlands König“ erneut im Reichstaggebäude aufgetaucht sei. Der Skurrilität halber sei er erwähnt: „Finnlands König“, ein politischer Wirrkopf im abgeschabten Cut, der versichert, er werde die britische Prinzessin gang bewahren, pflegt regelmäßig in politischen Krisenzeiten als Unglücksbote zu erscheinen. Der „Todesbote der Regierung“ ist also erneut gesichtet worden. Seitdem sind sich die Vertreter der Weltpresse in Helsinki einig, daß die Tage des Kabinetts gezählt sind.

Wohin steuert Finnland? Seit 1945 beunruhigt die Entwicklung „Suomis“ den gesamten europäischen Norden. Das kleine Land der 4,3 Millionen Einwohner, mit mehr als 1300 Kilometer quasi offener Ostgrenze unmittelbarer Nachbar des Sowjetreiches, sorgt ständig dafür, daß man in Kopenhagen, Oslo und Stockholm über die Vor- und Nachteile der Neutralität diskutiert. Der Grundstein für diese Entwicklung wurde im sowjetisch-finnischen Friedensvertrag 1945 gelegt. Finnland verlor mit dem Verlust des Krieges Ostkarelien, 400.000 Finnen, faktisch die gesamte Bevölkerung dieses Gebietes, flohen in den Westen. Zwar hielten sich die russischen Reparationsleistungen im Rahmen des Möglichen, doch wurde die sehr komplizierte Wirtschaftsstruktur des Landes auf Jahre hinaus schwerstens belastet. Finnland mußte ferner „für alle Zeit“ auf eine effektive eigene Verteidigung verzichten. Die heute bestehende Armee, nur mit einigen veralteten Flugzeugen ausgerüstet, ohne Panzer, U-Boote, schwere Bewaffnung oder Kriegsschiffe, darf auf Weisung des Kremls nicht einmal ihre Manöver gegen Osten richten. Militärexperten sind sich darüber einig, daß die Sowjetunion innerhalb von 24 Stunden das gesamte finnische Territorium annektieren könnte.

Unter diesen Aspekten gelangte Finnlands „großer alter Mann“ Präsident Paasikivi an die Macht. Er gilt als Begründer der „Paasikivi- Linie“, die, heute von Staatspräsident Kekkonen fortgeführt, ein möglichst freundschaftliches Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn im Osten garantieren soll. Diese „praktizierte Koexistenzpolitik“, vom Kreml gern als Muster des Zusammenlebens zweier Länder mit verschiedenen Wirtschaftssystemen bezeichnet, funktionierte jedoch nicht reibungslos. 1948 versuchte Stalin, das „Land der tausend Seen“ gewaltsam hinter den eisernen Vorhang zu ziehen. Während die gesamte politische Prominenz Finnlands zu einem „Freundschaftsbesuch“ in Moskau weilte, war der kommunistische Innenminister Leino beauftragt, den kalten Staatsstreich nach dem Muster Prags zu organisieren. Während die Aktion unter der Führung der kommunistisch unterwanderten Polizei bereits anlief, kamen Leino Bedenken: Er verriet den Plan an die Armee, die in letzter Minute eine Katastrophe verhindern konnte. Seitdem ist Leino von seinen Parteifreunden in die Wälder des Nordens „verbannt“. Die kommunistischen sogenannten „Volksdemokraten“ wählten Hertta Kuusinen (die geschiedene Gattin des „Verräters“ Leino) an die Spitze. Hertta Kuusinen ist vielleicht das beste Beispiel der engen Zusammenarbeit zwischen den finnischen Kommunisten und Moskau: ihr Vater, Otto Kuusinen, nimmt seit jenem mißlungenen Staatsstreich in Moskau einen hohen Führungsposten ein. Seit dem Jahre 1948 begegnet der KP Finnlands ein tiefgehendes Mißtrauen, bis heute haben es alle demokratischen Parteien abgelehnt, mit den Volksdemokraten im Parlament zusammenzuarbeiten. Trotzdem hat sich ihr Druck in den letzten Jahren beunruhigend verstärkt. Noch einmal, Ende des Jahres 1958, ließen die Kommunisten ihre Maske fallen. Aus den Sommerwahlen waren sie als stärkste Fraktion hervorgegangen, mit 50 von 200 Reichstagsmandaten besiegten sie die Kleinbauernpartei der Agrarier mit zwei Stimmen. Doch die demokratischen Parteien waren nicht gewillt, ihnen die Regierungsgeschäfte zu überlassen. Der Sozialdemokrat K. A. Fagerholm sammelte alle politischen Gruppen von den Konservativen der Samlingspartei über die schwedische und finnische Volkspartei bis hin zu den „gemäßigt linken“ Agrariern zu einem Kabinett. Die Kommunisten und mit ihnen die Radikalsozialisten unter Simonen (die 13 Abgeordneten des abgesplitterten linken Flügels der Sozialdemokratie) wurden in die Opposition gedrängt. Die daraufhin einsetzenden Maßnahmen Moskaus waren massiv: Moskau berief seinen Finnlandbotschafter über Nacht ab. Die Verträge über die gemeinsame Nutzung des Saimaakanals und über die Fischereirechte in Grenzgewässern wurden nicht unterzeichnet, sämtliche Wirtschaftsverhandlungen froren innerhalb von einer Woche ein, die bereits angekündigte 400-Millionen-Rubel-An- leihe der-TIdSSR für-Finnland1-Wurde gestrichen und der gesamte Ostblock sperrte den Import'

und Export mit Finnland. Die Wirtschaft erhielt einen Rückschlag, der bis heute noch nicht überwunden ist. Da Finnland zu diesem Zeitpunkt 30 Prozent des gesamten Außenhandels mit Ostblockstaaten abwickelte, waren die Maßnahmen des Kreml bis in die kleinen Industriestädte des Nordens spürbar. Die Werften und Metallfabriken, bis zu 80 Prozent auf die Bedürfnisse der Ostblockländer abgestellt, mußten Massenentlassungen vornehmen: Binnen wenigen Wochen schnellte die Zahl der Arbeitslosen nahe an die 100.000-Grenze. Gleichgeschaltet mit dieser Entwicklung entwickelte die KP Finnlands eine Kampagne ohne Maß und Ziel. Selbst der loyale Staatspräsident sah sich in diesen Tagen gezwungen, aus Gründen der Staatssicherheit die Polizeikräfte zu alarmieren. Wieder einmal schien Finnland „reif" für den Status eines gefügigen Satelliten: die demokratische Regierungskoalition unter Fagerholm zerbrach und wurde zum Rücktritt gezwungen.

In kluger und geschickter Manier hat es Staatspräsident Kekkonen damals verstanden, einen Ausgleich mit Moskau zu finden: freilich blieben wieder einmal einige der im Westen selbstverständlichen Privilegien der Demokratie auf der Strecke. Kekkonen sah sich gezwungen, mit „sanften Druckmaßnahmen“ die Presse zurückzupfeifen, außerdem verbot er eine Reihe von „antisowjetischen“ Büchern und Filmen. Immerhin gelang ihm das Kunststück, die Krise in einem persönlichen Gedankenaustausch mit Chruschtschow in Leningrad beizulegen, ohne daß der Kreml auf die Beteiligung der Kommunisten an Finnlands neuer Regierung bestand. Nachdem sämtliche Koalitionsmöglichkeiten in Helsinki gescheitert waren, zog die Einparteienregierung der Agrarier unter Sukselainen in das Regierungsgebäude ein. Ein Minoritätskabinett, das — als lebendiger Kompromiß — auf die Stimmen der Linken wie Rechten gleichermaßen angewiesen ist.

In den vergangenen Wochen häuften sich nun erneut die Krisenzeichen in Helsinki. Erneut taucht die Frage auf: Wohin steuert Finnland? Ungewißheit und Zweifel herrschen in den demokratischen Parteien vor. Die politischen Führer in Finnland scheinen sich nur in einer Sache klar zu sein: Unter keinen Bedingungen soll die kommunistische Partei an den Regierungsgeschäften beteiligt werden. Demgegenüber steht die ständige Drohung des übermächtig starken Nachbarn im Osten, der keine Sammlung- der demokratischen Parteien mehr dulden-wird.

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