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Wohin, Suomi?

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Es gibt kaum ein europäisches Land, über dessen Situation und Probleme man so weit auseinandergehende Ansichten hören kann wie über Finnland. Das kleine Land ist zu einem großen Teil vom sowjetischen Territorium umgeben; die Ausfahrt von Helsinki liegt nahezu in Sichtweite der Russen; nach dem verlorenen Krieg mußte das Land erst weite Bereiche seiner Wirtschaft den Bedürfnissen Rußlands anpassen und dann einen Freundschaftsund Beistandspakt abschließen, der es in kritischen Zeiten an die Seite Rußlands stellt. Ein Land in einer solchen Position muß anders gesteuert werden wie etwa das gleichgroße Hollan'd. Dazu kommt noch, daß aus der Vergangenheit herüberragende Belastungen auf Schritt und Tritt spürbar sind und in Krisenzeiten erneut gefährliche Aktualität gewinnen.

Als Weiteres kommt hinzu, daß die finnische Linke vielfach gespalten ist und die einzelnen Fraktionen in einen selbstmörderischen, oft von Haß erfüllten Kampf gegeneinander verwickelt sind. Eine Schlüsselposition hat dabei die Mehrheitsgruppe der Sozialdemokratischen Partei inne, deren bekannteste Führer Väinö Tanner und Leskinen sind und der auch der sehr bekannte und geachtete ehemalige Premierminister und Parlamentspräsident Karl August F a g e r-h o 1 m angehört.

Verheerendes Streikfieber

Finnlands Wirtschaft wird Jahr für Jahr von schweren Lohnkämpfen erschüttert. Alljährlich gehen Hunderttausende von Arbeitsstunden durch Ausstände verloren. Anfang März 1963 streikten 80.000 Staatsbeamte aus fast allen Teilen der öffentlichen Verwaltung. Die Züge verkehrten nicht, die Post wurde nicht ausgetragen, Lebensmittellieferungen verkamen, ankommende Waren wurden nicht verzollt. Außer 13.000 Bauarbeitern streikten in einigen Häfen die Transportarbeiter, die Eisbrecherbesatzungen drohten neuerlich mit Streik, ebenso die Vorarbeiter in den Wäldern, die Seemanns-Union, die Lebensmittelindustrie, Teile der Textilindustrie und die Gemeindeangestellten von Helsinki und Äbo. Dabei ist diese Liste nicht vollständig, und außerdem muß in Rechnung gestellt werden, daß gerade einige lähmende Streiks, so die der Straßenbahner in Helsinki und der Bankbeamten, beendet worden waren. Wie läßt sich dieser soziale und politische Fieberzustand erklären?

In den Nachkriegsjahren hat Finnland seine Industrie rasch ausgebaut. Hatte man früher nicht mehr als das Holz und die Produkte der Holzveredlungsindustrie, so schuf man sich nun — durch die Schadenersatzansprüche der Sowjetunion dazu gezwungen — eine leistungsfähige Maschinenindustrie, eine Schiffbauindu-strie, Eisenhütten und Kupferwerke und eine elektrotechnische Industrie von beachtlicher Kapazität. Der große Abnehmer war die Sowjetunion, im Zuge der Aufwärtsentwicklung gewann jedoch der Handel mit den Westländern immer größere Bedeutung. Aber die Investitionen verlangten viel Geld und konnten nur durch Entbehrungen des eigenen Volkes durchgeführt werden, denn wer im Westen wollte schon dem kleinen Finnland Investitionskapital zur Verfügung stellen? So blieb das Realeinkommen weit hinter dem Stand in den anderen skandinavischen Ländern zurück und liegt auch heute noch um etwa 35 bis 40 Prozent unter dem Niveau Schwedens.

Die in Finnland immer noch sehr starken Klassengegensätze — in Schweden und Norwegen kaum noch erkennbar — begünstigten radikale Strömungen und führten zu zahlreichen Lohnkämpfen. Allein im Jahre 1956 verlor man sieben Millionen Arbeitsstunden durch Streiks 1 Von 1953 bis 1961 stiegen die Löhne um insgesamt 61 Prozent, die Preise im Einzelhandel aber stiegen um 46 Prozent. Der tatsächliche Gewinn betrug nur 15 Prozent in acht Jahren. Die soziale Unruhe ist also begreiflich. In einem vielbeachteten Vortrag sagte selbst Präsident Kekkonen vor kurzem, daß ohne eine größere Rücksichtnahme der Gutsituierten auf die Schlechtergestellten keine Lösung der sozialen Frage in Finnland möglich sei. Während in allen Nachbarländern die Konturen der Klassengegensätze verschwimmen, sind sie in Finnland oft noch messerscharf erkennbar. Das ist eine Tatsache, die bei allen Beurteilungen auch der politischen Spannungen beachtet werden muß.

Das Gewicht der Tradition

Ein weiterer Punkt ist das Gewicht des historischen Bewußtseins. Die Vergangenheit ist merkwürdig lebendig geblieben. Der Bürgerkrieg, die Lappo-bewegung, die großfinnischen Bestrebungen, die Verfolgung der ersten Arbeiterorganisationen, die blutige Rache der Sieger in den innerpolitischen Kämpfen — alles das weiß man und fühlt man noch. In den Randgebieten des Landes leben viele Menschen noch ein sehr ärmliches proletarisches Dasein. Die Not und. das politische Erlebnis füllen die Kader der „Volksdemokratien“, die im Parlament 47 Mandate besitzen. Und Finnlands nun international anerkannter großer Arbeiterdichter Väinö L i n n a nennt seinen großen Roman des arbeitenden Volkes in den tiefen Wäldern zwischen den tausend Seen „Wacht auf, Verdammte dieser Erdel“. Es ist der „Pelle, der Eroberer“ Finnlands, aber er kam fast ein halbes Jahrhundert nach seinem dänischen Vorgänger!

Die „Volksdemokraten“ Finnlands sind in keiner Weise den politisch überzeugten und taktisch geschliffenen Kbmitiunisten Mitteleuropas gleichzusetzen; es sind meist unzufriedene arme Menschen, die ihren Protest durch die Wahl der volksdemokratischen Kandidaten dokumentieren. Daß die Führungsspitze der Partei ihre klar kommunistischen Ziele hat, braucht dagegen kaum bezweifelt zu werden. Interessant ist, daß die Partei in jenen Gebieten, die einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben — oft gerade durch die großen Lieferungen an die Sowjetunion —, auffallend an Einfluß verloren hat und bei der letzten Wahl auch drei Parlamentsmandate einbüßte.

Spaltung auf der Linken

Der folgenschwerste politische Gegensatz besteht jedoch keineswegs zwischen den Volksdemokraten auf der einen und den demokratischen Parteien auf der anderen Seite, sondern im sozialdemokratischen Lager. Es gab hier immer einen rechten und einen linken Flügel. Bei der vorletzten Parlamentswahl trat diese Linke gesondert auf und erreichte drei Mandate. Das war sehr wenig im Vergleich mit den 48 Mandaten der sozialdemokratischen Mehrheitsgruppe, und unmittelbar nach den Wahlen begannen auch die Bemühungen um eine Wiedervereinigung der beiden Gruppen. Diese Bemühungen scheiterten am Widerstand des Parteivorstandes. Von den eben gewählten Abgeordneten traten daraufhin zehn zu den sogenannten „Simoniten“ über; später folgte ihnen noch ein elfter Abgeordneter. Es kam zur Gründung einer zweiten sozialdemokratischen Partei, die ihre stärkste Unterstützung im Arbeiter-Sportverband und in den größten Gewerkschaften fand. Vor zwei Jahren wurde eine zweite Zentralorganisation der Gewerkschaften, die FLO, gegründet, die dem Lager der Mehrheitsgruppe unter Tanner angehört. Dieser Gegensatz führte in den letzten acht Jahren zu bitteren Kämpfen und vergiftete tatsächlich das ganze innerpolitische Leben Finnlands. So inflammiert ist diese Atmosphäre, daß es beinahe ein Wagnis geworden ist, im deutschen Sprachbereich darüber zu schreiben, denn auf jede Darstellung, möge sie nun noch so sachlich und leidenschaftslos sein, pflegen prompt die Proteste jener zu kommen, die glauben, daß man ihre Parteifreunde in Finnland ungerecht behandelt hat.

Ein scharfer Angriff

Bei der ernsten Krise des Jahres 1961, die durch die russische Note militärischer Konsultationen hervorgerufen worden war, wandte sich Finnlands Präsident Kekkonnen in einer großen öffentlichen Rede zu allgemeiner Überraschung gegen zwei namentlich genannte Politiker, die nach Ansicht des Präsidenten Finnland und dessen Volk in einer schweren Situation einen üblen Dienst erwiesen hatten. Der eine von ihnen war Franz Josef S t r a u s s, der in dieser politisch hochgespannten Zeit ausgerechnet nach Oslo gefahren und dort die Bildung eines gemeinsamen Ostseekommandos vorgeschlagen hatte — die beste Handreichung, die man den Russen in dieser Zeit geben konnte! Im innerpolitischen Teil der Rede aber wandte sich Kekkonen gegen Väinö Tanner, der wiederholt die Auflösung der Minderheitsregierung Sukselainen und Neuwahlen verlangt hatte, unter der Begründung, daß diese Regierung keine ausreichende parlamentarische Grundlage besitze.

In Finnland selbst ist man weniger zartbesaitet.

Sind es nun die „Simoniten“ oder ist es die Mehrheitssozialdemokratie, die den größten Teil der Schuld an dieser Spaltung tragen? Zweifellos sind beide Teile dafür verantwortlich, wobei nicht verschwiegen zu werden braucht, daß die weitaus stärkere Gruppe die größte Verantwortung für einen Fortbestand der Spaltung trägt, da sie größere Möglichkeiten besitzt, stärkeren Einfluß, den Druck der größeren Macht, und es ihr zukommt, Großmut zu beweisen; dem kleineren Teil würde ja diese Großmut eher als Hochmut oder Überheblichkeit angerechnet werden.

„Tarnet war selbst in des zwanziger Jahren Leiter einer Minoritäts-regierung — und eine Minoritätsregierung ist so lange eine parlamentarische Regierung, als sie kein Mißtrauensvotum erhalten hat. Seit Jänner 1959 aber macht man nun Versuche, Suk-selainens Regierung zu stürzen, allerdings ohne damit zu glücken. Dies wiederum benützt man, um zu behaupten, daß die Regierung auf Grund .unparlamentarischer Maßnahmen' sich weiter im Sattel hält, da sie das parlamentarische Vertrauen .nur mit Hilfe der kommunistischen Stimmen erhalten habe.

Zum Parlamentarismus gehört jedoch“, sagt Kekkonen weiter, „daß alle Stimmen im Reichstag gleich gewertet werden. Man kann den Parlamentarismus nicht so praktizieren, daß die volksdemokratischen Stimmen nur dann gerechnet werden, wenn sie die Rechtsgruppen unterstützen und daß die unbeachtet bleiben, wenn sie anderen Gruppen zufallen.

Ich tat alles, um den Fall der Regierung Fagerholm zu verhindern, hatte jedoch keinen Erfolg. Die Regierungszeit Fagerholm war die ruhigste in. meiner Amtszeit.

Daß jedoch Fagerholm fiel, war eine Folge der Wiederwahl Tanners zum Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei, und diese Wahl führte schließlich auch zur Spaltung der Partei!“

Dieses Zitat, -abgegeben von dem sehr ruhigen und besonnenen Kekkonen, kann einen Hinweis darauf geben, wie tief einige Parteiführer in die Schuldfrage verstrickt sind und wie schwer, ja unmöglich es ist, sich davon frei zu machen. Fagerholms bekanntgegebener Beschluß, vom politischen Leben Abschied zu nehmen, kann nach der Kenntnisnahme der Tatsachen besser verstanden werden.

Die Streiks, die-heute Finnland erschüttern, haben also soziale und politische Ursachen. Die sozialen Ursachen können durch den weiteren Ausbau der Wirtschaft, durch eine bessere Zusammenarbeit der Partner auf dem Arbeitsmarkt und auch durch etwas mehr Verständnis in den westlichen Ländern für die Schwierigkeiten Finnlands beseitigt werden.

Die politischen Giftherde müssen die politischen Parteien Finnlands selbst beseitigen. Dies ist die Voraussetzung für Erfolge auf allen anderen Gebieten und die Voraussetzung für die Erhaltung der Freiheit und Unabhängigkeit Finnlands. Eingriffe von außen müssen vermieden werden, sie hätten nur eine verderbliche Wirkung. Das sollte man vor allem im rechtssozialistischen Lager, aber auch in einigen NATO-Kreisen beachten.

Gelingt es den besonnenen Elementen nicht, einigen politischen Führungsgruppen in Finnland das Gefühl der Verantwortung beizubringen, dann gibt es wenig Hoffnung mehr für ein freies Finnland!

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