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Wohin treibt Nasser?

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Erzürnt hat Oberst Nasser im Buch der Weltpolitik weitergeblättert. Der Text der Gegenwart mißfiel ihm, er schlug daher entschlossen die nächste Seite auf. Die Geschichte lehrt uns aber, daß man in der Politik unbequeme Etappen nicht ausschalten und sich den mühsamen Aufstieg, den andere gehen mußten, durch irgendwelche revolutionäre Handlungen ersparen kann. Nasser wird nicht der erste Staatsmann aus einem unentwickelten Lande sein, der erfahren wird müssen, daß die Weltgeschichte niemandem einen „Extra-Sessellift“ zur Verfügung stellt, um während eines Bruchteiles der normal benötigten Zeit die Spitzengruppe der Nationen einzuholen.

Bei der Beurteilung der Lage, die Nasser geschaffen hat, dürfen wir aber nicht von Analogien mit früheren, dem Anschein nach ähnlich gelagerten Fällen ausgehen. Ferner müssen wir bei jeder Prognose einen dicken Trennungsstrich zwischen den unmittelbaren Auswirkungen des ägyptischen Rechtsferuches auf die Tagespolitik und den erst später sichtbar werdenden weltpolitischen Zusammenhängen ziehen. Taktische Erfolge waren nie gleichbedeutend mit einem strategischen Durchbruch, sondern im besten Falle seine Vorläufer. Sie blieben aber oft ohne Wirkung auf die Gesamtlage, und schon manche Truppe verlor ihre Schlagkraft während der ersten, vorbereitenden Phase der Kämpfe, weil sie sich Aufgaben gestellt hatte, denen sie sich hernach nicht gewachsen zeigen sollte!

Mit der Beschlagnahme des Suezkanals hat Oberst Nasser wohl nicht seine einzige Trumpfkarte ausgespielt, aber bestimmt die stärkste, die er in seinem Spiele hatte. Ob dies eine geschickte Taktik war, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist bloß, daß sie durchweg der Mentalität eines überreizten, überstürzt handelnden Diktators entspricht. Unsere Generation hat genug Lehrgeld bezahlt, um hierin Bescheid zu wissen ...

Welch weitere Kraftreserven besitzt Nasser nach dem Streich gegen die Westmächte und das Rechtsempfinden der Kulturwelt? Zunächst liegen auf ägyptischem Boden noch eine ganze Anzahl von Unternehmungen, die gleichfalls mit westlichem Geld, mit westlicher Initiative und Fachkenntnis geschaffen, entwickelt und erfolgreich gestaltet wurden. Er kann auch von diesen behaupten, daß sie die Lebensinteressen der ägyptischen Nation mißachten und daher in ihren Besitz übergeführt werden müssen. Ferner leben in seinem Lande zahlreiche Staatsangehörige der westlichen Länder, die er als Geisel zurückhalten kann; den Beamten der Suezkanalgesellschaft wurde bereits mit Gefängnisstrafen gedroht, falls sie ihren Posten verlassen sollten. Auch hier tauchen Erinnerungen an die Jüngstvergangenheit auf, von denen man nicht anr genommen hat, daß sie jemals außerhalb des Ostblocks zu neuem Leben erwachen werden ...

Nasser kann aber dem Westen auch mit weniger verabscheuungswürdigen Maßnahmen große Unannehmlichkeiten verursachen. Wenn er die Gründungsurkunde der Suezkanalgesellschaft so unbedenklich zu einem „Papierfetzen“ erklären konnte, so wird er wohl keine Hemmungen empfinden, auch eine der wichtigsten und im geschichtlichen Sinne wertvollsten Bestimmungen derselben außer Kraft zu setzen. Die Gründungsurkunde sprach nämlich — wohl zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit — den Grundsatz aus, daß zwischen den Flaggen der einzelnen Länder keinerlei Unterschied gemacht werden darf. Die Durchfahrtgebiihren waren seit 90 Jahren für jedes Schiff und für jede Tonne Ware und für jeden Passagier die gleicken, einerlei, ob es sich um persisches Rohöl handelte, das nach England verschifft wurde, oder um Zucker, den die Tschechoslowakei nach Indien exportierte. Im italienisch-abessinischen Krieg mußte Italien für jeden Soldaten, den es nach Afrika sandte, die gleiche Durchfahrtgebühr bezahlen, die Mister Brown aus Chikago entrichten mußte, wenn er sich einmal den bunten Orient ansehen wollte.'

Jetzt aber hat es Nasser in der Hand, Rohöl für England mit einer mehrfach höheren Abgabe pro Tonne zu belasten, als etwa Gerste aus Irak oder Manganerze aus Indien. Er kann sogar weitergehen und die Abgaben für Rohöl abstufen, je nachdem, ob die Ware mit einem britischen oder einem „neutralen“ Tankschiff abtransportiert wird, und kann hierdurch in der internationalen Schiffahrt einen heillosen Wirrwarr hervorrufen. Ferner kann er Rohöl, das für die echten Neutralen bestimmt ist, niedriger belasten als Transporte nach England oder Frankreich. Er kann also unter Umständen diese beiden Länder zwingen, ihren Bedarf an Rohöl in Venezuela oder Nordamerika zu decken, was ihnen sehr schmerzliche zusätzliche Auslagen an Dollars verursachen würde. (Er versprach wohl, sich davon zu enthalten, aber wer glaubt seinen Zusafen?)

In den kommenden Wochen oder sogar Monaten wird sich Nasser oft die Hände reiben können. Aber auch er wird manche Ueber-raschung erleben und in klaren Augenblicken dürfte er sich schon heute fragen, ob sich das bekannte Wort „vom letzten Lacher“ nicht auf seine Kosten bewahrheiten wird.

Zunächst muß er sich fragen, ob die Eingänge, die er aus dem Suezkanal erhofft, wirklich auf Heller und Pfennig genau so hoch sein werden wie er sie seinem begeisterten Volke vorgerechnet hat. Schließlich mußte England während eines langen Abschnitts des zweiten Weltkrieges seine Schiffahrt um Afrika umleiten, weil Deutschland das Mittelmeer beherrschte. Dies könnte jetzt wieder der Fall werden, wenn Nasser die Durchfahrtgebühren zu sehr erhöhen wollte; aus rein politischen Erwägungen könnte es sogar dazu kommen, auch wenn es in kommerzieller Hinsicht nicht notwendig wäre.

Zweitens muß Aegypten seine Baumwollernte an den Mann bringen, und auch hier können ihm die Westmächte Schwierigkeiten verursachen. Es hat seine Waffenbezüge aus der Tschechoslowakei mit Baumwolle bezahlt, wobei es sich um Mengen handelte, die weit über den Bedarf dieses Landes hinausgehen. Im Ostblock macht man sich über solche „technische Einzelheiten“ gewöhnlich nicht viel Sorgen — man läßt eben die Ware einige Umwege machen, bis sie irgendwo einen anderen Abnehmer findet. Nun zeigt sich aber, daß die ägyptische Baumwolle „via Tschechoslowakei“ so teuer ist, daß kein Land sie haben will ... Wie wird dies erst werden, wenn Amerika seine 14. Millionen Ballen eingelagerter Baumwolle auf den Weltmarkt wirft, da es nicht mehr auf Aegypten Rücksicht zu nehmen braucht? (Allerdings gibt es noch andere Länder, die hierdurch in Mitleidenschaft gezogen werden müßten, so zum Beispiel Brasilien, über das die Vereinigten Staaten nicht unbekümmert hinwegblicken können.)

Am ärgsten steht es aber um den Nil, dessen Wasser den Anlaß zum Konflikt zwischen Aegypten und der westlichen Welt gegeben haben. Das Nilwässer ist nämlich nicht nur im Lande der Pyramiden begehrt, auch der Sudan möchte den Fluß für Berieselungen anzapfen, ebenso wie Abessinien, Uganda und Kenia, die alle Zutritt zum oberen Nil haben. Nun besteht da? Nilwasser, so wie es durch Aegypten fließt, aus den Beiträgen des Blauen Nils und des Sobat, die aus Abessinien kommen, und des Weißen Nils, dessen Quellengebiet weit . im Sudan, am Victoriasee liegt. Am wertvollsten ist das Wasser des Blauen Nils, das besonders reich an Schlamm ist. Dieser und der Sobat führen Aegypten etwa zwei Drittel des Nilwassers zu, wogegen der Weiße Nil weniger Wasser und auch weniger Schlamm beisteuert. Nun will der Sudan am Oberlauf des Blauen Nils einen Damm errichten und Wasser für die Berieselung von 500.000 Hektar Boden ableiten. Automatisch würde sich dadurch die bewässerbare Fläche in Aegypten im gleichen Ausmaß verringern. Gleichzeitig meldet sich

Kenia zu Worte und will den Weißen Nil von der Süd-Nord-Richtung abkehren und nach dem Südosten, zu sich selber ableiten. Täte es dies, so würde die zweite Flut des Nils, im Februar eines jeden Jahres, ganz ausbleiben. Das sudanesische Projekt würde hingegen die erste Flut im Zeitraum August—November stark verringern. Dann aber müßte sich Aegypten mit geringeren -Wassermengen begnügen und selbst zu Berieselungen im bisherigen Ausmaß müßte es kostspielige Pumpanlagen schaffen, da ja der Spiegel des Flusses sinken würde. Ob wohl Nasser all dies bedacht hat und ob er daran zweifeln kann, daß England unter den heutigen Umständen die Projekte am oberen Nil kräftig unterstützen wird?

Nach dem ersten Jubel wird das ägyptische Volk bald bemerken, daß sich an seinem Los nichts geändert hat Die ägyptische Flagge am Suezkanal wird dem Fellach nicht mehr Brot verschaffen und seine Arbeit auf seinem kleinen Felde nicht erleichtern. Kann man von dieser unabwendbaren Tatsache darauf schließen, daß Nasser einst — möglicherweise sogar sehr bald — den Weg von Mossadegh gehen wird? Dieser wurde ja im Jahre 1951 in Teheran ebenso umjubelt, wie Nasser jetzt in Kairo, und dennoch wanderte er im Jahre 1953 ins Gefängnis! Nun — die Lage in Aegypten unterscheidet sich von derjenigen, die der Rechtsbruch in Teheran im Jahre 1951 geschaffen hat, in drei Hinsichten.

Zunächst bestand zwischen Mossadegh und dem Schah ein kaum verdeckter Konflikt, da dieser den ungezügelten Nationalismus seines Ministerpräsidenten nie billigte. Gestützt auf die Armee konnte der Schah in einem günstigen Augenblick seinen gefährlichen Ministerpräsidenten stürzen. In Aegypten gibt es hingegen keinen staatsrechtlichen Sammelpunkt für die überlegteren Elemente, die die neue Politik mißbilligen. Zweitens stand Persien im Konflikt ziemlich isoliert da, wogegen Aegypten die Solidarität der übrigen arabischen Länder anrufen kann. Eben die großen Oelinteressen Amerikas in Saudi-Arabien veranlassen ja Washington schon heute zu größter Vorsicht gegenüber Kairo, obschon es hiedurch die britisch-französische Gegenaktion merklich schwächt. Drittens verhielt sich Rußland im persisch-britischen Konflikt neutral, weil es zu jener Zeit alles auf die koreanische Karte gesetzt hatte. Heute hingegen kann niemand voraussagen, ob Moskau Kairo kräftig unterstützen wird, und falls ja, in welchem Ausmaß. Wir sollten also weder für die allernächste noch für eine spätere Zeit mit einer Kapitulation Nassers rechnen.

Ebensowenig kann man annehmen, daß die Nationalisierung des Kanals rückgängig gemacht werden wird. Man sollte nicht vergessen, daß die Vollversammlung der Vereinten Nationen vor zwei Jahren den Grundsatz ausgesprochen hat, daß es jedem Staat freistehen muß, auf seinem Gebiete jede Unternehmung zu nationalisieren. Sosehr auch dieses Postulat von den bisher vorherrschenden Ideen abweicht, müssen wir es anerkennen, schon um die Spannung in den unentwickelten Ländern nicht zu erhöhen. Bedauerlich ist bloß, daß die Mächte der atlantischen Gruppe bei den Vereinten Nationen vergeblich verlangt haben, daß jede Nationalisierung obligatorisch mit einer sofortigen, vollwertigen und frei transferablen Entschädigung verbunden sei. Hier also liegt der eigentliche Infektionsherd der Weltpolitik. Nasser ist in dieser Hinsicht nicht in gutem Glauben. Das ersieht man daran, daß er sein scheinbar ehrliches Angebot auf Entschädigung der bisherigen Aktionäre an die Bedingung knüpft, daß vorher sämtliche außerhalb von Aegypten liegenden Werte der Suezkanalgesellschaft durch diese auf den ägyptischen Staat übertragen werden müssen. Wenn Aegypten überhaupt eine volle und sofort transferable Entschädigung bezahlen wollte, könnte es dies nur auf Grund eben jener Auslandsguthaben der Suezkanalgesellschaft tun, die es nach Aegypten überführt sehen will. Wozu dann der Umweg?

Worauf es ankommt, ist also, daß Nasser die Rechnung für das durch seine Unvernunft zerschlagene Porzellan bezahlt und sich am Suezkanal einer internationalen Stelle unterwirft, die ihn daran hindert, neuen Schaden zu stiften.

Tut er dies, so wird dies eine Mahnung an die Adresse aller Staatsmänner in den unentwickelten Ländern sein, vom Weg nicht abzuweichen, den das römische Recht zum Schutz des Eigentums und zur Sicherung des Schadenersatzes vor zwei Jahrtausenden gebahnt hat und den alle fortgeschrittenen Nationen seither gegangen sind. Nach vergeblichen Bemühungen während zwei Jahren hat sich Persien hiezu bequemt, da es einsehen mußte, daß es den Wirtschaftskampf gegen einen geeinten Westen nicht gewinnen kann. Der Westen aber zeigte sich geeint wie sonst nie, denn kein Oeltanker übernahm es, persisches Rohöl abzutransportieren.

Die große Frage ist daher, ob der Westen auch diesmal geeint bleiben wird, auch wenn dies für die amerikanischen Rohölinteresseh in der. arabischen Nachbarländern eine vorübergehende Bedrohung bringen sollte. Zweitens muß der Westen einig bleiben, auch wenn Rußland, Indien, Jugoslawien, Indonesien mehr oder weniger für Aegypten Stellung beziehen . . . Drittens besteht eine eminente Gefahr, weil sich diese Einheit des Westens, die vorerst leider noch keine Tatsache ist, erst nach einer geraumen Zeit voll auswirken kann; bis dahin könnte irgendein orientalischer Staatsmann Lust bekommen, von den Lorbeeren zu pflücken, die jetzt um das Haupt Nassers geflochten werden. Aus dem Handstreich Nassers, der die Tagespolitik beherrscht, können daher vorübergehend recht störende Einflüsse auf die Weltpolitik ausstrahlen. Ihren Strom wird aber Nasser ebensowenig in ein neues Bett überleiten können, wie er den Nil nicht mit revolutionären Reden stauen kann.

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