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Wozu noch Bauern?

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Fast alles spricht gegen den Bauern! Und das nicht nur im kommunistischen Osten, wo das Bauerntum in Konsequenz der orthodoxen marxistischen Ideologie brutal beseitigt wurde. Auch im Westen scheint der Bauer keine reellen Chancen mehr zu haben. Die Landflucht spricht eine deutliche Sprache. Nach den Landarbeitern und den bäuerlichen Familienangehörigen beginnen nun auch die Besitzer selbst aus der Landwirtschaft abzuwandern. Man bleibt auf dem Hof oder im Dorf wohnen, geht aber einer anderen Beschäftigung nach, man pendelt.

In den USA sind in den vergangenen 25 Jahren nicht weniger als eineinhalb Millionen Farmen „verschwunden”, in der deutschen Bundesrepublik hat sich die Zahl der selbständigen Landwirtschaftsbetriebe von 1949 bis 1960 um 323.600 vermindert. Bei uns in Österreich sind seit der letzten Betriebszählung im Jahre 1951 von 430.000 Betrieben 30.000 ausgeschieden. Gewiß sind das meist noch die kleinen, „nicht lebensfähigen” Betriebe, die sogenannten Grenzbetriebe. Aber sind bei uns in Österreich nicht die meisten Berghöfe „Grenzbetriebe”? Würden sie aufgegeben werden, dann gäbe es wahrhaftig einen katastrophalen Bergrutsch. Die gegenwärtige Landflucht ist erst ein Anfang. Wer könnte sagen, wo die Abwanderung aufhört? Auf einer soziologischen Tagung in Frankreich im Jahre 1960 — das Agrarproblem ist in den Industriestaaten überall das gleiche — gab einer der anwesenden Gelehrten ernsthaft zu bedenken, ob es in 20 Jahren in Westeuropa überhaupt noch Bauern geben werde, nachdem jährlich 80.000 Menschen allein aus der französischen Landwirtschaft abwandern. Überall sinkt der Anteil der landwirtschaftlich Berufstätigen von Zählung zu Zählung weiter ab, und zwar von Mal zu Mal schneller.

„Landflucht tut not”?

Bei uns liegt der landwirtschaftliche Anteil an der Gesamtzahl der Berufs- . tätigen bei rund 16 Prozent, in Deutschland bei vielleicht noch elf Prozent, in den USA bei acht Prozent, in England bei vier Prozent. Mansholt, der Präsident der Agrarkommission in der EWG, forderte auf einer Tagung in Paris kürzlich wieder, es müßten innerhalb von 15 Jahren im gegenwärtigen EWG-Raum weitere acht Millionen Menschen aus der Landwirtschaft in andere Berufe transferiert werden. Aber nicht nur Menschen, auch sogenannte Grenzböden und Grenzbetriebe müßten aus der Erzeugung herausgenommen werden. Die liberale Nationalökonomie ist überzeugt und macht es rational plausibel, daß „Landflucht not tut”. Je geringer die Zahl der Landwirte, desto größer werde der Anteil des auf den einzelnen entfallenden volkswirtschaftlichen Einkommens. Die Bauern selber also müßten darauf bedacht sein, ihre Zahl zu vermindern. Man hat sich daran gewöhnt, in der Landwirtschaft ein „schrumpfendes Gewerbe” zu sehen; aber wie lange soll, wie lange darf die Landwirtschaft „schrumpfen”? Brauchen wir überhaupt noch Bauern, und wenn, wie viele sollen es sein? Radikale Probleme verlangen, daß man radikal fragt. Grundsätzlich sind zwei Antworten möglich: eine ökonomische und eine soziologische. Es liegt im Zuge unserer Zeit, die Probleme des öffentlichen Lebens überwiegend wirtschaftlich zu sehen. Die Nur-Wirt- schaftler, die dem Ökonomismus huldigen, also Wirtschaft um der Wirtschaft willen, Profit zuerst und Profit zuletzt — sie haben eine schnelle Antwort auf unsere Frage zur Hand — nämlich: nur soviel Wirtschaft, als wirtschaftlich rentabel ist, und natürlich unter allen Umständen die rentabelste Form der Landwirtschaft. Können Nahrungsmittel außerdem billiger eingeführt werden, warum sie dann selbst erzeugen und gar, wenn der Agrarimport industriellen Export ermöglicht! Und wenn der Betrieb mit 80 Hektar „mehr abwirft” und die Aktienfarm mehr einbringt, wozu dann festhalten wollen an überholten Familienbetrieben? Diese ökonomistische Antwort ist ebenso eindeutig wie radikal, wie leider auch verbreitet. Sie bedeutete tatsächlich, daß „Millionen Bauern sterben müssen”. Aber schon Josef Schumpeter, ein ln dieser Frage gewiß unverdächtiger — da marxistisch geschulter — Zeuge, hat dem Ökonomismus vorgehalten, daß er die Tatsachen gewaltsam aus ihrem sozialen Zusammenhang reiße. Schumpeter trifft damit den Kern des Problems. In der Tat ist die Wirtschaft nur ein Teilbereich der Gesamtwirtschaft und niemals Selbstzweck. Und man kann die Landwirtschaft richtig nicht nur als ein Gewerbe sehen, das sie natürlich auch ist, sie hat außer der wirtschaftlichen, unbedingt auch eine soziale Seite. Damit sind wir bei der soziologischen Antwort auf die Frage: ob Bauerntum oder nicht und wie viele Bauern es sein sollten.

Farm, Kolchose, Bauernhof

Auch dem Nichtsoziologen und dem Nichtlandwirt leuchtet es ohne weiteres ein, daß ein wesenhafter Unterschied besteht zwischen einer kapitalistischen Aktienfarm, einer bolschewistischen Kolchose und einem Bauernhof. Es ist eine soziologische Grunderkenntnis, daß Landwirtschaft nicht gleich Landwirtschaft ist. Es gibt eine bäuerliche Landwirtschaft und es gibt Landwirtschaft in Agrarfabriken und Agrastädten ganz ohne Bauerntum. Ginge es nur um die Landwirtschaft als Gewerbe, dann dürften wir sie mit ruhigem Gewissen ihrem Schicksal in der modernen Marktwirtschaft überlassen. Dann möge sie solange „schrumpfen”, bis das Spiel von Angebot und Nachfrage zu Agrarpreisen führt, die es rentabel erscheinen lassen, den Boden zu bebauen — bis die Landwirtschaft ein „Geschäft” ist. England, das die Landwirtschaft seiner

Industrie geopfert hat, zahlt heute die höchsten Subventionen aller Staaten der Welt, um wenigstens den kümmerlichen Rest seiner Landwirte bei der Scholle zu halten — Subventionen, die wohlgemerkt von der Arbeiterpartei nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege beschlossen worden sind.

Sozialfunktion der Landwirtschaft

Die Landwirtschaft hat eine wirtschaftliche, sie hat aber auch eine soziale Funktion. Landwirtschaft ist ein Gewerbe, sie ist aber auch ein sozial bedeutsamer, ja ein sozial unentbehrlicher Beruf wie der des Arztes oder Erziehers. Die ‘endländische Kultur ist — soziologisch betrachtet — bäuerlich-handwerklich geprägt. Bei aller Höherentwicklung und Wandlung kann eine Gesellschaft nicht gedeihen, wenn sie sich von ihren Wurzeln löst.

Die soziale Funktion des Bauerntums liegt in der Bodenverbundenheit. Der Bauer mit seiner Familie ist an den Boden gebunden durch seinen Beruf, durch seine Arbeit, mit seiner Existenz; von ihm darf man sagen, daß er mit seinem Dasein im Boden wurzelt. Im Bauerntum ist der Mensch, als er in der Jungsteinzeit seßhaft wurde, eine Symbiose mit der Natur eingegangen. Bauerntum bedeutet Pflege der den Menschen gegebenen Naturgrundlagen. Im Bauern wandelt sich der Mensch vom Ausbeuter der Natur als primitiver Sammler, Jäger und Fischer zu ihrem Pfleger. Auch der Bauer nimmt vom Boden, aber er gibt ihm wieder. Diese Symbiose bewährte sich durch die Jahrtausende, und der Boden blieb fruchtbar. Man mag das als „Romantik” abtun wollen. Aber immer und überall, wo man Landwirtschaft unbäuerlich betrieb, sei es in den Latifundien Roms, sei es in der jüngsten Vergangenheit des hochkapitalistischen Amerikas, hat man den Boden verwüstet und die Wälder kahl gerodet. Dreieinviertel Milliarden Hektar Ackerland stehen fünf Milliarden Hektar Wüste gegenüber, die zum guten Teil durch menschliche Schuld entstanden ist. In unserer absolut unbäuerlichen modernen Zivilisation werden die Naturgrundlagen und die Naturschätze in einem geradezu gigantischen Ausmaß ausgebeutec und zerstört: der Mensch als „Parasit der Erde”! Ein einziges von zahllosen mahnenden, beschwörenden Zitaten, die man heute alle geflissentlich überhört oder bagatellisiert. Dr. H. B. Baity, Ratsmitglied der Weltgesundheitsorganisation, erklärte im Frühjahr 1961 auf dem Kongreß der königlich-britischen Gesellschaft für Wissenschaften: „In 250 Jahren wird die Menschheit alles verbraucht • haben, was die Natur in 25p Millionen Jahren auf gebaut hat.”

Schwäche und Stärke

Die Bodenverbundenheit des Bauern bedingt seine Marktschwäche. Der Bauer ist „marktschwach”, weil er — abhängig vom natürlichen Kreislauf der Pflanzen und Tiere und den Wachstumsrhythmen der Natur — sich dem wechselnden Marktgeschehen kaum oder nicht anpassen, weil er die Technik nur sehr beschränkt für sich ein- setzen kann. Diese Schwäche des Bauern in der modernen Marktwirtschaft, durch die er wirtschaftlich dauernd benachteiligt wird, sie ist zugleich seine Stärke in der modernen Massengesellschaft. Der bekannte Nationalökonom Wilhelm Röpke ist der eifrigste Verfechter einer bäuerlichen Landwirtschaft gerade in der Industriegesellschaft. Die Technik müsse mehr als bisher auf die Klein- und Mittelbetriebe gelenkt werden. Wir müssen uns dezentralisieren, die kleinen Produktions- und Siedlungseinheiten, die selbständigen kleinen Lebens- und Wirtschaftsbereiche ausbauen, das Eigentum streuen und die marktlose Selbstversorgung möglichst ausweiten. Die bäuerliche Landwirtschaft sei dabei von unschätzbarer soziologischer Bedeutung, der „letzte mächtige Zufluchtsort gegenüber der Vermassung, Mechanisierung und Verstädterung unserer Zeit”. Weder die kapitalistische noch die kollektivistische Großlandwirtschaft vermöchten in dieser Richtung etwas zu leisten, sondern nur die bäuerliche Landwirtschaft in ihrer ökonomisch-sozial geistigen Gesamtstruktur. „Glücklich die Länder, die noch eine bäuerliche Landwirtschaft haben; sie mögen alles daransetzen, sich diese zu erhalten.” Natürlich muß unsere Landwirtschaft sich der allgemeinen Marktwirtschaft und das Bauerntum sich der Industriegesellschaft einfiigen. Eine Strukturverbesserung und -bereinigung ist unvermeidlich Es wird nicht jeder Hof und jeder Bauer in Zukunft mit aller Gewalt zu halten sein. Aber man soll auch hier das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Bereinigen darf nicht zur Vernichtung, Anpassen nicht zur Preisgabe führen Fordert der Ökonomismus so wenig Landwirtschaft wie möglich, so muß man vom soziologischen Standpunkt möglichst viel bäuerliche Landwirtschaft verlangen. Allerdings müßte eine solche Agrarpolitik, die neben der wirtschaftlichen auch die soziale Funktion der bäuerlichen Landwirtschaft wertet, vom Verstehen des gesamten Volkes getragen sein.

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