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Wurzel der Existenz

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In der Fremde ist kürzlich der Senior der einstigen österreichischen Parlamentarier gestorben, Dr. Wilhelm Ellenbogen, der Ende Februar als Achtundachtziger in New York aus dem Leben schied. Seine Kindheitstage gehörten noch jenem Österreich an, das zu den Großmächten der Welt zählte, den Deutschen Bund führte, Venezien besaß und seine Schiffe weit über die Meere bis nach Indien sandte. Ihn umfing in seinen jungen Jahren die Atmosphäre des liberalen Zeitalters, der liberalen Hochfinanz und Presse, der Machtbereich eines weltanschaulichen, politischen und wirtschaftlichen Systems, das Nährboden radikaler Strömungen in den entrechteten Massen und Wiege der österreichischen Sozialdemokratie war. Der vor 60 Jahren in den ersten. Vorstand der Partei gewählte Arzt, der ein Jahrzehnt später von ihr in das Abgeordnetenhaus entsandt wurde, durchlebte an vorderster Stelle ihren Aufstieg, aber auch das Zerbrechen des alten Reiches und die Blütenträume, die das schwere Geschehen begleiteten. Er war es, der dann in jener historischen Sitzung der provisorischen österreichischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 als Sprecher seiner Partei mit überschäumendem Optimismus die Geburtsstunde der Republik feierte und mit seiner Absage an die Dynastie auf den Tribünen des Hauses den stürmischen Zuruf sozialistischer Galeriebesucher weckte: .Wir brauchen keinen Kaiser mehr!“

Ein Menschenalter ist seitdem dahingegangen; in ihm drängten sich die Gefahren von innen und außen, zuweilen bis hart an die tödliche Klippe heran, mutiges Standhalten, Aufrichten und Aufbauen, dann wieder Enttäuschung, Zermürbung, Irrtum, leidenschaftliches Gegeneinander und schließlich die Fremdherrschaft, die Vernichtung der staatlichen Existenz und dann — nun dann das Jetzt, übergenug, um daraus Erfahrung und Weisheit zu schöpfen und die Dinge, die gewesenen und die heutigen, nach ihrem wahren Wert zu messen. Dr. Wilhelm Ellenbogen, der sein Leben lang ein Sozialist ohne Vorbehalt war, hat in seinem Exil Revue über sein Leben gehalten. Er schrieb ein Erinnerungsbuch, aus dessen noch unveröffentlichtem Inhalt die sozialistische Monatsschrift „Die Zukunft“ in ihrem Märzheft ein Kapitel wiedergibt, das in viel weitere Horizonte weist, als eine memoirenhafte Betrachtung der Vergangenheit zunächst erwarten ließe. Das Kapitel ist der Gestalt Kaiser Franz Josephs gewidmet, einer Charakteristik seiner Herrscherpersönlichkeit, seiner Rolle in der modernen demokratischen Entwicklung Österreichs und in dem Untergang des alten Staates. Die Aussage Dr. Ellenbogens läßt die seichte Schablone nicht gelten, die geringschätzig von dem Kaiser wissen will, er sei nicht mehr als ein „Beamter“ gewesen; Ellenbogen wird Kronzeuge für den Herrscher, der sein Amt als „eine mit Verantwortung beladene Pflicht“ begriff, und solche Monarchen mit strenger Pflichtäuffassung seien „für die gesunde Weiterentwicklung der Demokratien besser als — wenn auch begabtere — Draufgänger mit geringerer Hemmung des Ideenfluges“.

Die Aufzeichnungen des alten Sozialisten sagen dem Kaiser nach, zu seinen guten Eigenschaften habe eine solche Gründlichkeit gehört, eine solche Vertiefung mit Geduld und Beamtenfleiß in das Aktenstudium bei innerpolitischen Angelegenheiten, daß er darin „manchmal eine gründlichere Kenntnis besaß als manche der zahlreichen Minister und Parteipolitiker, die an ihm vorbeizogen ... Der Gedanke, mitten in den leidenschaftlich auseinanderstrebenden Kräften das einzig zusammenhaltende Element zu sein, ist die Ursache seiner Vorsicht, seines Verlangens nach Information auf allen Gebieten, seines Entgegenkommens gegen neu aufkommende Strömungen, wenn sie zentripetalen Charakter haben, also auch der Arbeiterbewegung“. So habe die Haltung der österreichischen Regierungsgewalten sicher beigetragen, die Arbeiterbewegung groß und stark zu machen. Wie denn auch der Kaiser „absolut konsequent und unbeugsamen Willens das Zustandekommen des allgemeinen gleichen Wahlrechts gefördert habe“. Am wohltuendsten sei an Franz Joseph aufgefallen sein Sinn für die ordnende Kraft des Rechts und seiner Funktion als grundlegenden Elements des Staates. Für den Zerfall des alten Reiches sieht Dr. Ellenbogen nicht den Kaiser, sondern besonders das überwuchern der nationalen Ideen unter den bürgerlichen Parteien verantwortlich, in den an Stelle der Monarchie entstandenen Kleinstaaten erblickt er einen Rückschritt, einen Anachronismus, „denn sie sind weder national einheitlich, wie der Vorwand für die Zertrümmerung Österreichs lautete, noch verfügen sie über ein besonders blühendes wirtschaftliches Eigenleben, vor allem aber besitzt keiner die militärische Widerstandskraft gegen einen Eroberer, so daß, wie die Ereignisse der letzten Jahre beweisen, ihre staatliche Selbständigkeit ein Vergnügen von sehr kurzer Dauer ist“. Das sind Gedankengänge, die in der Konsequenz in die Nähe der großösterreichischen Konzeption für Mitteleuropa münden.

Doch nicht in einem solchen Ausblick, sondern in einer Feststellung, das er mit seinem Urteil gegenüber Franz Joseph einem „Gebot der Gerechtigkeit“ entspreche, liegt das Gewicht der Bezeugung des alten Sozialisten. Sie wird doppelt unterstrichen mit deren Publikation in der repräsentativen Monatsschrift des österreichischen Sozialismus.

Irrt man, wenn man hier die Merkmale sich vollziehender, über das Persönliche hinausreichender bedeutungsvoller Erkenntnis wahrzunehmen glaubt? Die materialistische Geschichtsauffassung des historischen Marxismus, seiner Doktrin von dem mechanischen durch die ökonomischen Kräfte bestimmten Ablauf der Entwicklung widersprach der Anerkennung der geistigen Werte der Tradition. In einer Untersuchung über das Verhältnis des Sozialismus zur Tradition * konnte noch vor wenigen Jahren Francois Per-roux den größten sozialistischen Versuch der Menschheit, den Sowjetrußlands, als die mächtigste Offensive bezeichnen, die jemals gegen die Tradition unternommen wurde. Seit damals ist unter Stalin nicht nur auf dem Gebiete der Familienpolitik, sondern mit der Pflege der Kunst, der prähistorischen und neugeschichtlichen Forschung, in der Verherrlichung natio-naher Helden- und Feldherrngestalten, selbst zaristischer Persönlichkeiten, eine umstürzende Revision der alten Lehre geschehen„ eine Revision, die den Marxismus sogar mit einer Ethik okuliert, in welcher der Glaube an das „Heilige Rußland“ und seine Mission aufs neue, wenn auch in anderen Farben, aufblüht. Aus völlig anderen Motiven hat sich im Sozialismus des europäischen Westens die veränderte Schätzung und Pflege der Zusammenhänge mit dem Denken und Schaffen der vorausgegangenen Geschlechter, das Verstehen der sozialen, die Gemeinschaft über die Zeit hinaus verknüpfenden Werte vollzogen — wie selbstverständlich in England, wo die Arbeiterpartei die Nachfolgerschaft der konservativen ' Parteimacht anzutreten hatte, aber auch in Frankreich, vielleicht dort mehr als anderswo, beeinflußt und genötigt durch die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. Niemandem aber ist der Vorhalt, was Geschichte und geschichtlich Gewachsenes bedeuten, so eindringlich bis zur Schmerzhaftigkeit gemacht worden, wie dem Österreicher; er lernte an seinem Leibe und dem Unglück ganz Europas den verhängnisvollen Irrtum der Sieger des ersten Weltkrieges kennen, die glaubten, in St-Germain mit ihren Federstrichen ein vielhundertjähriges, aus dem Lebensbedürfnis kleiner Völker zusammengewachsenes Reich straflos auslöschen zu dürfen. Was gibt seinem Staat heute Bestand aus innerer Kraft, wenn nicht Wissen um dessen, selbst seiner Kleinheit noch verbliebenen Beruf, Schlußstein in dem Gewölbe mitteleuropäischer Ordnung zu sein! Und woher sollten wir unsere Jugend mit dem Glauben an ihr Land, mit Zuversicht und Schaffensfreude erfüllen, wenn nicht aus diesem Verstehen? Der österreichische Sozialismus hat lange sich der Ehrfurcht vor dem Denken und Lieben und Wirken der Generationen versagt, auf deren Schultern auch er heute noch steht. Die Revision vollzieht sich auch hier. Die stärkste Persönlichkeit konstruktiver - staatlicher Kraft, die der österreichische Sozalismus hervorgebracht hat, war Dr. Karl Renner. Man darf hoffen, und die Zeugenschaft Dr. Wilhelm Ellenbogens und ihrer Aufnahme berechtigen wohl dazu, daß Dr. Renners geistiges Erbe — das Verständnis der Schicksalsverbundenheit und Kontinuität des einen, alten und neuen Österreich —, im Lager seiner Partei in Ehren bewahrt und weitergepflegt werden wird.

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