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Zaungäste einer großen Stunde

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99,9999 Prozent Verläßlichkeit attestierten die Techniker der NASA dem gesamten Flug von Apollo 11. Und mit diesem Prozentsatz für das Funktionieren der 10 Millionen Einzelteile starteten Armstrong, Aldrin und ColMns, flogen zum Mond, landeten mit der Mondfähre, führten Experimente und Fernsehaufzieich-nungen durch, starteten wieder, koppelten an und landeten wieder auf der Erde. Das größte Abenteuer der Menschheit war ein Rotationslauf der Computer, ein Fließband technologischer Steuerungen.

Die so unglaublichen 99,9999 Prozent aber degradierten einen staunenden Rest der nichtamerikanischen Menschheit zu Zaungästen der technischen Zivilisation. Aber nicht nur die USA, auch die Sowjetunion dokumentierte in diesem ereignisreichen Juli 1969 ihre Präsenz. Zwar nicht so spektakulär, nicht so souverän und präzise — aber immerhin mit einem Stand der Technik, der auf Revanche im Wettkampf schließen läßt.

Zaungäste dieser .historischen Stunden waren aber nicht allein die Bantus im afrikanischen Busch, nicht die Vietnamesen in den Dschungeln Indochinas. Zaungäste waren auch die Völker und Menschen Europas. Wir Europäer saßen vor unseren TV-Apparaten und hatten als Zaungäste nur die Muße zur Meditation („Neue Zürcher Zeitung“). Alle so stolzen Europäer waren armselig im Augenblick des amerikanischen Triumphes, als ihnen mit 99,9999 Prozent Zweitrangigkeit attestiert wurde. Europa darf jetzt die Flucht in seine Vergangenheit antreten, darf von Kolumbus und Vasco da Gama träumen, von der Courage eines Scott oder Amundsen, von James Watt, Ressel, Maircond und Daimler.

Und darf träumen vom Ausverkauf eines Einstein, eines Debus und Wernher von Braun. Der Kontinent der Entdecker, Forscher und Erfinder sitzt staunend vor den Apparaten und blickt zum guten Mond mit der Apathie von 27 Nationalstaaten, 27 Regierungen, ungeklärten Grenzen, Stacheldrähten und Minenfeldern. 27 Völker, die sich über die Herausforderung zwar klar sind, aber nicht bereit scheinen, sie auch anzunehmen.

Europas technologische Lücke gegenüber seinen Achsenenden jenseits des Atlantiks und diesseits des Urals ist wie nie offensichtlich geworden. Europa muß wie Griechenland in der Antike Abschied von der Weltgeschichte nehmen. Die Historie wendet sich dem Stärkeren zu, die Querelen der Schwachen werden zu Beweisen der Agonie und Degeneration; die Römer des 20. Jahrhunderts sitzen in Kap Kennedy und Chaba-rowsk.

Aber nicht der vielzitierte technologische Flaschengeist allein hat seit dem 20. Juli das (vermeintliche) Gewicht verschoben: Die militärische Umsetzbarkeit der Vorherrschaft im Raum macht Schaudern. Daß die seinerzeitigen Sputnikerfolge die Russen an den ersten Platz geschoben haben, war auf ihre Unterlegenheit in der Atombombenproduktion zurückzuführen. Deshalb produzierten sie schubkräftige Interkontinentalraketen. Nebenher dienten diese Raketen dazu, den Sputnik auf seine Umlaufbahn zu bringen, der wieder-

um sowohl die amerikanische Öffentlichkeit als auch die Strategen im Pentagon auf die Raketenlücke aufmerksam machte. Man muß sich dieser Tatsachen bewußt sein. Militärpolitik und Prestige im Kampf um Verbündete und um die Rohstoffmärkte der Dritten Welt waren die Paten an der Wiege der Raumfahrt.

Und jederzeit ist der Rückfall in die strategische Ausgangsbasiis denkbar, nur noch verschärft durch die neue Dimension des Kosmos. Und schon morgen können Russen und Amerikaner Stacheldraht auf den Mond schicken, um sich gegeneinander — aber auch gegenüber der übrigen Welt auszusperren. Oder könnte dieses Ereignis auch der große „challange“, der große Aufbruch des geschwächten Europa werden? Könnte sich Europa seiner Ohnmacht auf wissenschaftlich-technischem Gebiet ebenso wie auf militärischem und damit politischem Feld endlich bewußt-werden? Der englische Historiker Arnold Toynbee meint angesichts des Mondflugs, daß „wir aus unserer gegenwärtigen anachronistischen, nationalistischen Besessenheit herauskugeln“ müssen, wenn wir überleben wollen. In London entwickelte das „Institute for Strategie Studdes“ kürzlich eine Zusammenstellung . der Zukunft Europas in den siebziger Jahren. Es zeigte einen katastrophalen Ist-Stand der europäischen Wirklichkeit auf: Um für Großforschung und industrielle Anwendung die Voraussetzung zu schaffen, müßten erst Gesellschafts- und Patentrecht, Berufsausbildung und Freizügigkeit von Unternehmungen, Arbeitnehmern, Forschern und Studenten verwirklicht werden; die öffentlichen Aufträge müßten harmonisiert werden, Normen, Sicherheitsvorschriften, Quaiitätsamgaben und Maße müßten vereinheitlicht werden — vor allem aber müßte eine gemeinsame Mittelvergabe und übernationale Arbeitsteilung und -kooperation erfolgen. Allein in der EWG wird die Bevölkerungszahl im Jahr 2000 um 35 Millionen gewachsen sein: Massiver Zwang zur Steigerung der Produktivität und zur Verbesserung der Produktionsstruktur. Forschung und Entwicklung erlangen aber in diesem Fall überragende Bedeutung. Europa wird sich zwischen einer in geometrischer Reihe wachsenden technologischen Dynamik der Supermächte mit riesigen Binnenmärkten und dem nachdrängenden Angebot der jungen Industrieländer in Asien und Afrika behaupten müssen. Was zögert dieser Kontinent also noch? Was heute schon wichtiger ist als morgen, ist ein echtes „funktionelles Europa“, das schwerfällige Zentralregierungen ausschaltet, das die wirtschaftliche und politische Kooperation auf ein Maximum steigert und das für die optimale Durchführung gemeinsamer Aufgaben supranationale und zwischenstaatliche Elemente bestmöglich zusammenfügt. Wir brauchen eine neue Nüchternheit und das Bewußtsein, daß es um Europas Uberleben als kulturelle Tatsache der Gegenwart und Zukunft geht.

Sonst werden wir rücksichtslos zu Museumsdienern degradiert, die Touristen aus Ost und West durch eine staubige Heroeniandlschaft führen dürfen.

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