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Zehn Jahre nach Suez

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„Ain Kadeis“ ist eine weltverlassene Oase im Nordosten der Sinaihalbinsel.

Ain Kadeis heißt hebräisch „En Kadesch“, und mit der „Operation Kadesch“ begann, vor genau zehn Jahren, der Suezkonflikt.

In der Nacht vom 29. auf 30. Oktober 1956 stürmten Infanteristen die, unweit des Akabagolfes gelegene, ägyptische Grenzbefestigung E-Kun- tilla und besetzten die Ortschaften Abu Agueila und Ghaza. Fallschirmjäger sprangen über dem Straßenknotenpunkt Kalat en-Nakhl und über dem Mitlapaß, 40 Kilometer nordöstlich von Suez, aus ihren Flugzeugen. Im Morgengrauen vereinigten sich die Vortrupps, und binnen 48 Stunden überschritt das Gros der Armee auf ganzer Länge die Negevgrenze. Die Soldaten kamen auš Israel; sieben Tage später gehörte ihnen die ganze Sinaihalbinsel, sie standen in» Ghazastreifen, am Ostufer des Suezkanales und in Scharm es-Scheich am Roten Meer. Die Ägypter leisteten nur vereinzelten Widerstand.

Knapp 24 Stunden nach dem Angriff ohne Kriegserklärung erging ein britisch-französisches Ultimatum an Israel und Ägypten. Es verlangte, daß die Kampfhandlungen sofort eingestellt und die feindlichen Truppen auf eine Waffenstillstandslinie,

16 Kilometer beiderseits des Suezkanals, zurückzuziehen seien. Die auf zwölf Stunden befristete Aufforderung wurde von Israel, dessen Kriegsziele dadurch nicht gefährdet wurden, angenommen und von Ägypten abgelehnt. Daraufhin erfolgten die Einsatzbefehle für die „Operation Musketier“.

Wettlauf mit der Zeit

Es begann ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit: Bis der Friedensmechanismus des Weltsicherheitsrates angekurbelt war, mußten die strategischen Punkte Ägyptens besetzt und der Nildiktator gestürzt oder geflohen sein.

Die nach inzwischen nicht mehr bestrittenen Behauptungen arabischer, östlicher und westlicher Kritiker monatelang vorbereitete und mit dem israelischen Angriff koordinierte Invasion brauchte länger als Nelson für die Planung der Seeschlacht bei Abukir (1798). In den frühen Morgenstunden des 31. Oktober ergingen an das in Cypem errichtete Hauptquartier die Einsatzbefehle. Aber erst am 5. November landeten britische und französische Fallschirmjäger in Port Said!

Die Geschichte dieser fünf Tage gehört zu den rätselvollsten Zeitabschnitten der Nachkriegszeit, und sie ist die Geschichte einer für immer verpaßten Gelegenheit. In Ungarn wütete der bekannte Volksaufstand. Während aber die UN den Hilferuf der rechtmäßig gewählten ungarischen Regierung ignorierten, schlug die Empörung der farbigen Delegierten über den beiden europäischen Westmächten zusammen. Chruschtschow drohte am 5. November, Paris und London mit Interkontinentalraketen zu beschießen — die er, wie westliche Nachrichtendienste zu spät entdeckten, gar nicht besaß. Aber an diesem Tag wurde der bis dahin lokale Konflikt zur weltpolitischen Auseinandersetzung. Präsident Eisenhower drohte, er wolle die Wirtschaftsbeziehungen zu Frankreich und Großbritannien kappen. Der sich auf eine schwankende Parlamentsmehrheit stützende Guy Mol- let und der kranke Sir Anthony Eden gaben nach. Die „Operation Musketier“ wurde gestoppt, die Kampfhandlungen wurden eingestellt, die Vollzugsgewalt in den besetzten Brückenköpfen ging über auf eine symbolische UN-Streit- macht, und am 23. Dezember 1956 verließ der letzte ausländische Soldat ägyptisches Territorium.

Zwei Legenden

Zwei Suezlegenden folgten: Die „Dreieraggression“ habe das Scheitern des ungarischen Volksaufstandes auf deni Gc wissen, lautet die eine; der israelisch-britiisch-franzö-

sische Angriff auf Ägypten habe Abdel Nasser ins kommunistische Lager gedrängt und der Sowjetunion den Zugang zum Mittelmeerraum geöffnet, heißt die andere.

Beide Legenden widersprechen den Tatsachen.

Erstens: Um nachzuweisen, daß Ungarn, auch ohne die Dreimächteaktion gegen Ägypten, kommunistisch geblieben wäre, muß man einen Zusammenhang herstellen zwischen dem dortigen Aufstand, den Arbeiterdemonstrationen in Mitteldeutschland, 1953, dem inner- politischen Wandel in Polen, 1956, und dem Berliner Mauerbau, 1961. Das unterschiedliche Verhalten der Sowjetunion in diesen Affären zeigt, daß sie — wie in Polen — nur dann nachgiebig reagierte, sofern kommunistische Staatsform und Zugehörigkeit zum kommunistischen Block nicht gefährdet waren. Wo beides auif dem Spiel stand, wie 1956 an der Donau und, 1961 an der Spree, schreckte sie nicht zurück vor unmenschlichen Maßnahmen.

Zweitens: Suez war nicht der auslösende Faktor der sowjetischen Einflußnahme im Mittelmeerraum. Wer das behauptet, verwechselt Ursache und Wirkung! Hier der Kalender: Im September 1955 verkündete Abdel Nasser den Abschluß des ägyptischen Waffenlieferungsabkommens mit einem Ostblockstaat. Dieser Vertrag ist der wichtigste Schlüssel zur Suezkrise. Seit seinem Staatsstreich forderte der ehrgeizige Oberst, einst im Palästinafeldzug der einzige ungeschlagene arabische Kommandant, Waffenlieferungen von den USA.

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