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Zeitgewinn mit Schwimmen

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In den Vereinigten Staaten geben Öffentlichkeit und parlamentarische Opposition jedem neuen Präsidenten und seiner Administration eine gewisse Anlaufzeit von etwa hundert Tagen: „honeymoon — Hochzeitsreise“ nennt man es. — Für Nixon ist die Probefrist, ist die „schöpferische Pause“ vorüber. Für ihn und das, was er tut, — für die Nation die Zeit des gutwilligen (?) Abwartens, bevor sie in Zustimmung oder Ablehnung Stellung nimmt. Der Präsident hat begonnen, das Land wissen zu lassen, wo er in einzelnen Fragen steht, was er zu tun oder zu unterlassen vorschlägt. Die Öffentlichkeit reagiert. Der Kongreß beginnt zu prüfen. Was steht zur Debatte?

Noch immer der Vietnam-Krieg: Man fragt, worum handelt es sich eigentlich bei dem von Nixon während der Wahlkampagne angedeuteten persönlichen Plan des Präsidenten, den Frieden herbeizuführen? Das Problem bleibt in Geheimnis gehüllt Schon Johnsons Bombenstop über Nordvietnaim zugleich mit der Eskalierung der Bodenattacken in Südvietnam hat des öfteren Anlaß zu Irritation gegeben. Jetzt läßt die stetige Abwechslung täglicher Kampf — und Verlustberichte mit optimistischen Versicherungen, daß auf Grund „privater“ Verhandlungen Grund zu Hoffnungen auf baldiges Kriegsende besteht, stutzen.

Nicht klarer wird die Situation, wenn der Außenminister unvermutet davon spricht, daß mit oder ohne Ergebnisse in Paris die langsame Zurückziehung amerikanischer Truppen aus Vietnam stattfinden kann, sobald Saigon militärisch auf festen Füßen steht, wenn man im gleichen Atemzug von der Unnachgiebigkeit Hanois berichtet. (Siehe auch Seite 5.) Die Stellungnahme Nixons zu dem Zwischenfall des von nordkoreanischen Flugzeugen abgeschossenen Nachrichtendienstflugzeugs blieb für die Öffentlichkeit kaum weniger widerspruchsvoll: Man protestierte, sagte künftigen Missionen dieser Art bewaffneten Schutz zu, dementierte aber kaum, daß ein Gegenschlag nur mit Rücksicht auf die erwarteten konkreten Kontakte mit der Sowjetunion unterblieb. Die öffentliche Meinung ist begreiflicherweise unruhig, was der bevorstehenden Kongreßdebatte über die Einführung des von Nixon vorgeschlagenen Anti-Raketen-Systems (ABM) ungewöhnliche Aufmerksamkeit sichert.

Die Meinung über den Anti-Raketen-Verteidigungsplan sind sehr geteilt. Die der endgültigen Abstimmung vorangehenden Komiteeuntersuchungen hörten Wissenschaftler, Politiker und Militärs pro und contra. (Nebenbei: ausdrücklich als „Geheimnisträger“ zugelassenen oppositionellen Fachleuten wurde die Einsicht in die Unterlagen versagt!)

Nixon, wie Johnson vor dem Dilemma stehend, entweder als „Friedensfürst“ oder als Oberbefehlshaber der USA-Streitkräfte In die Geschichte einzugehen, hofft durch seine teilweise Verkürzung des ursprünglichen Johnson-Projekts einen Teil der Widerstände aufzubrechen. Aber die Opposition im Kongreß scheint zu wachsen. Auch in der Innenpolitik treffen in Aussicht genommene Maßnahmen nur auf zögernde Zustimmung. Zur Steuerreform werden zwar Ansätze einer Vereinheitlichung gemacht, in dem etwa 2 Millionen „Arme“ (unter einer bestimmten Grenze Verdienende) von der Einkommensteuer befreit werden (wettgemacht fast durch eine Erhöhung der Umsatzsteuer!) und man bestimmte Nachlaßregelungen für investierende Großverdiener abschaffen will. Aber die Situation der Mehrheit, nämlich der Mittelklassen, wird kaum verändert.

Die Wohlfahrtszahlungen sollen zwar in Zukunft federal vereinheitlicht werden, können aber zur Zeit in einigen Großstädten und Einzelstaaten kaum in der bisherigen Höhe aufrechterhalten werden, weil sie im Gesamtbudget ebenso wie Zuschüsse für Hospitäler, Schulen, Büchereien usw. gekürzt wurden. Und die Militärausgaben überschatten alle anderen Ausgäben, nötigen zu Abstrichen bei mannigfachen Versuchen, soziale Probleme im Land selbst zu lösen.

Niemand wird leugnen, daß manches Lavieren, manche Widersprüchlichkeit Jn def Republikanischen Regierung heute das Ergebnis der Erbfolge ist, die sie angetreten hat. Das amerikanische Volk gab Nixon die Chance, Ausgleiche zu suchen, die nicht immer populär, vielleicht nicht einmal klug sind. Roosevelt hat mit entschiedenen Maßnahmen der Nation ein neues Profil gegeben, Kennedy gab ihm die Vision neuer schöpferischer Möglichkeiten. Nixon hat, so scheint es, es unternommen, auf der Stelle zu treten. Von hier aus erscheint manchem das „J-ein“ zu wichtigen Problemen notwendig, um mit „einerseits — anderseits“ — Zeit zu gewinnen.

In gewissem, wenn auch oft übertriebenen, Zusammenhang mit der als wichtige Aufgabe der neuen Administration genannten Verbrechensbekämpfung steht unter dem Kennwort „Ruhe und Ordnung“ die sich ständig verbreiternde Unrast an den Universitäten und Colleges, die sich bereits auch auf höhere Schulen ausbreitet.

Im Augenblick sieht es so aus, als ob experimentiert wird: Polizeieinsatz wechselt mit Kompromissen von Universitätsbehörden gegenüber den Forderungen der „Rebellen“ ebenso ab, wie Werben um Verständnis für sie mit dem Ruf nach strengen Maßnahmen in der öffentlichen Meinung. Die afro-amerikainischen Hochschul-und Schülergruppeh versuchen ebenso wie ihr weißer Bundesgenosse, die „Students for a Democratic Society“ (SDS), das Feld abzutasten. Eine völlig neue Note hat der Abgeordnete Ford ins Spiel gebracht: Die Mär von den „Weisen von Zion“ umkehrend, hat er „entdeckt“, daß 10.000 arabische Studenten hinter den Unruhen stehen! Die Militants sind eine Minorität. Wirkliche Resonanz finden sie auf dem Campus erst dann, wenn Polizei nicht allzu sanft bei „Räumungsaktionen“ vorgeht. Es bleibt fraglich, ob sie Probleme lösen. Nixon hat scharfes Durchgreifen angeraten. Entziehung von Studiengeldern für Demonstranten wurde vorgeschlagen. Liberale Erzieher sind ratlos. Auch hier, wenn auch nicht nur hier, stehen die zweiten 100 Tage der neuen Administration unter dem Signum: „Alles schwimmt!“

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