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Zur Problematik der Grenze

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Der neuzeitliche Nationalstaat unterschied sich vom mittelalterlichen „Reidie“, so etwa vom heiligen römischen Reiche deutscher Nation, durch eine eindeutige Festlegung seiner Grenzen. Die damjt verbundene straffere Organisation der Landesverwaltung wurde durch eine in alle Lebensbereiche tief einschneidende Grenzziehung erkauft. Damit ging aber Hand in Hand die Trennung kulturell oder völkisch vordem geeinter Territorien. —- Merkantilistisdies Autarkiestreben ließ die durch steigende Staatsmacht zu einem neuen Begriff gewordene Grenze in den Dienst einer Wirtschaftspolitik treten, aus der der Traum nach Autarkie nie mehr gewichen ist.

Damit hatte die Grenze ihr Wirken gegen eine freie Mcnschtieitsentwicklung begonnen. Nur zu oft gegen Vernunftsgründe von Sprache und Kultur, standortbedingte Wirtsduft und Arbeitsteilung wurde eine soldie madnpolitisch bedingte Grenze durch Krieg erreicht oder erhalten, wobri es unerheblich ist#ob diese Unterordnung der kulturellen wirtschaftlichen oder sozialen Bedürfnisse unter eine prestigebetonte Machtpolitik dem Streben eine Tyrannen, eines konstitutionellen Landesherrn oder dem tendenziösen Rechtfertigungsversuche einer parlamentari-sdien Mehrheitsregierung entsprang. *

Aus der Perspektive einer modernen arbeitsteiligen Verkehrswirtschaft muß deshalb rückschauend jener Triumph der Grenze beim Beginn der Neuzeit wie ein zweiter Sündenfall der Menschheit erscheinen!

Alle Versuche in moderner Zeit, an der Grenzziehung Korrekturen anzubringen, bedeuten nidns anderes als an den Symptomen eines Fehlers kurieren, der im System selbst gelegen ist: auch die heutigen Grenzen entspringen in erster Linie machtpolitischen Gründen. In ihrer heutigen Ausschließlidikeit veraltet, legen sie sich wie ein Gazestreifen in die Wunde, die sie einst am Körper der Menschheit geschnitten haben und hindern ihre Heilung in Riditung auf Völkergemeinschaft und Weltwirtschaft!

Der radikale Ausweg einer Auslöschung der Grenzen nach dem geschichtlichen Vorbilde des nordamerikanischen Kontinents erscheint nun freilich für das heutige Europa noch nicht gangbar.

Ein Zeitalter der Landnahme durch die Pioniere hatte Europa nie gekannt. Seine Siedlungsdichte war von einem Maximalstand zum anderen gestiegen. Jedem Warnrufe gegen Übervölkerung folgte eine Industrialisierungswelle, die weiteres Wachstum ermöglichte! Dies verdient festgehalten zu werden, so dankenswert die Arbeiten am Gedanken eines Vereinigten Europa auch sind!

Es bedarf aber gerade in Europa einer Revision althergebrachter, das heißt seit der Entwicklung des machtheischenden Nationalstaates gewachsener Anschauungen über die Unentbehrlichkeit solcher Verabsolutierung des staatlichen Hoheitsbegriffes. Es ist zu prüfen, inwieweit der Begriff der Staatshoheit wirklich unentbehrlich ist für die im Laufe der Zeiten hinzugewachsenen gesellschaftlichen Aufgaben, also etwa für Wirtschaftspolitik, Kultur- und Sozialpolitik, inwieweit der einzelne Staat also über die Wahrnehmung seiner ursprünglichen Verwaltungsaufgaben (innere Verwaltung, Polizei, Wehrmacht, äußerer Dienst) hinaus berufen ist, die jüngeren gesellschaftlichen Aufgaben im beengten Rahmen nurstaatlicher Machtpolitik durch die zufälligen v Mehrheiten eines territorial bestimmten Parlaments oder gar nur durch die Machtvollkommenheit der Exekutive entscheiden zu lassen.

Zwar wurde aus der Schmelzglut des ersten Weltkriegs ein Völkerbund geboren, nachdem richtungweisende internationale Gremien (in Genf, den Haag und Rom) schon früher bestanden hatten. Doch allen fehlte außer einer Exekutivgewalt die Organisation im Räume! — Den neuen Trägern einer die Welt umfassenden Friedensorganisation (UNO, Weltbank, Währungsfonds, Ernährungsbeirat) fehlt diese gewisse Exekutive nicht mehr. Doch gerade sie, deren Aktivität von den leidensdiaftlidien Hoffnungen aller Friedensfreunde getragen wird, benötigen territorial begrenzter, jedoch zwischen- oder überstaatlicher Organe, die sich gewissermaßen als eine zweite Schicht unter die heutigen Staaten legen und in Zusammenarbeit mit diesen eine wirtschafts-, kultur- oder sozialpolitische Funktion ausüben. Ihre räumliche Zuständigkeit wäre durch von den Staatsgrenzen abweichende Umgrenzungen zu bestimmen. In ihren Zuständigkeitsbereichen hätten sie als Mittler zwischen den' Staaten zu wirken und gleichzeitig wären sie berufen, für die zentralen Organe der UNO die diesen nachgeordnete Verwaltungshierarchie zu bilden.

So wären — unbeschadet der historischen Verwaltungsgrenzen — zwischenstaatliche Wirtschaftsorganisationen zu schaffen, die in einem Beziehungs- oder Abhängigkeitsverhältnis zur UNO, Produktion und Absatz in einem zwischen- oder überstaatlichen Rahmen zu planen hätten. Vorläufer dieser Organe, die sich im engen Rahmen weniger Wirtschaftszweige bewährt haben, waren die internationalen Kartelle.

Die Schaffung überstaatlicher Wirtschaftsräume wurde in der Vergangenheit zu ausschließlich unter das Motto „Zollunion“ gestellt, wobei der Denkfehler unterlief, daß eine Zollunion nicht primär als wirtschaft-lidies Mittel zur Überwindung der allzu-vielen Grenzen, sondern bestenfalls letztes Ziel sein kann, das durch allumfassende Wirtschaftsplanung der beteiligten Staaten erreicht werden kann. Genannt wurde dieses Ziel freilich erst unlängst wieder durch den Präsidenten der USA, der eine Aufhebung der Zollgrenzen in Europa empfahl.

In der Schaffung derartiger Uberstaatlicher Wirtschaftsräume, namentlich in Europa, liegt ein Kernstück der zu fordernden Reform der Grenze. Ein Rückblick auf die Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrhunderte lehrt, daß mit der Aufhebung der Zwischenzollinien eine wirt sdiaftliche Fundierung des europäischen Nationalstaates einherging. Ein neuer Schritt in RichtuVig auf die Bildung weniger europäischer Teilkontinent-Wirtschaften ist erforderlich!

Ein Blick in Österreichs Vergangenheit lehrt uns die Vorzüge zu schätzen, die der große und wohlausgewogene Wirtschaftsraum Österreich-Ungarns bot. Für den wirtschaftlichen Großraum wirbt zudem auch die Konkurrenz der Großstaaten mit ihren leichteren Produktionsund Absatzbedingungen, aber auch für die Kleinstaaten der Zwang, wenige, jedoch große Produktionsserien aufzulegen.

Die machtpolitische Sphäre der heutigen Staaten würde durch diese wirtschaftliche Uberwindung einzelner Grenzen nicht berührt. Dies sei gerade im Hinblick auf die Unabhängigkeit kleiner Länder gesagt, wie Österreichs, das sich in den vergangenen sieben Jahren ein Recht darauf erlitten hat, seine alte und so lebensfähige Kultur im eigenen Hause zu pflegen.

Mehr als Kartelle und Zollunionen schafft also eine Produktionsplanung international abgeglichene Kostengrundlagen! So werden Kostenvorte,jle aus der Grundlage eines Standortes durch Preissenkung den Konsumenten zugutekommen. Noch wichtiger ist aber eine Kostenanpassung beim Produktionsfaktor „Arbeit“. Die Furcht vor einem Lohngefälle gegenüber dem ausländischen Wettbewerber war ein Bremsklotz am sozialpolitischen Fortschritt während der frühkapitalistischen Ära des 19. Jahrhunderts.Daß ähnliche Erwägungen auch heute noch wirksam sind, beweisen die Einwanderungsbeschränkungen der meisten überseeischen Länder nach dem ersten Weltkrieg. Um so wichtiger erscheint es deshalb, die Trennwirkung der Grenze auch in sozialpolitischer Hinsidit zu mildern. Die Wirtschaftsgrenze wird also tunlichst, mit einer Sozialgrenze zusammenfallen, die Gebiete gleicher sozialer Leistungen und Belastungen einschließt. Die „Empfehlungen“ des Internationalen Arbeitsamtes, wie sie seit 1920 den Regierungen zugeleitet wurden, deuten auch für die Zukunft die Richtung an, wie durch Vereinheitlichung der Sozialgesetzgebung eine Angleichung der Kostengrundlagen international herbeigeführt werden kann.

Auch für die Regelung der Kulturbelange wäre an zwischenstaatliche Gremien zu denken, die bei Wahrung voller machtpolitischer Souveränität der beteiligten Staaten internationales Minderheitenrecht in prak-tisdie Formen gießen, wie sie sich aus den Besonderheiten der bevölkerungspolitischen Lage innerhalb der einzelnen Kontinente oder Kontinentsteile ergeben.

Der einzelne Staat wird also bei Aufrechterhaltung seiner Machtansprüche in den Bereichen der ursprünglichen Verwaltung (Justiz, Polizei, Wehrmacht, diplomatischer Dienst) die Kompetenz für Wirtschafts- und Sozialpolitik und. fyr Kulturentfaltung der Minoritäten mit zwischen- oder überstaatlichen Trägern gesellschaftlicher Aufgaben teilen müssen, so wie er die richtungweisende Tätigkeit internationaler Organe bereits früher anerkannt hat.

Damit verliert die moderne Grenze jenen Erbfluch, der, wie der Turmbau zu Babel, die Völker trennte! — An die Stelle der von unproduktiven Zöllnerscharen bewachten, allmächtigen Schlagbäume tritt eine Verwaltungsgrenze, längs deren unsichtbaren Pfählen der Verwaltungsstaat vielleicht noch gelegentlich nach einem Verbrecher fahnden wird, um ihn unter Vermeidung eines Auslieferungsverfahrens den heimischen Gerichten zu überstellen.

Eine Überprüfung das überkommenen Grenzbegriffs, die man vor dem ersten Weltkrieg vielleicht in die Reihe der utopischen Staatsromane verwiesen hätte, heute noch ablehnen und die Stichhältigkeit seiner Revisionsbedürftigkeit erst durch einen neuen Weltbrand erhärten lassen, dies würde die Tragik unserer Generation so übersteigern, daß an der Lebensberechtigung unserer Kultur gezweifelt werden müßte.

Europa hat seine führende Stellung in den zwei Weltkriegen verloren. Doch noch immer nötigt sein Prestige der Welt Achtung ab. An Europa ist es jetzt, die verbliebenen Kräfte zu organisieren, um den alten Erdteil seiner kulturellen Reibungsflächen zu entkleiden, seine Wirtschaft wettbewerbsfähig zu erhalten und seine kostbaren Traditionen in einem zeitgemäßen Gewände zu erhalten!

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