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Wer aus der Haft entlassen wird, muss sich ein neues Leben aufbauen. Nicht alle bekommen dabei Unterstützung. Ein Besuch in einer Wohngemeinschaft.

"Solange niemand zum Bohren anfängt, geht’s ganz gut. Aber je enger die Beziehung, desto schwieriger wird’s“, sagt er. Die Frau, die er liebt, weiß zwar von dunklen Flecken in seiner Vergangenheit. Details will er ihr aber nicht erzählen: "Ich will ihr nicht antun, dass sie Probleme bekommt, wenn das herauskommt.“ Er ist 60 Jahre alt, hat ein freundliches Wesen. Der Name, den er sich aussucht, um in der FURCHE seine Geschichte zu erzählen, ist Frey. Herbert Frey.

Lange Zeit war Frey genau das nicht. Seine Spielsucht hatte ihn finanziell ruiniert. "Es ist immer weiter bergab gegangen. Dann ist mir als einzige Lösung ein Bankraub eingefallen.“ Neun Jahre lang saß er dafür im Gefängnis. "Einsperren, Tür fest zu, fertig“, hieß es dort. Man wird zur Untätigkeit gezwungen, wird unselbstständig wie ein kleines Kind, erzählt er. Jeder wollte arbeiten, aber nie gab es genug zu tun für alle. Er selbst hat Kabelrollen hergestellt, immer nur ein paar Stunden am Tag. "Dann geht man wieder zurück in die Zelle.“ Am Anfang dachte er nur daran, wie er die lange Zeit hinter Gittern aushalten soll. Aber dann, je näher seine Entlassung kam, änderten sich die Sorgen: "Da wird einem klar: Ich stehe vor dem Nichts. Wie wird das werden, dass ich wieder ein halbwegs normales Leben führe?“

Herbert Frey fand einen Weg. Ein Mithäftling erzählte ihm von der WEGE, einer Wohngemeinschaft für Haftentlassene, die in Wels von der Caritas geführt wird. Er schickte eine Bewerbung hin, musste Interviews führen, wurde zum Probewohnen eingeladen. "Dann sind zwei nette Sozialarbeiter gekommen und haben gesagt, dass ich einziehen kann.“ Zwei Monate später wurde Herbert Frey entlassen.

Haus der zweiten Chance

Zwölf Einzelzimmer gibt es in dem Haus in Wels, dazu kommen noch drei Wohngemeinschaften und sechs Garçonnièren in anderen Häusern. Insgesamt lebten im Vorjahr 39 Männer in der WEGE. Der jüngste ist 21, der älteste über 70. Pro Monat müssen die Bewohner 130 Euro für das Zimmer in der WEGE bezahlen. Wer keinen Job hat, bekommt Arbeitslosengeld oder die Mindestsicherung. "In der Regel kommen die Männer zu uns mit nicht viel mehr als zwei Plastiksackerln“, sagt Gottfried Boubenicek. Seit 1993 leitet er das Haus der Caritas. "Die Geschichten unserer Bewohner waren schon vor der Haft von einem kontinuierlichen Abstieg geprägt“, sagt Boubenicek. "Und während der Haft, verlieren sie, was sie noch hatten: Beziehungen, den Job, die Wohnung, oft auch Persönliches wie Fotos.“

Nach dem Einzug in die WEGE wird zu allererst aufgeräumt: Finanzen werden geordnet, die Wohnsituation geklärt. Die größte Herausforderung ist aber der Aufbau des Selbstwertgefühls: "Jeder, der aus der Haft kommt, fühlt sich stigmatisiert“, beobachtet Boubenicek. "Sie haben das Gefühl, dass ihnen auf der Straße jeder ansieht, dass sie aus dem Gefängnis kommen.“ Psychische Probleme haben fast alle WEGE-Bewohner. Bei manchen entstehen sie durch die Hafterfahrung, andere blicken schon vor dem Gefängnis auf klassische Problem-Karrieren zurück.

Fünf Sozialarbeiter und vier Zivildiener sind in der WEGE beschäftigt. Dazu kommen noch rund 20 Ehrenamtliche, die regelmäßig zum Kartenspielen und Plaudern vorbei kommen. "Viele Bewohner müssen von der Pieke auf neu leben lernen“, erzählt Martha Ruttinger, die ihre Freizeit in der WEGE verbringt. "Es geht um Fragen wie: Was zieht man an? Wie komme ich zu einer Buskarte? Wo kaufe ich Essen?“ Auch Herbert Frey erinnert sich an die Zeit nach seiner Entlassung: "Bei Sachen, die normalerweise alltäglich sind, zögert man. Man ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob man es richtig macht.“ So wird ein Kinobesuch oder eine Fahrt zur Behörde zur Stresssituation.

Beziehungen neu aufbauen

Auch Beziehungen müssen neu strukturiert werden. "Wir legen viel Wert auf den Aufbau eines sozialen Netzes“, sagt Boubenicek.Die Freiwilligen leisten dazu einen wichtigen Beitrag, aber auch Beziehungen aus der Zeit vor der Haft können reaktiviert werden. Wenn es möglich ist.

Herbert Frey hat zu niemandem von früher mehr Kontakt: "Mein soziales Umfeld hat sich komplett verändert. Ich habe hier mehr Freunde als da, wo ich herkomme, und konnte wirklich neu anfangen.“ Die meisten von Freys neuen Freunden wissen nichts von seiner Vergangenheit. Bei Mitgefangenen, die nach der Entlassung wieder in ihre alte Umgebung zurückgegangen sind, hat er andere Verläufe beobachtet. Manche wurden rückfällig, andere haben laufend Schwierigkeiten mit der Polizei und ihre Bekannte schauen sie schief an.

Auch ein anderes Schicksal, das manche Ex-Kollegen aus dem Gefängnis erlitten haben, blieb Frey erspart: Die Obdachlosigkeit. "Das Enlassungsgeld bringen die meisten innerhalb von drei Tagen durch und werden dann wieder rückfällig.“ Auch sein Weg wäre anders verlaufen, wenn er nicht in die WEGE hätte ziehen können. "Wahrscheinlich wäre ich bei einem Ex-Kumpel aus dem Gefängnis untergekommen. Und wenn’s finanziell schwierig geworden wär, wer weiß, vielleicht hätte man sich gesagt, ich probier’s noch einmal“, gibt er zu denken.

Leben mit dem Makel

Vor der Haft lebte der Großteil der WEGE-Bewohner in gesicherten Wohnverhältnissen in einer eigenen Wohnung, bei einer Partnerin oder den Eltern. Nach der Haft können viele nicht mehr dorthin zurück. In der WEGE kann man maximal zwei Jahre wohnen. Manche bleiben auch nur ein paar Monate und ziehen danach in eine eigene Wohnung. Das Zimmer, das sie haben ist mit einer Basis-Ausstattung eingerichtet. Gekocht wird in einer Gemeinschaftsküche, auch die Sanitäranlagen werden geteilt. Es gibt Gemeinschaftsräume und Fitnessgeräte im Keller. Aber die Zimmer sind der private Rückzugsort. Die Türen können die Bewohner selbst zu- und vor allem: aufmachen. Auch das ist etwas, das manche nach Jahren im Gefängnis wieder neu lernen müssen.

Herbert Frey hat sich schnell daran gewöhnt, selbstständig zu sein. Neun Monate verbrachte er in der WEGE, danach lebte er ein knappes Jahr in einer der externen Wohnungen. Mittlerweile hat er selbst eine kleine Wohnung gefunden, seit zweieinhalb Jahren lebt er schon selbstständig. Drei Jahre hat er gearbeitet, momentan ist er aber ohne Job. Die Arbeitssuche ist für Männer wie Frey besonders schwierig: "Sobald man ein Leumundszeugnis verlangt, muss ich mich zurückziehen. Mit dem Makel ist es schwer zu leben.“ Aber, immerhin, schmunzelt Frey: "Mir sieht man nicht an, dass ich im Gefängnis war. So komm ich bedeutend weiter.“ Solange keiner zu genau nachfragt.

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