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Wenn die Janitscharen, das einstige Elitekorps in der Sultanszeit, Grund zur Unzufriedenheit hatten oder ihn zu haben glaubten, dann kehrten sie ihre Kochkessel um, drangen in den Palast ein, nahmen den Padischah gefangen, töteten ihn oder brachten ihn für den Rest seiner, meist gezählten Tage ins Prinzengefängnis, liquidierten die verhaßtesten Wesire, Eunuchen und anderen Koryphäen der Hohen Pforte. Worauf ein neuer Sultan und neue Wesire, Eunuchen usw. einen neuen Kurs begannen, der allmählich wie ein Ei dem andern dem vorigen zu gleichen anhub, bis — sehr häufig — das gleiche Schauspiel mit ausgewechselten Leitgestalten sich wiederholte.

Im wunderschönen Monat Mai des Jahres 1950 hat die vier Jahre früher, nach Aufhebung des Monopols der von Atatürk begründeten Volkspartei, gebildete Demokratische Partei die bisher herrschende Fraktion gestürzt, aus der sie durch Sesession hervorgegangen war. Das ist allerdings in freien Parlamentswahlen und nicht durch eine Militärerhebung geschehen, die, wenn nicht den Janitscharen-revolten, so wenigstens den Offizierserhebungen der Jungtürken gegen Abd-ül-Hamid von 1908 oder der Mustafa Kemals von 1919 geglichen hätte. Im übrigen aber wurde die türkische Tradition befolgt. Die siegreichen Demokraten ziehen ihren verdrängten Gegner aller politischen und wirtschaftlichen Sünden, zumal der Korruption, der Unfähigkeit, einer schlechten Diplomatie, unerträglichen Polizeidrucks, der Vergewaltigung der Presse und der verfassungswidrigen Verfolgung Andersdenkender.

Sieben Jahre später, beim Urnengang vom Oktober 1957, richteten die nun zur Opposition gewordenen Volksparteiler, geführt vom früheren Staatspräsidenten, vordem unter Atatürk Regierungschef und noch früher glorreichem Feldherrn Ismet Inönü, die gleichen Vorwürfe gegen die obwaltenden Demokraten, die von diesen wider die Volkspartei erhoben worden waren. Das Ergebnis zeigte sich in einem rapiden Stimmenschwund der Demokraten, die nur 47 Prozent der Voten auf sich vereinten, während die .yolksparteLiW Pt.went,re!g..Pan]cf der Wahlgeometrie behielt die Regierung des Ministerpräsidenten Menderes. dennoch. . eiae große Mehrheit von 424 Abgeordneten gegen 178 Volksparteiler. Im Parlament zur Ohnmacht verurteilt, betrieb die Opposition eine heftige Agitation im Lande. Sie fand Anklang vor allem bei der städtischen Intelligenz und im Offizierskorps, denen die zu den Demokraten haltenden Wirtschaftsmagnaten, Großgrundbesitzer, islamischen Geistlichen höchlichst mißfielen. Der Liberalismus auf dem Gebiet des Handels und der Industrie war den zur Planung neigenden Beamten, Professoren, Studenten, Gewerkschaftern ebenso zuwider wie sie, als Anhänger des Laizismus, die den bäuerlichen Massen — mehr als drei Viertel der Bevölkerung — behagende Renaissance der mohammedanischen Religion und den wachsenden E'nfluß der Imame, Ulemas und Hodschas auf das öffentliche und kulturelle Leben ablehnten.

Die Opposition war darüber empört, daß s i e ähnliche Schikanen und Mißbräuche erdulden mußte, wie sie zuvor von der Volkspartei gegenüber deren Widersachern angewandt wurden. Der Verschwenderische und die Korruption in sogar auf östlichem Boden ungewohnte Maße betreibende Kurs brachte das Land mehrmals an die Schwelle des Staatsbankrotts und er drohte jedenfalls den wirtschaftlichen Ruin auszulösen: Währung und Realeinkommen sanken rapid; die schrankenlose Einfuhr von Luxus-gutem schlug ins Gegenteil um und drakonische Sparmaßnahmen — von denen die Regierenden nicht betroffen wurden — führten dazu, daß zum Beispiel das Nationalgetränk, der Kaffee, unauffindbar wurde. Die Polizei ging immer brutaler vor. Im Laufe des heurigen Vorfrühlings wuchs die allgemeine Unzufriedenheit so sehr, daß Menderes, der sich mit allen Mitteln an der Macht behaupten wollte und der seit seiner Rettung aus einem Flugunfall sich für ein auserkorenes Werkzeug der Vorsehung betrachtete, zu den härtesten und törichtesten Zwangsmitteln griff. Er ließ durch die ihm gefügige Parlamentsmehrheit eine Kommission bestellen, die außerordentliche Vollmachten zur Bekämpfung der Regimegegner bekam. Die verfassungsmäßigen Grundrechte wurden kalt beiseite geschoben.

Nun gewannen die seit längerem andauernden Studentendemonstrationen in Istanbul und Ankara beträchtliches Ausmaß. Menderes und sein Innenminister Gedik gaben Schießbefehl. Nach amtlichen Mitteilungen sollen bei den Kundgebungen elf Hochschüler fefallen sein. Spätere, nach dem Umsturz vom 27. Mai geschehene Nachforschungen enthüllten aber, daß der Polizei und den herbeigerufenen Truppen Dutzende junger Menschen zum Opfer fielen. Der Belagerungszustand wurde über Istanbul, Ankara, Ismir verhängt. Dessen Wirkungen konnte die Konferenz der NATO-Außen-minister beobachten, die Anfang Mai in der Millionenstadt am Bosporus tagte. Ausgestorbene Straßen, Militär und Polizei überall; verlegene Unsicherheit der leitenden Minister, die nicht mehr imstande waren, den illustren Gästen Potemkinsche Großstädte zu zeigen. Zu derselben Zeit wurde der Oberbefehlshaber des Heeres, General Gürsel, abgesetzt, weil er sich weigerte, die Armee als Schutzstaffel der Diktatur zu verwenden. Ein ähnliches Schauspiel wie in Istanbul den fremden Außenministern bot sich am 20. Mai dem indischen Premier Nehru in Ankara, der akklamiert. und gleichzeitig von der Menge durch feindselige Rufe gegen die ihn empfangenden Würdenträger über die Lage belehrt wurde. Das hätte Menderes warnen sollen. Noch eindrucksamer aber gestaltete sich tags darauf ein Schweigemarsch der Offiziersschüler, die, von ihrem Kommandanten geführt, in Ankara stumm gegen die Willkür und die Kopflosigkeit der Herrschenden protestierten. Menderes verschärfte jedoch die Repression. Daß es ihm dabei wohl zumute war, möchten wir bezweifeln. Er scheint jedoch durch den Staatspräsidenten Bayar, den gleichaltrigen Rivalen und Busenfeind des Volksparteiführers Inönü, durch Innenminister Gedik. Außenminister Zorlu und andere Unentwegte auf den Weg der weiteren Unversöhnlichkeit geschoben worden zu sein. So geschah, was geschehen mußte.

In der Nacht vom 26. zum 27. Mai brach eine Offiziersverschwörung aus, die einerseits an die vorerwähnten Erhebungen der Jungtürken und Mustafa Kemals, anderseits an die ägyptische und an die irakische Revolution gemahnte. Ein „Ausschuß der Nationalen Einheit“ unter dem Vorsitz des verabschiedeten Generals Gürsel, dem etwa 20 Offiziere vom Leutnant bis zum General angehörten, bemächtigte sich binnen zweier Stunden in wohlvorbereiteter Aktion der Macht, und zwar ohne Widerstand zu finden. Bayar, Menderes, Zorlu, der Parlamentspräsident Koraltan, sämtliche Minister wurden verhaftet: Menderes auf nächtlicher Fahrt zu einer Propagandatournee durch Anatolien, Koraltan in galanter Gesellschaft, Bayar aus dem Schlummer in seinem Palast Qankaya gerissen. Weitere Inhaftierungen folgten. Sie betrafen rund dreihundert Abgeordnete der Demokraten, ein halbes Dutzend ihnen ergebene hohe Offiziere, Beamte, sonstige politische Gegner der Volkspartei, etwa tausend Personen insgesamt. Anfangs hieß es, man werde Milde bezeigen, baldigst Neuwahlen vornehmen, die Mißbräuche beseitigen, die Wirtschaft sanieren, die wahre Freiheit wiederbringen. Es wurde erwartet, daß Inönü wieder ans Ruder kommen sollte.

Bald erwies es sich, daß Revolutionen ihren unwandelbaren Gesetzen gehorchen und daß insbesondere Umstürze im heutigen muselmanischen Kulturkreis nicht in freiheitliche Idylle münden. Inönü wurde artigst behandelt, doch die Gewalt liegt bei dem Offiziersausschuß der Nationalen Einheit, der sich die Befugnisse der sofort aufgelösten Nationalversammlung zuspricht. Mit den Neuwahlen hat er es nicht eilig. Vorher sollen „Entdemokratisierungs-behörden“ die bisherigen Politiker und andere Prominenz auf Herz und Nieren prüfen. Nur wer für engelsrein befunden wird, darf ins künftige Parlament kandidieren. Wann, das weiß Allah. Vielleicht, des Erbhasses unbeschadet, am „Griechischen Neujahr“. General Gürsel ist nach außen hin oberster Träger jeder Autorität. Er fungiert als Ministerpräsident und, wie erwähnt, als Vorsitzender des Offiziersausschusses. Ob ihm aber nicht das Los eines Nagib blühen wird, den ein türkischer Nasser ersetzt, das sei dahingestellt. Der Ton der Revolution wird jedenfalls schnell schärfer und langmesserscharf.

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