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Zurück zu Lenin und Zarismus

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Die Asienreise Chruschtschows im April gewinnt im fahlen Licht der Pariser Ereignisse neue Perspektiven. Daß er dabei die beiden kommunistischen Staaten Nordkorea und Vietminh nicht besucht und keinen der dortigen Staatsmänner gesprochen hat, ist nicht weiter verwunderlich. Solche Kontaktaufnahmen würden nicht nur unzählige gefährliche Gerüchte gebären, sondern direkt auch die Beziehungen Peking-Moskau gefährden. Denn im Vertrag von 1950, den Mao Tse-tung in zähen Verhandlungsmonaten Stalin abgerungen hat, ist ausdrücklich ausgemacht worden, daß die kommunistischen Bewegungen in Asien, mit Ausnahme der Länder rein islamischer Kultur, in den Wirkungskreis Pekings fallen. Allerdings enthielt sich Chruschtschow auf der ganzen Reise jeder kommunistischen Propaganda.

Interessant ist ferner, daß er die Gründung einer Hochschule nur für die unterentwickelten Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ankündigte, mit einer großzügigen Versorgung der Studenten, denen selbst das Reisegeld von der Sowjetunion bezahlt werden soll. Dabei unterstrich er vor allem, daß es sich um eine reine Fachbildung handelt, daß die Sowjetunion bereit sei, schriftlich zu garantieren, daß keinerlei Versuche gemacht würden, diese fremden Studenten ideologisch zu beeinflussen. Eine solche Erklärung war natürlich nicht nur notwendig wegen gewisser Ereignisse in der Vergangenheit, sondern auch mit Rücksicht auf Peking. Gerade dort hätte man sonst auf Grund alter

Erfahrungen sofort den Verdacht geschöpft, Moskau wolle auf diesem Umweg die Leitung des südostasiatischen Kommunismus wieder an sich reißen.

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Die unterentwickelten Länder Asiens und Afrikas stehen nach klassisch marxistischer Theorie noch im vorkapitalistischen Stadium. Sie besitzen noch eine feudale Sozialstruktur. Da sie keine Industrie haben, gibt es auch kein Industrieproletariat, und folglich kann man dort — das weiß die Sowjetunion genau — auch noch keine Diktatur des Proletariats errichten. Die dortige fortschrittliche Klasse ist die einheimische Bourgeoisie, welche die Befreiung aus ganzem oder halbem kolonialem Joch anstrebt. Allerdings könnte man, wenn die Entwicklung nach dieser Richtung hin gefördert wird, in den nun sich anbahnenden modernen Kapitalismus von Anfang an den Keim des Todes hineinlegen, wie sich Lenin ausdrückte, damit de- geschichtliche Ablauf schneller vor sich geht. Lenin verfolgte konsequent die Politik, wie man sich damals ausdrückte, der Bundesgenossenschaft des russischen revolutionären Proletariats mit der jungen Bourgeoisie der unterentwickelten Völker.

Stalin warf diese Theorie Lenins als überholt über Bord. Er hielt die Sowjetunion in den zwanziger Jahren bereits wirtschaftlich und politisch für so stark, daß sie den asiatischen Völkern helfen könne, die kapitalistische

Periode zu überspringen und gleich zu einer sozialistischen Gesellschaftsform überzugehen. Auf Grund dieser Theorie warf er zuerst einmal die bürgerlichen Liberalen in Sowjetasien hinaus, etablierte auch dort die totalitäre Herrschaft der Kommunistischen Partei, reorganisierte das ganze Gebiet und schaltete es politisch und wirtschaftlich mit dem übrigen Rußlang gleich. Auf Grund derselben Theorie befahl er 1927 den chinesischen Kommunisten, einen Vorstoß im Kampf um die Macht zu wagen, der dann zur Niederlage und zum Bruch mit Tschiangkaischek führte. Ebenso kühlte sich die Freundschaft mit der Türkei ab und wandte sich der Schah von Persien vom Kreml ab. Beide, Persien und die Türkei, stehen heute der Sowjetunion eher feindlich gegenüber.

Nun scheint Chruschtschow heute in bezug auf Asien und Afrika eher zur Theorie Lenins zurückzukehren. Da der Kommunismus im Fernen Osten vertragsmäßig zur Kompetenz Pekings gehört, scheint es dem Kreml gar nicht so sehr daran gelegen, die übrigen asiatischen Länder unter kommunistische Herrschaft zu bringen. Er sucht vielmehr die Freundschaft nationalistischer, vom Moskauer Standpunkt bürgerlicher Bewegungen. In den Ländern Asiens führt Moskau reine russische Staatspolitik. Das ursprüngliche Ziel dieser Politik beruht auf folgenden Erwägungen: Wenn wir in diesen Ländern-nicht die Freundschaft der heute herrschenden Schicht suchen und ihnen wirtschaftlich helfen, dringt dort entweder der westliche Kapitalismus — oder der chinesische Kommunismus ein: beides eine Katastrophe für die Sowjetunion!

Es ist nicht zu leugnen, daß in einer Reihe asiatischer Länder die Voraussetzungen für die heutige Kremlpolitik sehr günstig sind. Zum Teil, wenigstens auf psychologischem Gebiet, ist auch hier die Sowjetunion die Erbin der zaristischen Vergangenheit. So reaktionär das zaristische Regime beinahe in seiner gesamten Politik auch war, in Asien wirkte auch der Zar eigentlich fortschrittlich. Die Russen kennen im Gegensatz zu vielen anderen Völkern der weißen Rasse keine rassenmäßigen Vorurteile. Sie kannten auch nie in ihrer Geschichte irgendwelche Rassenschranken. Wenn der Zarismus fremde Völker und Rassen unterdrückte, so geschah es aus religionspolitischen Gründen^ Ein Mohammedaner oder Buddhist war benachteiligt nicht wegen seiner Rasse, sondern wegen seiner Religion. Wenn sich ein Mohammedaner griechisch taufen ließ, war er damit gleichberechtigt mit jedem Russen. Im täglichen Leben, ebenso wie bei sich zu Hause, machten die Russen soziale Linterschiede, jedoch keine rassenmäßigen. Eben, daß neben dem chinesischen Kuli, wenn möglich noch zerlumpter, in Russisch-Asien ein zerlumpter Russe arbeitete, eben das veranlaßte bis heute die Asiaten, sich den Russen gegenüber anders einzustellen, als den übrigen weißen Völkern gegenüber. Wenn im Westen von der letzten Kolonialmacht der Sowjetunion gesprochen wird, so empfinden dies die Asiaten, auch wenn sie noch so weit vom Kommunismus entfernt sind, ganz anders. Und wenn der Lebensstandard des Russen selbst auch noch bedeutend niedriger ist als im europäischen Westen, so ist der Lebensstandard des sowjetischen Asiaten, in der Masse gesehen, bedeutend höher als der eines seiner x-beliebigen nichtrussischen Rassengenossen. Mit einem Wort: die meisten Vertreter der führenden Schicht des heutigen Asien, welche die Emanzipation und die moderne Entwicklung ihrer Völker anstreben, sehen die asiatischen Sowjetrepubliken als ein Vorbild an, das auch sie verwirklichen möchten, ohne daß sie dabei unbedingt die 1 kommunistische Ideologie annehmen.

Das Streben, sowohl den Westen wie die Sowjetunion als Vorbild zu nehmen, ist die Grundlage der Neutralitätspolitik jener asiatischen Staaten, die Chruschtschow unlängst besucht hat. Sie gibt den Sowjets auch die Möglichkeit, auf wirtschaftlichem Umwege gewissen politischen Einfluß zu erlangen. Die sowjetische Hilfe an unterentwickelte Völker ist nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen geboren. Sie sucht keine rentablen Kapitalsanlagen, keine Eroberung von Märkten, wohl aber eine Einflußnahme auf die Außenpolitik der betreffenden Staaten: eben, daß sie sich nicht allzu eng an den Westen anschließen und die Einkreisung der Sowjetunion vollenden und daß sie im Ernstfall neutral bleiben. Es ist wahrscheinlich, daß die Sowjets dieses politische Ziel auch erreichen.

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