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Zwei Bataillone Fallschirmjäger...

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„Was wird mich in diesem Hexenkessel zu Ostern erwarten?“ denkt Pilatus mit einem aus Ärger und Ekel gemischten Gefühl, als die Maschine, von Caesarea kommend, In tausend Meter Höhe Jerusalem überfliegt.

Fast zwei Jahre war er jetzt Mili-tärbefehlshaber von Judäa und drei Jahre tobt nun schon dieser erbarmungslose Partisanenkrieg, den er hätte beenden sollen und der nur immer mehr an Ausdehnung und Härte zunahm. Immer wieder Granatwerferüberfälle auf römische Stützpunkte, Sprengungen von Eiserubahnbrücken, Pipelines und Starkstromleitungen, Vernichtung römischer Lastwagenkonvois, Abschuß von Hubschraubern; alle Strafexpeditionen, Geiselerschießungen, Zwangsumsiedlungen vergebens, dm Gegenteil, vermehren nur den Haß der gequälten Landbevölkerung und der städtischen Intelligenz auf die Römer. Die Hoffnung, durch Luftbombardements der Verbindungswege den Waffennachschub aus Arabien zu unterbinden, war längst zunichte — und mehr als achttausend römische Legionäre bis jetzt gefallen.

Minuten später setzt die Viscount auf der Betonpiste des Militärflughafens auf, rollt aus und kommt zum Stehen. Der General klettert mit etwas steifen Beinen die eilig hingeschobene Gangway hinab, begrüßt Oberst Valerius, den Stadtkommandanten Jerusalems, nimmt die Meldung des Majors vom Flughafen mit steinernem Gesicht entgegen, schreitet die angetretene Halfokompaniie der Fallschirmjäger ab, besteigt den wartenden Chevrolet und läßt sich mit einem Aufseufzen in den Sitz fallen.

Von der anderen Seite des Wagens ist Valerius eingestiegen. „Nun, mein Freund, was gibt's?“ fragt Pilatus mit etwas müder Stimme. Es war ihm zwar schon bei der Ankunft die nervös-gespannte und zugleich siegreich-zufriedene Miene von Valerius aufgefallen, aber da ähim in den letzten Nachrichten vor dem Abflug nichts Außergewöhnliches gemeldet worden war, sah er keinen Grund zur Beunruhigung.

„Wir haben ihn!“ stößt Valerius triumphierend hervor.

„Wen?“

„Barrabas!“

„Was ... nein ... wirklich?“ Plötzlich ist Pilatus hellwach. Der fast schon legendäre Führer der jüdischen Volksbefreiungsarmee, der Anstifter dieses entsetzlichen Krieges, schon vor einem Jahr in Abwesenheit zum Tode verurteilt, endlich in der Hand der Römer! „Wie ist euch das gelungen?“ „Vor drei Tagen kam ein anonymer Anruf, daß sich in der Vorstadt Tal-bieh einige Führer der Aufständischen treffen würden, um die letzten Vorbereitungen zu besprechen, um jetzt zu Ostern, also übermorgen, in ganz Jerusalem loszuschlagen. Wir kontrollierten unauffällig die Zufahrtsstraßen — und eben vor einer Stunde ging er uns in die gestellte Falle.“

„Wo habt ihr ihn hingebracht?“ „Auf die Burg Antonia.“ Die Freude in Pilatus über den geglückten Fang sinkt auf den Nullpunkt. In der Zitadelle Jerusalems hält man den Helden der Resistance gefangen, mitten in der Stadt, in der gerade Hunderttausende zum Osterfest zusammenströmen, Hunderttausende religiös Begeisterter, viele Fanatiker, in der Mehrzahl erbitterte Feinde der römischen Besatzurngs-macht, auf das Wort eines Demagogen oder durch eine einzige psychologisch falsche Maßnahme der Römer in Minutenschnelle zum Aufstand zu bringen! Und mittendrin, mit diesem Gefangenen — und einer Handvoll Fallschirmjäger, sitzt nun er. Pilatus, von den Hunderttausendein des Volkes genauso gehaßt wie Barrabas von ihnen bewundert und verehrt. Es ist zum Lachen! Wenn man Barrabas zwei Wochen später gefangen hätte, irgendwo in einem kleinen Nest, man hätte ihn nach Rom — und zum Sprechen bringen können.

„Hat sich die Verhaftung schon herumgesprochen?“ „Wie ein Lauffeuer!“ „Und die Stadt?“

„Bis jetzt noch nichts Besonderes, kleinere Zwischenfälle wie alljährlich.

Es fehlt also nur der berühmte Funke ins Pulverfaß. Ärger und Müdigkeit sind in Pilatus verflogen und haben einem merkwürdigen, schwer zu beschreibenden Mischee-fübl aus Galgenhumor, Kaltblütigkeit und sportlichem Ehrgeiz, mit der Lage fertig zu werden, Platz gemacht. So viel ist gewiß: er sitzt in einer Mausefalle! Zwei Bataillone Fallschirmjäger! denkt er immer wieder. Gewiß, harte Burschen aus der Ro-magna und dem Aostatal. Er kann sich auf jeden Mann verlassen. Aber wie lange können sie durchhalten? Das Schicksal der mit Rom kollaborierenden Regierung des Ministerpräsidenten Kaiphas und seines Stellvertreters Annas im Falle eines allgemeinen Aufstandes beschäftigt ihn keine Sekunde. Denn daß es zu einem gewaltsamen Versuch, Barrabas zu befreien, kommen werde, steht für ihn außer Zweifel.

„Wie lange können wir uns halten, Valerius?“

„Munition und Verpflegung reichen für vier Wochen. Aber meine Sorge ist das Trinkwasser. Außerdem ist der Flugplatz nicht zu halten, wir sind auf den Abwurf von Nachschub angewiesen. Und ob wir die Verbindung von der Zitadelle zum Praetorium an der Westecke der Stadt aufrechterhalten können, ist fraglich.“

„Und die nächste Panzerdivision, die uns heraushauen kann, die zwölfte, liegt 260 Kilometer weit entfernt in Damaskus“, denkt Pilatus diesen Satz zu Ende. „Nun ja, wir werden sehen. Sonst noch was Besonderes, Valerius?“ „Nein — das heißt, doch. Gestern abend ist von der Polizei des Kaiphas ein Wanderprediger aus Nazareth verhaftet worden. Heißt, glaub' ich, Jesus oder so. Soll sich um einen

Fall von Religionsstörung oder Ähnliches handeln. Hält sich angeblich für den Sahn Gottes.“ Pilatus zuckt gelangweilt die Achseln.

„Ja, aber darauf steht bei diesen Leuten, soviel ich weiß, die Todesstrafe. Von einem Verbindungsmann zur Zivilverwaltung habe ich so etwas venlauten hören, daß dieser Mann noch in der Nacht verurteilt worden ist. Das Urteil wird Ihnen wahrscheinlich heute noch zur Bestätigung vorgelegt.“ „Der Verwaltungsalltag“, denkt Pilatus.

Die Eskorte hat das Praetorium erreicht. Die Wachen präsentieren, Pilatus steigt aus, erwidert die Ehrenbezeigung, geht die Treppe hinauf und denkt nur noch an ein erfrischendes Bad.

Eine Stunde später steht er schon wieder mitten in den Ereignissen, muß Entscheidungen treffen, von denen er weiß, daß sie das Leben von Tausenden, vielleicht das Schicksal einer Provinz, vielleicht auch seinen Aufstieg oder seinen Untergang bedeuten können. — Die Aussicht, Barrabas sicher und ohne Aufsehen nach Caesarea zu bringen, ist im Augenblick gleich Null. Anderseits: die Vollstreckung des bereits gefällten Todesurteils würde den Kessel der politischen Leidenschaften zum Überlaufen bringen. Also: weiter in Gewahrsam halten, Gelassenheit zeigen. Eine Abordnung des Oberlandesgerichts unter Führung von Justizminister Annas spricht bei ihm vor, unterbreitet das Todesurteil über Jesus von Nazareth, erbittet die Bestätigung.

„Ich finde keine Schuld an ihm“, sagt Pilatus, nachdem er den Akt überflogen hat.

„Herr General, wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muß er sterben; er hat sich für den Sohn Gottes erklärt!“

„Ich habe jetzt keine Zeit für solche Lappalien!“ schreit Pilatus, den urplötzlich der nachhaltige Ton in der Stimme des Annas in Jähzorn versetzt. Mit einer Handbewegung entläßt er die Richter, läßt den Stadtkommandanten rufen. „Gerade war Annas bei mir in der

Angelegenheit Jesus von Nazareth“, sagt Pilatus ärgerlich. „Ist vollkommen unschuldig. Fällt unter die Osteramnestie.“

Valerius schweigt — beklommen, unheilverkündend, so lange, daß es Pilatus auffällt.

„Vielleicht richtig, General, aber unsere Situation hier jetzt läßt es nicht zu. Die Lage in der Stadt wird von Minute zu Minute bedrohlicher. Auf dem Herodesplatz und in der Augustus-Avenue größere Zusammenrottungen, die Landespolizei machtlos, einzelne Polizisten fraternisieren bereits mit den Demonstranten. Man trägt Transparente mit der Aufschrift .Freiheit für Barrabas' und ähnliche Parolen, um die Osteramnestie für Barrabas zu erzwingen.“

„Und um den Aufstand hier vielleicht um ein paar Tage hinauszuschieben, sollen wir Barrabas loslassen, wo wir mit dem Nazarener die Forderung nach der Osteramnestie so einfach erledigen könnten?“ „Das wäre die Lösung“, nickt Valerius, „aber so billig kommen wir nicht davon. Annas und Kaiphas, die patentierten Hüter von Tradition und Religion, haben sich so sehr mit dem Verfahren gegen Jesus identifiziert, daß eine Begnadigung durch uns ihr ohnehin geringes Prestige vollkommen vernichten würde. Und wir brauchen sie noch. Hinter ihnen stehen Hochfinanz, Handel und Schwerindustrie. Wir müssen ihnen den Wanderprediger opfern. Und der ruhige Ablauf des Osterfestes wird doch mit seinem Leben nicht zu teuer erkauft sein.“ „Alles richtig, was du sagst, aber was machen wir mit Barrabas?“ „Wir begnadigen Barrabas, wenn er zustimmt, ins Ausland ins Exil zu gehen. Wohin, bestimmen wir. Unser Geheimdienst hat einen langen Arm. Wir erreichen ihn, selbst wenn er nach Arabia felix geht.“ „Gut, Valerius, fertige die Befehle aus und laß.sie mir zur Unterschrift vorlegen.“

Ein paar Stunden später wird der Sohn Gottes gemeinsam mit zwei Widerstandskämpfern, die wegen angeblich krimineller Verbrechen nicht unter die Amnestie fallen, auf Golgotha gekreuzigt. Ein Zug Fallschirmjäger hat die Hinrichtungs-stätte umstellt. Valerius fährt selbst in einem Jeep hin und erkundigt sich nach dem Stand der Dinge.

„Um drei Uhr nachmittags ist der eine Verurteilte gestorben, die beiden anderen erhielten den Gnadenschuß“, meldet ihm der Leutnant. „Sonst noch was Besonderes, Gaius?“ „Schon, Herr Oberst. Im Augenblick, als Jesus starb, bebte die

Erde, und der Himmel verfinsterte sich. Meinen Sie, er könnte wirklich der Sohn Gottes gewesen sein?“ „Möglich, mein Junge“, sagt Valerius gedehnt, während er den Jeep wenden läßt und sich eine Zigarette ansteckt. „Aber das ist nicht Sache der Besatzungsmacht. Abrücket.“

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