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Zwei Drittel „unechte“ Arbeitslose!

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Die Zahl von fast 300.000, die die Arbeitslosenstatistik des heurigen Jänner auswies, steht zu den sonstigen Erfolgen unserer Wirtschaft in krassem Widerspruch. Der dadurch auftauchende Zweifel, ob es sich bei diesen Erfolgen überhaupt um eine echte wirtschaftliche Gesundung handle, gab der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft in Wien Anlaß, die Frage der Arbeitslosigkeit eingehender zu untersuchen.

Wann spricht man von echter Arbeitslosigkeit? Dann, wenn eine Person, die ihren Lebensunterhalt durch Einkommen aus unselbständiger Arbeit zu decken pflegt, dieser Möglichkeit beraubt ist. Der Grund hiefür kann in Arbeitsunfähigkeit wegen Erkrankung, Unfall, Invalidität oder im Alter oder schließlich im Mangel an Arbeitsplätzen liegen.

Die Sozialpolitik ist diesen sozialen Notständen durch versicherungsähnliche Einrichtungen begegnet. Die schroffe Verfechtung des Versicherungsprinzips und die naturwidrige Ausschaltung des jeder Sozialmaßnahme naturnotwendig innewohnenden Fürsorgeprinzips führt aber auch bei den anderen Zweigen der Sozialversicherung zu stetig steigenden finanziellen und verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten (bedenkenloser Massenkonsum von Medikamenten, Aerzte- honorarstreit); bei der Arbeitslosenversicherung treibt die Entwicklung vollends zur Katastrophe. Während diese Einrichtung noch für das Jahr 1948, da also noch das Arbeitslosenfürsorgegesetz in Kraft stand, einen Ueberschuß von fast 326 Millionen aufwies, hatte sie schon in den letzten drei Monaten des Jahres 1949 unter der Wirksamkeit des neuen Arbeitslosenversicherungsgesetzes, welches unter Verfechtung des Versicherungsprinzips die Gefährdung des Lebensunterhaltes des Arbeitslosen als Bedingung für die Gewährung der Arbeitslosenunterstützung aufgegeben: hatte, einen Abgang von über drei Millionen zu verzeichnen, der sich für das Jahr 1953 bereits auf über 615 Millionen belief und für das Jahr 1954 mit 631 Millionen veranschlagt werden mußte. Dabei betrugen die Beiträge 1951 noch das Fünffache des damaligen Abganges (513 zu 108 Millionen), im Jahre 1952 überschritten die Beiträge die Zuschüsse des Bundes trotz des gestiegenen Beschäftigtenstandes nur noch um 180 Millionen (593 zu 411 Millionen); im Jahre 1953 waren die Beiträge aber bereits niedriger als die Zuschüsse (590 zu 615 Millionen). Die Ausgaben selbst haben sich 1953 gegenüber 1948 verzehnfacht (von 115 Millionen auf 1206 Millionen), gegenüber 1951 verdoppelt (von 621 Millionen auf 1206 Millionen).

Seit 1949 wurde für die Arbeitslosenversicherung ein Betrag von 1 Milliarde 902 Millionen Schilling zugeschossen!

Dieser progressive Mißerfolg stellt eine Gefahr dar, die von Wirtschaft und Sozialpolitik nicht bagatellisiert werden darf.

Der Wirtschaft und Sozialpolitik muß es also darum gehen, ein klares Bild darüber zu gewinnen, inwieweit die von der Arbeitslosenstatistik gelieferten Zahlen die Fälle jenes sozialen Notstandes enthalten, der allein durch die sogenannte Arbeitslosenversicherung behoben werden soll.

Die Untersuchung der Statistik ergibt folgende Analysen der Zahl 2 9 9.5 4 8 (180.476 Empfänger von Arbeitslosengeld und 70.573 Empfänger von Notstandshilfe; Rest: ohne Unterstützung), die im Jänner 1954 als Stand der zur Vermittlung vorgemerkten Arbeitslosen ausgewiesen wurde:

1. Saisonarbeitslosigkeit: 160.225. In dieser Zahl sind 47.303 Arbeitslose inbegriffen, die auch in der besten Saison trotz regster Nachfrage arbeitslos waren. Sie können nicht mehr als Saisonarbeitslose gewertet werden und sind daher aus der obigen Zahl auszuscheiden. Es gab also im Jänner 112.922 vollvermittlungsfähige arbeitslose Saisonarbeiter.

Das Aussetzen aller Saisonarbeiter, auch der nicht mehr als solche Entlohnten, in der toten Saison ist aber nicht gleichbedeutend mit jener Arbeitslosigkeit, die jenen sozialen Notstand darstelltį der als ungewisses Ereignis sozialer Abhilfe bedarf. Diese Auffassung wird nach der Wahrnehmung der Arbeitsämter von den aussetzenden Saisonarbeitern selbst vertreten; trotzdem betrachten sie es als wohlerworbenes Recht, während der toten Saison Arbeitslosenunterstützung zu beziehen, mit Vermittlung in Arbeit aber verschont zu bleiben.

Die Gewährung des Arbeitslosengeldes an die aussetzenden Saisonarbeiter zeigt klar, daß hier die Anwendung des Versicherungsprinzips ein Widerspruch in sich ist, denn die Gesamtheit der Aussetzenden hebt während der toten Saison so ziemlich alles ab, was von ihnen und ihren Arbeitgebern an Beiträgen geleistet wurde. Die Zahl der arbeitslosen Saisonarbeiter wird überdies während der toten Saison um so größer sein, je günstiger sich die vergangene Saison abgewickelt und zur Vermehrung des Beschäftigtenstandes geführt hat. Sie drückt also keineswegs eine krisenhafte Erscheinung des Arbeitsmarktes aus. Damit ist klar, daß das Problem der Saisonarbeitslosigkeit mit jenem der allgemeinen Arbeitslosigkeit und mit dem Begriff der Vollbeschäftigung nicht in Verbindung gebracht werden kann.

2. Die unechte Arbeitslosigkeit. Nach Abzug der 112.922 vollvermittlungsfähigen arbeitslosen Saisonarbeiter vom Gesamtstand (299.548) verbleiben demnach 186.626 sonstige Arbeitslose. Diese Zahl umfaßt auch solche Personen, die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen unzugänglich sind, weil sie entweder nur beschränkt vermittlungsfähig oder nur formell arbeitslos oder scheinarbeitslos sind.

a) Die beschränkt vermittlungsfähigen Arbeitslosen. Ihre Zahl ist in der Jänner-Statistik mit 47.198 angeführt. Es handelt sich um 7618 Personen, die wegen Ueberschreitung des 60. (bei Frauen beziehungsweise des 65. Lebensjahres (bei Männern) und um 39.580 Personen, die aus gesundheitlichen Gründen kaum in Arbeit vermittelt werden können, wobei die Minderung der Arbeitsfähigkeit aber noch nicht unter ein Drittel der vollen Arbeitsfähigkeit gesunken ist.

Solange es neben diesen Personen vollvermittlungsfähige Arbeitslose gibt, stellen sie Arbeitskräfte dar, die auf dem Arbeitsmarkte nicht gefragt sind und für die arbeitsmarktpolitische Hilfsmaßnahmen kaum gefunden werden können. Die Zahl der beschränkt Arbeitsfähigen wird sich von selbst in der Arbeitslosenstatistik auf mindestens 20.000 verringern, und zwar durch die bevorstehende Neuregelung des Begriffes „Invalidität" in dem Sinne, daß eine solche schon gegeben ist und zum Bezug einer Invalidenrente führt, wenn die Arbeitsfähigkeit um 50 bis 663/s Prozent gemindert ist.

b) Formelle Arbeitslosigkeit: Der breiten Oeffentlichkeit ist es nicht bekannt, daß insbesondere in Wien tausende Personen bei den Arbeitsämtern vorgemerkt sind, obgleich sie weder einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung besitzen noch die Absicht haben, Arbeit anzunehmen; sie wollen nur durch die Einhaltung der Kontrollmeldungen beim Arbeitsamte einen Rentenanspruch bis zum Eintritt des Versicherungsfalles (Arbeitsunfähigkeit oder Alter) wahren. Die formell Vorgemerkten, die natürlich ebenfalls nicht als Arbeitskraftreserve angesprochen werden können, werden statistisch bei den nichtunterstützten Vorgemerkten gezählt. Ihre Zahl im Jänner wird von Fachleuten mit 13.000 angenommen.

c) Fingierte Arbeitslosigkeit: Es gibt kaum jemanden, dem nicht in seiner Nachbarschaft der eine oder andere Fall eines Mißbrauches der sozialen Einrichtungen der Arbeitslosenversicherung bekannt ist. Der Allgemeinheit weitgehend unbekannt ist aber das Ausmaß dieses Mißbrauches, und zwar nicht nur seitens der Arbeitnehmer.

Die Jahresberichte des Landesarbeitsamtes Wien (Verlag Paul Ueberreuter, Wien), die seit 1949 den in Wien durch mißbräuchlichen Bezug- der Arbeitslosenunterstützung entstandenen Schaden anführen, geben Anlaß zu schwerster Besorgnis. 1949 waren es 1,249.948.68 Schilling, im folgenden Jahre 1,775.386.82 Schilling. Im Jahresbericht über 1952 (Seite 27) werden 18.013 (im Vorjahre 18.139) Mißbrauchsfälle mit einer Schadensumme von 2,714.950 Schilling genannt. Auf Seite 29 dieses Berichtes ist die sehr bedenkliche Tatsache vermerkt, daß bei Ueberprüfung von 98 Firmen mit einem Beschäftigtenstand von rund 8000 Arbeitnehmern 814 Mißbrauchsfälle aufgedecki wurden. Die Vermutung, daß die tatsächlichen, nichtentdeckten Mißbrauchsfälle eir Mehrfaches der entdeckten betragen, isi berechtigt.

Man geht nicht fehl, die Zahl der Arbeitslosen, die während des Unterstützungsbezuge: ständig in ausreichendem Verdienst und ir Arbeit stehen, für das Bundesgebiet mit 10.000 anzunehmen, wovon der weitaus größte Teil auf Wien entfällt. Das heißt aber daß monatlich mindestens vier Millioner Schilling betrügerisch bezogen werden.

Häufig ist bei diesem Mißbrauch die Mitwirkung eigennütziger Arbeitgeber (hauptsächlich bei Vergebung von Heimarbeiten festzustellen. Ursache hiefür ist die mit dei Arbeitslosenunterstützung verbundene Krankenversicherung. Der Arbeitgeber, der einer unterstützten Arbeitslosen beschäftigt, läuft nämlich bei Unterlassung-der Anmeldung zur Krankenversicherung nicht Gefahr, im Erkrankungsfalle ersatzpflichtig zu werden.

Nur Rückkehr zum strafweisen Ausschluß vom Unterstützungsbezug und Verschärfung der verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Urteile sowie Intensivierung der Kontrolle der Arbeitslosen könnte den Mißbrauch wirksam bekämpfen.

d) Frauenarbeitslosigkeit: Nach den Feststellungen des Oesterreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung beträgt der Anteil der Frauen am Gesamtstand der B e- schäftigten in Oesterreich ständig 38 bis 39 Prozent. Der Anteil der weiblichen A r- beitslosen am Gesamtstand der Arbeitslosen aber betrug 1953 in Wien 51,5 Prozent im Jahresdurchschnitt, im übrigen Bundesgebiet (ohne Wien) 26,6 Prozent.

Es gibt also nur in Wien ein Problem der Frauenarbeitslosigkeit. Darauf weist auch die Tatsache hin, daß hier die Zahl der weiblichen Arbeitslosen in ständigem Anstieg begriffen ist und von Saison und Konjunktur nur schwach beeinflußt wird.

Da der Anteil der Frauen am Beschäftigtenstand in bestimmten Berufen stabil ist, der Anteil am Arbeitslosenstand aber ständig steigt, ist es offenkundig, daß sehr viele Frauen die Arbeit in diesen Berufen nur vorübergehend aufnehmen, um mit ihr den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zu erwerben.

Schuld an dieser Erscheinung trägt ausschließlich das Gesetz. Daher kann auch nur von dieser Seite her die Abhilfe einsetzen. Vor allem muß der Gesetzgeber die Arbeitslosenversicherung, ähnlich wie es vor 1938 war, auf den Kreis der arbeitsmarktzugehörigen Personen zu beschränken trachten. Weiter muß der Gesetzgeber wieder zu dem sozialpolitischen Grundsatz zurückfinden, daß die soziale Fürsorge für die Arbeitslosen nur dann zur Auswirkung kommt, wenn sie sozial notwendig ist. In dieser Richtung zeigt die 6. Novelle bereits beachtenswerte Ansätze.

Die Zahl der von der Statistik erfaßten arbeitslosen Frauen, die nicht als echte Arbeitskraftreserve anzusprechen und daher bei afbeitsmarktpolitischen Maßnahmen außer Betracht zu lassen sind, betrug im Jänner schätzungsweise 20.000.

e) Arbeitsunwilligkeit: Nur gelegentlich besteht die Möglichkeit, die sogenannte Ärbeitswilligkeit der Arbeitslosen zu prüfen, nämlich dann, wenn man ihnen eine konkrete Arbeit oder Umschulung anbieten kann. Ergibt sich diese Gelegenheit, dann können die Arbeitsämter Wiens immer wieder feststellen, daß ein Großteil der Arbeitslosen nicht bereit ist, die vom Arbeitsamte angebotene Arbeit anzunehmen oder sich einer Schulung zu unterziehen. Da die derzeitige Arbeitslosenunterstützung allein für die Lebenshaltung nicht ausreicht, müssen diese Arbeitslosen noch andere Unterhaltsquellen haben. Eine schärfere Maßnahme gegen Arbeitsverweigerung kennt das Gesetz nicht. Das alte Arbeitslosenversicherungs-

gesetz sah für diese Fälle eine Ausschlußfrist von mindestens acht Wochen, wenn es sich um Bezieher der Notstandshilfe handelte, aber den dauernden Ausschluß vor. Die Rückkehr zu diesen strengeren Bestimmungen ist unvermeidlich. Der zahlenmäßige Umfang der unechten Arbeitslosigkeit dieser Art ist nicht abschätzbar.

3. Die echte Arbeitslosigkeit: Nach den obigen Ausführungen sind in der Jänner-Statistik insgesamt 203.120 beim Arbeitsamt gemeldete Personen enthalten, auf die sich Maßnahmen der allgemeinen Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftspolitik aller Wahrscheinlichkeit nach direkt nicht auswirken können und deren Zahl auch nicht ein Bild jener echten Arbeitslosigkeit gibt, die als sozialer Notstand, dessen Bekämpfung Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ist, zu bezeichnen ist.

In diesem sozialen Notstand befanden sich demnach von den im Jänner als arbeitslos benannten 299.548 Personen höchstens 9 6.4 2 8 Arbeitnehmer, die ihre in der unselbständigen Erwerbstätigkeit liegende Exi-

: stenzgrundlage verloren haben. Diese Zahl i bedeutet aber, daß im Jänner nicht ganz ' 6 Prozent des Beschäftigtenstandes (rund 1,800.000) arbeitslos im Sinne einer echten

• Arbeitskraftreserve waren. Für den Jahres-

• durchschnitt ist dieser Prozentsatz natürlich : niedriger, so daß nach internationalem Maßstab, der noch bei 6 Prozent des Jahresdurchschnittes Vollbeschäftigung annimmt, bei uns die Vollbeschäftigung bereits gegeben ist.

Bei diesen 100.000 handelt es sich aber um voll arbeitsfähige Menschen, deren derzeitige Existenzgrundlage nur die Arbeitslosenunterstützung bildet. Infolge der weit unter dem Existenzminimum liegenden Unterstützung befinden sich diese Menschen (samt ihrer Familie) größtenteils in ärgster Not, die in solchem Umfange von unserer aufstrebenden Volkswirtschaft nicht veranwortet werden kann.

Hier aber kann Abhilfe nur auf dem Wege der Gesetzesänderung geschaffen werden.

Die Sanierung der Arbeitslosenversicherung würde im wesentlichen folgende Maßnahmen voraussetzen:

1. Als Unterlage für die Konzipierung des neuen Gesetzes soll der Text des Arbeitslosenversicherungsgesetzes von 1920 in der letzten Fassung dienen.

2. Erhöhte Anwartschaftszeiten und beschränkte Leistungen für arbeitsmarktfremde Personen.

3. Gefährdung des Lebensunterhalts allein soll als Voraussetzung für jeden Anspruch auf Unterstützung aus den Mitteln der Arbeitslosenversicherung angesehen werden.

4. Erhöhung der Unterstützung auf ein Maß, das Gefährdung des Lebensunterhalts des Arbeitslosen und seiner Familie ausschließt.

5. Erhöhung der Beiträge zur Deckung der erhöhten Unterstützungssätze; sie kann geringfügig sein, da der Mehraufwand durch den Ausfall bisher Berechtigter reichlich kompensiert wird.

6. Wirksame Bestimmungen zum Schutze der Arbeitslosenversicherung vor Ausnützung und Mißbrauch.

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