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Zwei Jahre Verstaatlichung in der Tschechoslowakei

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Am Vorabend des zweiten Jahrestages, da vom Balkon des Nationalmuseums auf dem Wenzelsplatz in Prag das Dekret des Staatspräsidenten über die Verstaatlichung der Industrie verkündet wurde, erstattete der tschechoslowakische Industrieminister Lausch-man der verfassungsgebenden Nationalversammlung Bericht über die bisherigen Leistungen und Erfolge seines Ressorts. Sowenig sich eine objektive Beurteilung etwa nur auf diese offiziellen Zahlen beschränken darf, so wichtig sind sie aber als authentisches Material angesichts der Reichweite dieses großzügig in Angriff genommenen Verstaatlichungsunternehmens und des Interesses, mit dem die ganze Welt seinen Erfolg oder Mißerfolg abwartet.

Daß die Anfänge der verstaatlichten Industrie ein Mißerfolg waren, hat man auch in Prag ziemlich unumwunden zugegeben. Inzwischen hat sich die Lage der verstaatlichten Industrie wesentlich gebessert und mit weitreichender staatlicher Förderung in mancher Hinsicht sogar die Leistung der Privatindustrie überflügelt.

Heute sind sämtliche Bergwerke verstaatlicht, ebenso alle Eisen-, Stahl- und Walzwerke, die Rüstungs- und Sprengstoff Industrie, der Lokomotiv- und Waggonbau, die Herstellung von Last- und Personenautos,' Autobussen und Motorrädern, ferner alle Erzeugungsstätten für Chemikalien, Medikamente, Zellulose, Kunstseide, Jutegewebe, Telephoneinrichtungen, Flachglas, Fahrzeugbereifung, Zement und Düngemittel. Die übrigen Industrien wurden von einer gewissen Betriebsgröße A verstaatlicht, so Maschinen-, Fahrzeug- und sonstige Metallwarenfabriken ab 500 Beschäftigten, Gießereien ab 400, Papierfabriken ab 300, Ziegeleien ab 200, Sägewerke ab 150 Beschäftigte, Brauereien mit einem Ausstoß von mindestens 150.000 Hektoliter jährlich, Mühlen mit einer Tagesleistung von 60 Tonnen. I n diesen Industriezweigen ist die Privatwirtschaft heute noch mit folgenden Prozentsätzen beteiligt: Elektromotoren 22 Prozent, Rundfunkempfänger 11.2 Prozent, elektrische Energie 55 Prozent,

Glühbirnen 11 Prozent, landwirtschaftliche Maschinen 35 Prozent, Traktoren 8 Prozent, Fahrräder 8 Prozent, Nähmaschinen 2V2 Prozent, Papier 15 Prozent, Textilien etwa 30 Prozent, Küchengeschirr 35 Prozent, Hohlglas 2 Prozent, Zucker 30 Prozent, Müllereiprodukte 91 Prozent, Kunstfett 35 Prozent, Spiritus 78 Prozent, Bier 66 Prozent.

Die Zahl der verstaatlichten und der privaten Betriebe verhielt sich anfangs 1947 bei Zugrundelegung der Beschäftigtenzahl wie 61.5 : 38.5, unter Zugrundelegung der Produktionsleistung wie 59.2 :40.8. Nach der endgültigen Verteilung der ehemals sudetendeutschen Industrie dürfte sich das Verhältnis auf 7 : 3 verschieben.

Während im Juni 1946 die Produktion pro Arbeitskraft in den verstaatlichten Betrieben 10.877 Kc“, in der Privatindustrie hingegen 13.198 KcS betrug, hat sich nach den Ausführungen des Industrieministers dieses Verhältnis nun wesentlich verschoben: in den Staatsbetrieben entfällt nunmehr auf den Kopf des Beschäftigten eine Produktion im Wert von 13.380 Kc“, in der Privatwirtschaft nur von 12.325 Ki. Der Lohnanteil an den Fertigungskosten ist aber in den Staatsbetrieben mit 27.4 Prozent immer noch höher als in der Privatindustrie, , wo er nur 23.1 Prozent beträgt.

War im Jahre 1946 vor allem das Mil-Konendefizit der eisenverarbeitenden Staatsbetriebe am beunruhigendsten, so bildet heuer die Kohle den gefährlichen Engpaß der Wirtschaft. Das ständige Nadihinken hinter den nicht überspannten Forderungen des Zweijahresplanes ist noch keineswegs überwunden und wird sich — wie kürzlich die Generaldirektion der staatlichen Gruben erklärte — in den Wintermonaten noch weiter erhöhen. Hauptursache für das Versagen des Kohlenbergbaues ist angeblich der Menschenmangel: gegenüber den Ansätzen des Zweijahresplanes fehlen 9000 Bergleute, also rund 10 Prozent der jetzigen Belegschaft einschließlich der zivilen und militärischen Arbeitsbrigaden, die aber vom Minister nur als kostspielige Notlösung bezeichnet werden. Nicht nur die Zahl der deutschen Fachleute hat sich im Laufe dieses Jahres verringert, auch die der tschechischen Arbeiter hat um 2600 abgenommen und mußte durch Arbeitskräfte aus anderen slawischen Nationen ersetzt werden. Die Arbeitsleistung pro Kopf und Schicht bleibt noch stark hinter dem Vorkriegsstand zurück und es war, um die erforderliche Produktionsziffer wenigstens annähernd zu erzielen, naoh den Ausführungen des Ministers erforderlich, den Stand der Belegschaft gegenüber früher wesentlich zu erhöhen: im Steinkohlenbergbau, wo er 1937 nur 42.000 betrug, ist er jetzt auf 55.000 angestiegen, im Braunkohlen-bergbau'wurde er von 28.000 im Jahre 1937 auf 34.000 im Jahre 1947 erhöht. Die Passiven des staatlichen Bergbaues sind infolgedessen von 6 Milliarden Kc zu Beginn dieses Jahres auf 7,4 Milliarden Kc in der Jahresmitte angestiegen.

Außenpolitisch hat die Verstaatlichung, die schon im Londoner Plan der tsdiechischen Exilregierung vorgesehen war und später auch in das Kaschauer Programm der tsdiechischen und slowakischen Parteien Aufnahme fand, insofern zu Schwierigkeiten geführt, als im Ausland Ersatzansprüche geltend gemacht werden, die allein aus den Vereinigten Staaten eine Höhe von 2 Milliarden Kc erreichen und unter anderem zur Errichtung eigener Vermögenssicherungsgesellschaften in London und Tel Aviv geführt haben. Die bedeutendsten dieser etwa 1 0 0 0 Fälle sind die Brüxer Kohlengruben der Familie P e t s c h e k, die Schicht-Werke in Aussig des Unileverkonzerns, die Vakuum-Oil-Company - Anteile der Familie Rothschild an den Witkowitzer Eisenwerken usw.

Eines der Hauptübel in der verstaatlichten Industrie ist die große Zahl der versäumten Arbeitsstunden, also neben dem tatsächlichen Arbeitsausfall infolge Krankheit usw. die „blauen Montage“ oder, wie man heute in der Tschechoslowakei schon sagt, die „blauen Dienstage“. Sie machten im ersten Quartal 1947 in der Privatwirtschaft 8.8 Prozent, in den Staatsbetrieben 10 Prozent aus, im zweiten Quartal stiegen sie auf 9 Prozent, beziehungsweise 12 Prozent an und erreichten ihren Höhepunkt in den Sommermonaten, wo sie in den Hüttenbetrieben 14 Prozent, im Bergbau 20 Prozent betrugen.

Verzeichnet wird das Überhandnehmen des Bürokratismus in der Wirtschaft. So erklärte unlängst eine Prager Zeitung, die Verhandlungen mit der verstaatlichten Industrie seien für einen Geschäftsmann schwieriger als mit einem Mandarin in China. Schon in früheren Reden hatte der Industrieminister eine Reihe weiterer Mängel gegeißelt: die übertriebene Höhe der Repräsentationsauslagen der zahlreichen Funktionäre, Spekulationen mit Überstundenentlohnungen, übermäßige Ausgaben für unproduktive Einrichtungen; zahlreiche Fälle von Unterschlagungen, Diebstählen Und Betrügereien der neuen Leiter. Diesmal forderte vor allem der Mangel an Verantwortungsbewußtsein die leichtsinnige Pflichtauffassung und die Lauheit bei der Erfüllung der zugewiesenen Arbeiten die Kritik des Ministers heraus, der hiefür auch ein besonders krasses Beispiel anführte, das sich unlängst in Warnsdorf ereignet hat: dort verbrannten 3000 Kilogramm Baumwolle nur deshalb, weil die Bediensteten den Brand nicht löschten, da eben EMenstschluß war.

Die abgelaufenen zwei Jahre sind noch eine zu kurze Frist, als daß alles Für und Wider schon heute gerecht abgewogen werden könnte. Zweifellos sieht aber das Bild erheblich besser aus als anfänglich. Einen bedeutenden Vorteil hatten jedenfalls die Verstaatlichungsmaßnahmen der Tschechoslowakei durch die entschädigungslose Beschlagnahme der reichverzweigten und hochentwickelten sudetendeutschen Industrie.

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