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Zwei Schritte vorwarts - einen zuruck

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Die erfolgreiche Reformepoche des österreichischen Unterrichtswesens unter dem Minister Leo Graf Thun-Hohenstein (1849/60, Gymnasialreform, Hochschulreform) ging kläglich zu Ende. Nach der militärischen Niederlage von 1859 wurde der Minister weggeschickt und der Verwaltungsreform, die dem verlorenen Krieg folgte, fiel zuerst das Unterrichtsministerium zum Opfer. In den sechziger Jahren hat es dann im Kulturstaat Österreich kein Unterrichtsministerium gegeben. Das erst am 2. März 1867 wiederhergestellte Unterrichtsressort trat allerdings mit einer der größten Taten, die je das österreichische Schulwesen vollbrachte, an die Öffentlichkeit: Vor bald genau 100 Jahren, am 20. Mai 1869, wurde im „Reichsgesetzblatt für das Kaisertum Österreich“ das berühmte Gesetz publiziert, durch „welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volksschulen festgelegt werden“.

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Die erfolgreiche Reformepoche des österreichischen Unterrichtswesens unter dem Minister Leo Graf Thun-Hohenstein (1849/60, Gymnasialreform, Hochschulreform) ging kläglich zu Ende. Nach der militärischen Niederlage von 1859 wurde der Minister weggeschickt und der Verwaltungsreform, die dem verlorenen Krieg folgte, fiel zuerst das Unterrichtsministerium zum Opfer. In den sechziger Jahren hat es dann im Kulturstaat Österreich kein Unterrichtsministerium gegeben. Das erst am 2. März 1867 wiederhergestellte Unterrichtsressort trat allerdings mit einer der größten Taten, die je das österreichische Schulwesen vollbrachte, an die Öffentlichkeit: Vor bald genau 100 Jahren, am 20. Mai 1869, wurde im „Reichsgesetzblatt für das Kaisertum Österreich“ das berühmte Gesetz publiziert, durch „welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volksschulen festgelegt werden“.

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Dieses Gesetz, das Reichsvolksschulgesetz, stellte das Elementarschul-wesen auf die Höhe der Zeit:

• Achtjährige Pflichtschule.

• Staatliche Schulaufsicht anstatt der Bindung der Schulaufsichts-organe an die Kirche.

• Heranbildung der Lehrer in vierjährigen Lehrer- und Lehrerinnen-bildunsanstalten.

• Gliederung der achtklassigen Volksschule in eine fünfklassige Volksschule und eine dreiklassige

Bürgerschule (unter städtischen Ver-häWMÄäUjl* w*n8 eist &eh ,biw

Das..ReichsvQlksschulgesetz„ 1869 ist die „Volksschule für die Nationen des Donauraumes“ gewesen. Zwischen dem Bodensee und dem Pruth hat es das Zivilisationsgefälle wenigstens auf dem Boden Alt-Österreichs begradigt. In den Nachfolgestaaten der Monarchie ist die unverlierbare, segensreiche Wirkung des Reichsvolksschulgesetzes bis auf den heutigen Tag kartographisch nachweisbar.

Am 18. April 1883, 14 Jahre nach dem Inkrafttreten des Reichsvolksschulgesetzes, bestieg der Reichsratabgeordnete Eduard Sueß, Ordinarius für Geologie an der Wiener Universität, später Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, leidenschaftlicher Vorkämpfer des politischen und kulturellen Liberalismus in Österreich, die Rednertribüne im Abgeordnetenhaus der Opposition gegen jene Ausschußanträge, die mit Unterstützung der Regierung eingebracht worden waren, um die Fortschritte des Reichsvolksschulgesetzes 1869 in wichtigen Teilen aufzuheben.

• Für das 7. und 8. Schuljahr sollten nicht nur individuelle, sondern umfangreiche generelle Erleichterungen im Schulbesuch gegeben werden.

• 100 Schüler in einer Klasse sollten zugelassen sein.

• Das Lehrgut der Lehrerbildungsanstalt erschien zu umfangreich und der Gehalt der Lehrerbildung sollte nicht nur versteinert, sondern verkrüppelt werden.

• In der so verstümmelten Elementarschule sollte der ganze Unterricht auf das eingeschränkt werden, was man das „Wissenswerteste“ nannte; es war nicht viel mehr als Lesen, Rechnen und Schreiben.

Um dieses Programm des Rückschritts zu dynamisieren, wurden die „höchsten öüter“ in Gefahr erklärt: Die Religion, die Fundamente des Kaiserstaates, die Wirtschaft. Mitten in der rasanten Entwicklung der Gründerzeit entstand eine ganz unzeitgemäße Angst vor dem Fortschritt. Verschiedene Wirtschafts-kreise stellten fest, es mangle an Lehrern und am Schulraum und das ganze „phantastische Produkt einiger Utopisten“ käme zu teuer.In der Oppostitionsrede, mit der der great old man des österreichischen Liberalismus, Eduard Sueß, den Vorhaben der Regierung entgegentritt, stellt er einleitend die eigentliche Schwierigkeit seines Vorhabens heraus: Er hat es mit vorgefaßten Meinungen zu tun, die der Macht der Idee kaltblütig die kompakte Mehrhedt der Mandate entgegenstellen. Und also klassifiziert Sueß die Gegner der Schulreform 1869:

• Hochachtbare, grundsatztreue Gegner, die ihm, dem Altliberalen, mit ihrer Weltanschauung so ferne stehen, daß eine Verständigung auf kulturpolitischem Gebiet unmöglich ist.

• Dann eine zweite, bei weitem größere Gruppe, die ihre wirtschaftspolitischen Erwägungen nur mit einer oberflächlichen Schicht pädagogisch-didaktischer Einwände kaschiert, und für die es nicht um ein kulturelles Anliegen geht, sondern um einen politischen Akt.

• Und jene (für die der damalige k. k. Minister für Kultus und Unterricht, Freiherr Conrad von Eybes-feld, typisch gewesen ist), die den Rückschritt gar nicht wollen, denen es aber an der Zivilcourage fehlt, um sich gegen die kompakte Mehrheit des herrschenden Regimes aufzulehnen.

Mit der ganzen Kraft seines Wissens und seiner politischen Überzeugung geht Sueß auf die grundsatzlose Haltung des Unterrich'tsministers los. Mit den stärksten Akzenten kontrastiert er die nach Grundsätzen orientierte Haltung seiner klerikalen Gegner mit der Scheinposition einer Regierung, die vorgibt, für Vaterland und Glaube einzutreten, während es in Wirklichkeit um das nackte Geld geht. Sueß schließt wörtlich: „Der Herr Minister schämt sich der Novelle, die er hier zu vertreten hat — das ist das richtige Wort —, der Novelle, die er nicht nur hier zu vertreten übernommen hat, sondern die er auszuführen übernimmt; ich begreife, daß er sich schämt.“ Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber das Motiv einer Kulturpolitik zwischen Reaktion und Revolution gehört zu den Modellfällen des Politischen. 1969, 100 Jahre nach dem Inkrafttreten des Reichsvolksschulgesetzes 1869, wiederholt sich in Teilen der österreichischen Innenpolitik die Motivation der Reaktion von 1883. Ein Vortrag des Leiters des Instituts für Wirtschaftsforschung auf dem VI. ÖGB-Bundeskongreß 1967 war der Startschuß. Dem Vortragenden scheint das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt verlorengegangen zu sein. Man hätte übers Ziel geschossen; nicht nur in der Sozialpolitik: Das 9. Schuljahr, das angeblich bereits 1967 700 Millionen Schilling gekostet hat, sei schlecht vorbereitet und im falschen Zeitpunkt ohne Be-dachtnahme auf die gesamtwirtschaftliche Situation gestartet worden. Das Parlament sei mit einem Exzeß „brillanter Eloquenz“ überrannt worden. So wie der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts argumentierten Regierungsmitglieder, Parteiführer, Sprecher der Interessenverbände usw. Sie übernehmen die vorfabrizderten Texte der Technokraten und kontrieren mit den von Chefmathematikern der Wirtschaftsverbände gelieferten Daten. Mit einem Rösselsprung gelangt man von der Verurteilung der Exzesse der Sozialpolitik zur Diskriminierung der Schulreform 1962.

Rösselsprung zur Diskriminierung

Die österreichischen Schulgesetze 1962 haben den Schulkampf, der im republikanischen Österreich zwischen 1920 und 1962 getobt hat, in weltanschaulicher und politischer, schulorganisatorischer und pädagogisch-didaktischer Hinsicht entschieden. In der Polemik um die Reform sind mehr Materialien gefördert worden als bei irgendeiner wirt-schafts- oder sozialpolitischen Großtat des österreichischen Parlamentarismus. Wichtiger als die Dokumentation der Materialien ist aber die geistige Koinzidenzebene, über der die Reform entstanden ist. In den parlamentarischen Verhandlungen des Sommers 1962 habe ich auf diese Ebene reflektiert. Auf ihr treffen sich die Tradition eines christlichen Humanismus mit jener eines demokratischen Sozialismus humanistischer Prägung mit Einschluß dessen, was am österreichischen Liberalismus unvergänglich ist. Die Reform 1962 gab dem Schulwesen die seit der Gründung der Republik fehlende verfassungsrechtliche

Grundlage; sie beseitigte die zuletzt bestandene Illegalität der Schulverwaltung. Das Schulaufsichtsgesetz hat den Zielparagraphen des Reichsvolksschulgesetzes 1869 punkto sittlich-religiöser Erziehung zum Fundament des ganzen Schulwesens in Österreich gemacht; gleichzeitig aber den Grundsatz der Volksschule Maria Theresias, wonach der Staat Anspruch auf die Schule erhebt, die ein Politikum ist, auf die Ordnung der parlamentarischen Demokratie radiziert. Der neue Zielparagraph reflektiert auf die Mitwirkung der Schule bei der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach sittlichen, religiösen und sozialen Werten; gibt der Schule die konkrete Aufgabe gegenüber Staat und Gesellschaft; stellt die Erziehungsarbeit in europäische und weltweite Horizonte; und instruiert das politische und weltanschauliche Denken in einem zeitgemäßen Zuschnitt. In Zusammenhang mit dem Pflichtschulerhal-tungsgrundsatzgesetz 1955 ist die Errichtung, Erhaltung und Auflassung der öffentlichen Pflichtschulen geordnet. Und diese Ordnung hat deswegen besondere Bedeutung, weil die von mir gedachte Schulreform 1962 den Sachautfwand dieses Reformgesetzes des Bundes nicht (wie es konservative Schulprogrammierer der Parteien, Länder und Interessenverbände verlangt hatten) allein den schulerhaltenden Gemeinden aufgebürdet, sondern dafür jene heute wirksame Lastenteüung vorsieht, derzufolge das Mehr im Sachaufwand praktisch zwischen Gemeinden und dem Bund sowie anderen Schulerhaltern geteilt wird. Das aber steht im Schulpflichtgesetz, dessen Paragraph 5 das Verdun des jetzigen Schulkampfes ist, nämlich in der Vorschrift, daß die nunmehr verlängerte allgemeine Schulpflicht in der Volksschule, in der Hauptschule, im Polytechnischen Lehrgang, in der Berufsschule oder in der allgemeinbildenden Höheren Schule (13. Schuljahr) erfüllt werden kann. Eingesackt und begraben ist heute der damals offene Streit um das Konkordat 1933 und um den Friedensschluß zwischen Staat und Kirche, den das Privatschulgesetz 1962, die Religionsunterrichtsgesetzesnovelle und der am 9. Juli 1962 zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich geschlossene Vertrag gebracht hat. Vergessen ist der Friedensschluß mit der Evangelischen Kirche nach Jahrhunderten der Gegenreformation, des Josephinismus und des Staatskirchentunis; vergessen ist die Erfüllung des österreichischen Staatsvertrages im Minderheitenschulxecht, dessen schüiigesetziiche Regelung aus 1939 erst in der Schulreform 1962 die volle Bedeutung erlangte.

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