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Zwei Vorurteile

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Die seinerzeitigen Ereignisse in Little Rock haben dem Ausland ein düsteres Bild von der Lage der farbigen Bevölkerung in den USA gegeben, wofür sie allerdings sehr geeignetes Material bilden.

Das Verhalten eines Teiles der weißen Bevölkerung gegen die neun Negerstudenten von Little Rock war gewiß skandalös. Es wurde aber von den maßgebenden Vertretern der Stadt verurteilt, und wo sonst schreitet die. Regierurig mit dem Aufgebot aller Machtmittel für“ eine gekränkte Minderheit ein? Wenn'man -das Gesamtbild in den Vereinigten Staaten betrachtet, ist nicht auf der weißen Seite alles schwarz und auf der schwarzen Seite alles weiß.

Man muß den Widerstand eines Teiles der weißen Bevölkerung gegen gemischte Schulen in manchen Gegenden der Vereinigten Staaten besser verstehen, als sie selbst es tut. Das immer wieder gehörte Argument: „Möchten Sie, daß Ihre Tochter einen Neger heiratet?“, ist natürlich dumm. Auch wenn man bedenkt, daß an manchen Schulen bedenkliche Freiheiten im Verkehr zwischen den Geschlechtern eingerissen sind. Es ist aber eine Tatsache, daß bis vor wenigen Jahrzehnten die Negerbevölkerung meist, und bis zu einem erheblichen Teil auch heute noch, auf einem anderen Niveau der Lebenshaltung steht als die überwiegende Masse der weißen Bevölkerung. Ihre Begriffe von Wohnen, Reinlichkeit, Hygiene, Erziehung, Benehmen sind verschieden. Auch in New York und Chikago zeigen die Stadtteile, in denen die farbige Bevölkerung zusammengepreßt ist und die sich langsam ausdehnen, andere Lebensgewohnheiten, andere Lebenshaltung, andere Reinlichkeitsbegriffe als andere Stadtteile. Ein Weißer könnte dort ebensowenig wohnen wie in den Slums von Nairobi oder Rio. Darunter leiden am meisten jene Neger, die sich aus diesem Zustande emporgehoben haben und den gebildetsten und gepflegtesten Teilen der weißen Bevölkerung unterschiedslos an die Seite gestellt werden können. Sie streben noch viel lebhafter darnach, in eine andere Gegend zu entfliehen und ihre Kinder in anderen Schulen erziehen zu lassen. Es wäre aber unehrlich, zu leugnen, daß ein großer Teil der Neger diesen Aufstieg noch nicht vollzogen hat.

Man kann daher Eltern das Sträuben nicht verargen, ihre Kinder in Schulen zu schicken, die von Kindern mit ganz anderen Reinlich-keits-, Gesundheits-, mitunter Sittlichkeitsbegriffen besucht werden. Sie würden es, ebenso wie europäische Eltern, auch gegen Mitschüler derselben Hautfarbe zeigen. - Aehnliches gilt auch für die Transportmittel. Schließlich bringt auch der Europäer finanzielle Opfer, um nicht Wartesäle und Waggons mit Personen anderer Lebensgewohnheiten teilen zu müssen.

Das Rassenproblem ist daher mehr ein Klassenproblem, nur dadurch verzerrt, daß noch kein Weg gefunden wurde, jenem Teil der farbigen Bevölkerung, der sich in seinen Lebensgewohnheiten den Weißen angeglichen hat, auch die gleiche Behandlung zu sichern, und daß der Amerikaner zu Generalisierungen neigt. Generalisierung ist ein Symptom junger Gesellschaften mit dichter Bevölkerung und vielen fremden Elementen. Kommt man mit vielen fremden Menschen in Berührung, so hält man sich lieber an sichere als an gerechte Merkmale. Das strahlt auch ins amerikanische Recht aus, das oft plump distinguiert und so das Kind mit dem Bade, ausschüttet.

Nach einer ganz “ ob'erflächliehen Schätzung kann man annehmen, daß die assimilierte Gruppe der Neger sich zwischen 25 und 40 Prozent der farbigen Bevölkerung bewegt, in manchen Landesteilen, vor allem im Süden, nur zwischen 10 und 25 Prozent. Sobald sie 50 bis 75 Prozent betragen wird, wird der große Umschwung eintreten, weil dann der Unterschied der Farbe auch nicht einmal den plumpsten Maßstab für den Unterschied der Bräuche darstellen wird.

Für diese Entwicklung kämpfen nicht nur die Farbigen, sondern auch der größte Teil der Weißen, und vor allem die Bundesbehörden, mit größerer Energie, als man irgendwo auf der Erde zugunsten einer zurückgesetzten Minderheit finden kann; gegen sie kämpfen Gruppen, die sich nicht von angestammten Vorurteilen befreien können — die hier schwinden, während sie anderswo wachsen —, und vor allem jene unteren Schichten der Weißen, deren Lebensgewohnheiten sich nicht von denen der unteren Negerschichten unterscheiden, die daher krampfhaft an den Privilegien der weißen Haut festhalten, weil sie nichts anderes haben, mit dem sie ihre Minderwertigkeit zudecken könnten. Auch das kann man in anderen Ländern beobachten.

Die Neger schießen in ihrem begreiflichen Kampfe für Gleichstellung auch manchmal über das Ziel. So hat die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) die Theorie aufgestellt, Gleichstellung in der Schule bedeute, daß jede Schule, jede Klasse auch eine Anzahl farbiger Schüler haben müsse. Während sie sich darüber beklagt, daß Negerkinder nicht die nächste Schule besuchen dürfen, schickt sie mitunter Kinder meilenweit in eine Schule, um dieser künstlich einen farbigen Einschlag zu geben.

Dazu kommen noch Fragen der Quantität. Fünf Kinder mit schlechten Gewohnheiten unter dreißig Kindern werden leicht assimiliert und emporgehoben. Wenn aber dreißig Kinder mit schlechteren Gewohnheiten mit fünf besseren Milieus erzogen werden sollen, vollzieht sich eine Angleichung nach unten. Deshalb wirkt sich die Gleichstellung im Süden und im Norden der USA verschieden aus. In Washington zum Beispiel, das vor 30 Jahren nur ein Drittel Negerkinder in seinen Schulen hatte, sind sie auf 70 Prozent angewachsen. Während dieser Zeit ist die Zahl der Neger im Bundesdienste in der Hauptstadt von 3 auf 25 Prozent angewachsen, übersteigt also weitaus die Bevölkerungsquote von 10 Prozent. Wenn man auch den Farbigen unter gleichen Bedingungen weder geringere Intelligenz noch geringeren Fleiß nachsagen kann, so sind die Bedingungen eben nicht gleich. Klassen mit vielen Negerkindern sind schwerer zu unterrichten. Die 1650 weißen und 2300 farbigen Lehrer Washingtons mußten ohne jede Rassendiskrimination, nur nach der Befähigung, vier Klassengrade einrichten. In der untersten befanden sich neben 1319 farbigen nur 158 weiße Kinder. Man kann es den Negern nicht verargen, daß sie ihren Kindern noch nicht dieselbe Vorbildung und Unterstützung im Lernen geben können wie die Weißen; aber man kann auch den weißen Eltern keinen Vorwurf daraus machen, daß sie die Erziehung ihrer Kinder nicht durch weniger entwickelte Mitschüler herabdrücken lassen wollen.

Vor allem darf aber niemals übersehen werden, wie der überwiegende Teil der 150 Millionen weißer Amerikaner sich gegen die Dis-krimierung ihrer farbigen Mitbürger einsetzt, und was die Bundesbehörden, vom Präsidenten und dem Obersten Gerichtshof angefangen, in dieser Hinsicht an Energie aufwenden. Man mag das immerhin schwindende Unrecht gegen die farbige Bevölkerung der USA noch so streng verurteilen, so muß man doch seinen Ursachen nachforschen, um es zu verstehen. Dann kommt man, alles zusammengenommen, darauf, daß es auf der ganzen Erde eine andere Minorität gibt, der es nicht schlechter ginge als den Farbigen in den USA und die nicht weniger Aussicht auf Besserung ihrer Lage hätte. Man vergleiche sie nur mit der eines Deutschen in der Tschechoslowakei nach dem Kriege oder eines „Bürgerlichen“ im'Jroten - Räume. Dessen Beherrscher sollten erst einmal ihren Bürgern so viele Rechte geben, wie sie ein Neger in den Vereinigten Staaten hat, ehe sie sich unterfangen, deren Lage als Propagandamittel zu benützen.

Betrachten wir einmal die Lage in Indien. In Indien gibt es 5 5 Millionen Unberührbare — mehr als die Bevölkerung irgendeines großen Staates, mit Ausnahme der acht bevölkertsten. Sie werden wie räudige Tiere behandelt. Sie dürfen mit keinem Hindu, selbst der niedrigsten Kaste, essen; fällt nur ihr Schatten auf seine Mahlzeit, so muß er sie wegwerfen. Sie dürfen nicht aus demselben Brunnen schöpfen und müssen oft aus dem Wasser trinken, in dem das Vieh gewaschen wird. Kein Hindu reicht ihnen die Hand. In den 560.000 Dörfern Indiens und in dessen großen Städten müssen sie in abgesonderten Gettos wohnen. Nur 3 Prozent (gegen 15 Prozent der übrigen Bevölkerung) haben Zutritt zum primitivsten Unterricht. Obwohl sie Hindus sind, dürfen sie nur ihre eigenen Tempel betreten, sonst winkt ihnen ein ärgeres Schicksal als einem südafrikanischen Neger in einer Kirche der Weißen. Der wird eingesperrt, sie aber werden gelyncht. Nur die verachtetsten, schlechtest entlohnten Beschäftigungen stehen ihnen offen. In Fabriken müssen sie in abgesonderten Räumen arbeiten, in den Schulen auf abgeschiedenen Bänken sitzen. Man spricht nur ausnahmsweise mit ihnen. Sie dürfen kein Fahrrad benützen — von Wagen gar nicht zu sprechen, die für immer verunreinigt wären —, müssen sich durch ihre Kleidung unterscheiden, ihre Toten im geheimen begraben.

Nun ist allerdings die Zurücksetzung der Unbefahrbaren seit zehn Jahren gesetzlich verboten.. Die Engländer scheuten sich, in altgewohnte, in religiösen Begriffen 1 wurzelnde Bräuche einzugreifen; und hätten sie es getan, hätten die Führer der Inder es ihnen vorgeworfen. Der große Einfluß des heiligen Gandhi wirkte nur, wo es gegen die Weißen ging, reichte aber nicht zur Ausmerzung jahrtausendealter, überlebter Vorurteile aus. v

Seit 1948 sind also die Unberührbaren gleichberechtigte Bürger Indiens — auf dem Papier. Versuche, diese Gleichstellung durchzusetzen, münden in Gewalt. Im letzten Jahre zum Beispiel gab es in Madras einen Pogrom gegen sie, dem 40 Menschen zum Opfer fielen; er gab an Bestialität denen der schwarzen Hundert in Rußland nichts nach. Im ganzen Lande wurden 50 Unberührbarengettos niedergebrannt, 150.000 Menschen obdachlos gemacht. Gaststätten bei Bombay, die Unberührbare zugelassen hatten, wurden von entrüsteten Menschenmengen gestürmt. Friseure, die Unberührbare rasiert hatten, wurden boykottiert und brotlos gemacht. In Benares verbot eine gerichtliche Verfügung, trotz des Gesetzes von 1948, Unberührbaren das Betreten von Hindutempeln. Schulen werden verlassen, sobald ein unberührbares Kind sie betritt. Eigene Spitäler, Bäder, Leseräume, Wohnbauten müssen für sie errichtet werden. Wenn es aber schon einmal einem Unberührbaren gelingt, eine höhere Stellung zu erlangen — nur ganz wenige erreichen die dazu erforderliche Bildung —, so wird er von den Kollegen boykottiert und von den Vorgesetzten diskriminiert. Ein Ingenieur in der Abteilung für öffentliche Bauten in Delhi, ein weißer Rabe im Staatsdienst, wurde siebenmal von jeder Beförderung ausgeschlossen. Man vergleiche das einmal mit der Stellung der Neger im amerikanischen Staatsdienst.

Es wäre auch noch einiges über die Intoleranz der höheren Hindukasten gegen niedrigere zu berichten und ein lehrreicher Vergleich mit dem Verkehr verschiedener Klassen in den USA zu ziehen. Nehru und seine Anhänger, vor allem sein Bote bei den Vereinten Nationen, Krishna Mennon, hätten noch viel vor den Türen der Hütten und Tempel Indiens zu kehren, ehe sie nur die Toleranz anderer Länder erreichen, die sie mit ihren Ratschlägen über* schütten.

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