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Zwischen äußerer Gefahr und innerer Freiheit

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Der wesentliche Unterschied zwischen der moralischen Stellung einer legitimen Regierung und der einer usurpatorischen tritt einem mit plastischer Deutlichkeit vor Augen, wenn man die kürzlich veröffentlichten geheimen Unterhausreden W i n s t o n Churchills aus den Jahren 1940 bis 1942 * liest und sich dabei der hinaufgeschraubten, immer wieder den nahen Untergang der Gegner Deutschlands ankündenden Reden erinnert, mit denen Hitler die deutsche Öffentlichkeit über die wahre Lage des Reiches zu täuschen versuchte. Den vollkommenen Zusammenbruch des einzigen Verbündeten auf dem europäischen Kontinent, den fluchtartigen Rückzug des Expeditionsheeres über den Kanal und die unmittelbare Gefahr einer übermächtigen deutschen Invasion, der das bedrohte Land noch kaum einen organisierten Widerstand entgegenzusetzen vermochte, hätte das Regime Hitlers, wenn es in eine ähnliche Lage gekommen wäre wie England im Sommer 1940, ohne die Anwendung des brutalsten Terrors keinen Tag überlebt. Diese fünf Reden, die Churchill als britischer Premierminister in Geheimsitzungen des Unterhauses — Plenarsitzungen, nicht etwa Ausschußsitzungen! — während der für Großbritannien kritischesten Stunden des Krieges hielt, sind der Beweis für die Standfestigkeit einer Regierung, die zugleich auf Legitimität, Freiheit und echter Demokratie beruht. Als die nazistische Propagandaleitung zu bemerken anfing, daß die deutsche Öffentlichkeit Vergleiche zog zwischen der Freimütigkeit, mit der der englischen Nation die jeweilige Kriegslage mitgeteilt wurde, und der Verschlagenheit, mit der dem deutschen Volke gleichzeitig jede ungünstige Nachricht vorenthalten oder verfälscht dargestellt wurde, hatte Goebbels die Verwegenheit, in einem Sonntagsartikel im „Reich“ zu behaupten, um einer Nation so ungeschminkt die Wahrheit zu sagen, wie es die britische Regierung tue, müsse sie die politische Reife besitzen, welche die Engländer hätten, die Deutschen aber erst in 150 Jahren haben würden.

Dies wagte er seinen Landsleuten ins Gesicht zu schleudern, während diese die entsetzlichsten Leiden mit einer übermenschlichen Selbstverleugnung ertrugen und ihrer großen Geschichte Heldentaten hinzufügten wie jenen Todeskampf der „Bismarck“, über den kürzlich ein bewundernder englischer Bericht an die Öffentlichkeit kam. Es ist über alle Maßen reizvoll, nunmehr nachzulesen, wie die politische Erziehung des englischen Volkes in dem Verkehre zwischen Regierung und Parlament in den kritischesten Phasen des Krieges zum Ausdruck kam. Als Petain im Namen Frankreichs die deutsche und die italienische Regierung um Mitteilung der Waffenstillstandsbedingung ersuchte und sich der deutsche Diktator schon so nahe seinem Ziele wähnte, daß er das Datum für den Zusammentritt des Friedensparteitages bestimmte, folgte dem Triumphgeschrei sogleich die erste Enttäuschung auf dem Fuß, denn aus London kam statt der erwarteten Nachricht von dem Sturze des Kabinetts Churchill und einer Revolte in Wescminster nur die Meldung, das Parlament habe eine geheime Sitzung abgehalten und eine lange Erklärung des Premierministers entgegengenommen, über deren Inhalt keinerlei Andeutung gemacht wurde und keine Zeitung Vermutungen anstellte. England blieb so ruhig wie der römische Senat nach Cannae. Was Churchill damals und in vier späteren Geheimsitzungen dem Unterhause sagte, erfuhr die englische Öffentlichkeit erst jetzt, nachdem das Parlament im Dezember 1945 das Verbot der Berichterstattung über die Geheimsitzungen aufgehoben und Churchill seine Aufzeidinun-gen dem englischen Historiker Charles Eade übergeben hatte.

Während die anderen Reden, die Churchill in den geheimen Unterhaussitzungen am 17. Dezember 1940 über die deutschen Luftangriffe auf London, am 25. Juni 1941 über die Schlacht um den Atlantik, am 23. April 1942 über den Fall von Singapore und am 10. Dezember 1942 über die Zusammenarbeit der Engländer und Amerikaner mit dem französischen Admiral Darlan nach den Landungen in Nordafrika hielt, in vollkommen ausgearbeitetem Wortlaut vorliegen, gibt es von jener ersten Geheimrede vom 2 0. Juni 1940 nadi dem Waffenstillstandsansuchen Petains nur neun Blätter mit Schlagworten, die der Premier unmittelbar vor Zusammentritt des Parlaments in die Schreibmaschine diktiert hatte. Darin zeigt sich die drangvolle Spannung, in der diese Erklärungen zustande gekommen sind. Immerhin genügen diese Schlagworte, um den Geist erkennen zu lassen, in welchem Churchill in dem bisher gefahrvollsten Augenblick der englischen Geschichte zum Parlament sprach. Über die neue Einrichtung von Geheimsitzungen heißt es da zunächst: „Stimme der Auffassung bei, daß Geheimsitzungen durdiaus einen normalen Teil unseres Verfahrens bilden und nidit mit irgendeiner Krise verbunden werden sollten. Erleichterung, wenn man reden kann, ohne daß Feind mithört. Durchaus bereit, weitere Geheimsitzungen abzuhalten, namentlich über klar umsdiriebene Themen. Aber ich hoffe, daß man die mit der Kriegführung betrauten Minister nidit allzu hart bedrängen wird.“ Dann über die deutschen Bombenangriffe: „Torheit, Ernst bevorstehender Angriffe zu unterschätzen. Sidi daran gewöhnen lernen. Aale gewöhnen -sich an Häutung. Fortgesetzte, ununterbrochene Bombenangriffe, die wahrscheinlich dann und wann gewaltige Stärke erreichen werden, müssen regelmäßige Bedingung unseres Lebens werden ... Niemand kann Resultat voraussagen. Dieser Ent-sdieidungskampf hängt vom Mut des ge-wöhnlidien Mannes und der Frau ab. Komme, was kommen mag, Kopf nicht Hängen lassen. Pflicht aller Abgeordneten, Vertrauen aufrechthalten und Produktion beschleunigen.“ Im weiteren deuten die kurzen Aufzeichnungen Churchills an, daß er freimütig die strategischen Fehler der Alliierten zugab und das Unterhaus auf die Möglichkeit einer deutschen Landung rückhaltlos vorbereitete. Doch ließ er diesen Erklärungen Worte des ungebeugten Vertrauens und der Unerschrockenheit folgen, die das ruhige Urteil und den Weitblick Churchills beweisen, wie diese:

„Wenn es Hitler nicht gelingt, in Großbritannien einzudringen, hat er den Krieg verloren . . . Wenn wir durchhalten nächste drei Monate, durchhalten nächste drei Jahre. Vielleicht haben unsere schönen Armeen dem Kontinent von Europa nidit adieu gesagt. Wenn feindliche Küstenlinie sich von der Arktis zum Mittelmeer er-stredu und wir Macht zur See behalten und eine wachsende Macht in der Luft, wird offensiditlich Hitler Herr eines hungernden, gemarterten und sich auflehnenden Europa.“

Alsbald wurde der ständige Kontakt zwischen der Regierung und dem Parlamente infolge der deutschen Luftangriffe auf London in solchem Maße erschwert, daß Churchill am 17. Dezember in einer neuerlichen Geheimsitzung dem Unterhause vorschlug, das Datum der Sitzungen nicht mehr zu veröffentlichen, aus Sicherheitsgründen nur wenige Stunden um die Mittagszeit, statt wie üblich abends zu beraten und überhaupt, um auf die so notwendige und schwere Tagesarbeit der Minister und hohen Regierungsbeamten Rücksicht zu nehmen, mög-lidist wenige Sitzungen abzuhalten. In einem Kriege gegen die Diktaturen war das ein gewagtes Ansinnen an eine Volksvertretung von dem Selbstbewußtsein des englischen Unterhauses. Indem sich Churchill doch dazu entschloß, verstand er es, den Takt des erfahrenen Parlamentariers mit der Ent-sdiiedenheit des verantwortlichen Regierungschefs meisterhaft zu verbinden. Wenn unwissende Leute meinten, sagte er,. die Abgeordneten erfüllten ihre Pflicht nur dann, wenn sie in der Kammer sitzen, so verweise er auf die “unschätzbaren Dienste, welche Abgeordnete namentlich in Wahlkreisen, wo das feindliche Feuer Unheil gestiftet hat, durch ihre Anwesenheit und ihr Beispiel leisten könnten. Anschließend teilte der Premier mit, daß mehr als 1700 motorisierte Schlepper und über 200 hochseetüchtige Schiffe, darunter einige sehr große Schiffe, in den zahlreichen Invasionshäfen, die von den Deutschen besetzt waren, schon zur Invasion bereitlagen und daß einige dieser Schlepper und Schiffe, als sie von englischen Bombenflugzeugen getroffen wurden, »mit furchebaren Explosionen in die Luft flogen, was bewiese, daß sie mit allen für eine Invasionsarmee erfordeiiidien Muniüionsvor-räten vollbeladen waren. Nach der Schätzung Churdiills hat die deutsche Invasionsarmee, die damals auf dem Absprung stand, eine halbe Million Mann betragen.

Die Invasion kam nicht. An ihrer Steile kam jener pausenlose Kampf der deutschen Flugzeuge und U-Boote gegen die britische Schiffahrt, der im Frühjahr 1941 seinen dramatisdien Höhepunkt erreichte und von Churchill die Schlacht um den Atlantik genannt wurde. Als Hitler die Hoffnung zu verlieren begann, den Widerstand Englands damit zu brechen, stürzte er sich auf Rußland. „Mittwoch, den 25. Juni, dem Tag, an dem die deutschen und die russischen Armeen zum erstenmal in schweren Kämpfen aufeinanderstießen“, schreibt Eade in dem uns vorliegenden Bande, „trat das Unterhaus zur Geheimsitzung zusammen, um eine der am meisten mit Spannung geladenen Reden anzuhören, die Churchill als Premierminister gehalten hat. Aus dieser, auch theoretisch bemerkenswerten Rede, die einen freimütigen Bericht über die Lage zur See und über den Kampf gegen die deutschen U-Boote enthielt, geht deutlich hervor, daß die englische Regierung zu jener Zeit mancher heftigen Kritik ausgesetzt war. Die öffentliche Meinung hatte allerdings genügend Anlaß zur Beunruhigung. Nacht für Nadit warfen 30 bis 40 deutsche Flug7.eugc magnetische Minen überall dort ab, wo sie der britisdien Schiffahrt gefährlich werden konnten. Die westlichen Zufahrtlinien der englischen Inseln wurden, durch Langstrecken flieg er so ständig belästigt, die deutschen U-Boote, die eine neue Technik des Nachtangriffes entfalteten, hatten dank einer geänderten Konstruktion ihrer Torpedos und ihrer Behälter von komprimierter Luft ihre Treffsicherheit sosehr erweitert, daß der Premier drm Unterhaus.gestand, die übelsten Erfahrungen im ersten Weltkrieg ließen sich nicht im entferntesten mit den Gefahren und Schwierigkeiten vergleichen, die nun auf England einstürmten. Noch immer — wir sind im dritten Jahre des Krieges — stand England, wie aus der Rede hervorgeht, unter der .Drohung einer deutschen Landung. Churchill scheute sich nicht, von einem „Kampf auf Leben und Tod“ zu spredien, aber mit keinem Worte versuchte er, die ungeheure Verantwortung für das, was bisher zur Verteidigung gegen diese Sturzflut von Gefahren getan und was nicht getan wurde, auf andere Sdiultern abzuwälzen. Eine große Wendung vermochte Ohurchili an jenem Junitag des

Jahres 1941 bereit« anzukündigen: England näherte sidi der ausgesprochenen Übermacht in der Luft.

Im Frühjahr 1942 belasteten neue katastrophale Rückschläge Churchills Stellung: Der japanische Überfall auf Pearl Harbour hatte zwar endlich den Eintritt Amerikas in den Krieg ausgelöst, aber der Preis, den Großbritannien für den Gewinn dieses mächtigen Bundesgenossen zahlen mußte, waren Wunden, die unter anderen Umständen für England tödlich gewesen wären; der Verlust einer Reihe seiner größten Kriegsschiffe, die Preisgabe einer Linie, die von San Francisco bis Ceylon reichte, d;e vorübergehende Entblößung des Mittelmeeres von den notwendigen Machtmitteln, der überraschend schnelle Fall von Singapore, Niederlagen in Burma und die Bedrohung Indiens durch japanische Truppen. Während die britische Weltmacht unter diesen Keulenschlägen in ihrem Gefüge erzitterte, wurde die englische Öffentlichkeit auch noch durch einen Zwischenfall aufs höchste irritiert, der sich vor der Küste Englands zutrug und nach volkstümlicher Auffassung für die britische Admiralität besonders beschämend war. Zwei deutsche Sdilachtkreuzer, die „Scharnhorst“ und die „Gneisenau“, brachen aus ihrem Asyl in Brest aus, durchfuhren unter den Augen der Besatzung von Dover den Ärmelkanal und entkamen ungehindert in heimadidie Gewässer. Mit welcher entwaffnenden Gelassenheit in dieser Lage Churchill das Unterhaus über die atemraubenden Verluste im Fernen Osten und im Indischen Ozean beruhigte und wie geschickt er bei Besprechung des Durchbruchs der beiden deutschen Sdilacht-kreuzer durch Verlesung eines zehn Tage vor diesem Durchbruch verfaßten Gutachtens der Admiralität über den verhältnismäßig ungefährlidisten Kurs, den die deutschen Schiffe bei einem Fluchtversuch zu nehmen hätten, den Haufen der- empörten Kritiker als blutige Laien in maritimen Angelegenheiten entlarvte und zwischendurch den Blick seiner Zuhörer bald auf den Kampf um die wichtigen atlantischen Zufahrtsstraßen, bald auf rechtzeitige und glückliche Vorkehrungen zur Verteidigung Ägyptens ablenkte — das hätte in einer ähnlich schwierigen Lage nicht so bald irgendein anderer Staatsmann, und keinesfalls einer der lebenden, mit solcher

Ungezwungenheit, solcher Wirkung, soldier überzeugenden Selbstverständlichkeit vorgebracht wie Churchill.

Es würde zu weit führen, wollten wir hier noch auf die Ausführungen Churdtüls über das Verhältnis zu Rußland und zu den Vereinigten Staaten in dieser Rede vom 23. April 1942 eingehen. . Es steht heute vielleicht noch nicht fest, ob-England einmal Winston Churchill zu seinen glücklichsten Staatsmännern zählen wird. Unter den Staatsmännern, die in der Stunde äußerster Gefahr unbeugsamen Mut und umsichtige Besonnenheit bewahrt haben, wird er immer einen vordersten Platz in der Geschichte einnehmen. Zudem verbürgt die jetzt vollständig vorliegende Sammlung seiner Kriegsreden, von denen die hier besprochenen fünf Reden in Geheimsitzungen nur den siebenten. Band bilden, daß Churchill, so lange die Kunst der Rhetorik noch überhaupt etwas gelten wird, neben den größten Rednern aller Zeiten mit Ehren wird genannt werden müssen.

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