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Zwischen Illusion und Realität

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Die diesjährige Generalversammlung der Vereinten Nationen steht vor dem Abschluß. Ihre tatsächlichen Ergebnisse entsprechen gewiß kaum dem aufgebotenen Apparat und dem höchst anerkennenswerten Aufwand an Hingabe, Mühe und Geduld. Die vier Kriege, die in der Welt tobten, als die Versammlung ihre Arbeiten aufnahm, der Palästinakrieg, der Krieg in Nordgriechenland, der Krieg zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir und der Krieg in China, werden weitergehen, nachdem sich die Pforten des Palais Chaillot hinter dem letzten Delegierten geschlossen haben werden. Besonders eifrig waren die Organe der Vereinten Nationen um die Beilegung der Kämpfe ‘ in Palästina bemüht, die jeden Christen mit schmerzlichem Schaudern erfüllen müssen. Der rastlosen Vermittlung der Vereinten Nationen gelang es vorläufig, wenigstens einen Waffenstillstand im Gebiet der Stadt Jerusalem zustande zu bringen. In letzter Stunde kam es auch zu einer Annäherung zwischen dem englischen und dem amerikanischen Teilungsplan, indem sich die britische Regierung damit einverstanden erklärte, daß der Negev den Arabern im Austausch gegen das westliche Galiläa überlassen werde. Doch besteht leider nach wie vor wenig Aussicht für ein dauerndes Kompromiß zwischen den Forderungen der Juden und jenen der Araber, da noch immer beide ganz Palästina als selbständigen Staat für sich beanspruchen.

Eindeutiger lagen für den politischen Ausschuß der Vereinten Nationen die Verhältnisse in der griechischen Verwicklung. Die Unterstützung der griechischen Partisanen durch Albanien, Jugoslawien und Bulgarien konnte daher auch in einer Resolution verurteilt .werden, die mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Ob allerdings die von den Vereinten Nationen eingesetzte Balkankommission imstande sein wird, diese Unterstützung in Zukunft zu verhindern, ist eine andere Frage. Ehe noch über den Appell des Außenministers von Pakistan, der über militärische Maßnahmen der indischen Regierung in dem strittigen Gebiet von Kaschmir Beschwerde führte, im Palais Chaillot ein Beschluß gefaßt wurde, haben dort indische Truppen durch Eroberung .des Verkehrsknotenpunktes von Kar- gil einen entscheidenden Erfolg errungen. Daß sich die gewaltige Umwälzung in China, die zuletzt sogar der mächtigen Hand Washingtons entglitten ist, jedem Einfluß der Vereinten Nationen entzieht, ist wohl das letzte, was da \ertrauen in diese Einrichtung zu erschüttern vermöchte. Immerhin muß man feststellen, daß angesichts der genannten vier Kriege von keiner Seite während der vielen Wochen der Pariser Verhandlungen die Frage aufgeworfen wurde: Wer ist der Angreifer und was ist im Sinne der Charta gegen diesen Angreifer zu unternehmen, eine Frage, die doch — wenigstens nach den Nürnberger Prozessen zu schließen — der Angelpunkt der neuen internationalen Rechtsordnung ist. Hingegen wurde aus einer alten, vom Völkerbund übernommenen Tradition über Abrüstung gesprochen, natürlich nur akademisch, da doch die Welt seit Menschengedenken noch nie Rüstungen von dem heutigen Ausmaß gesehen hat, und ebenso erfolglos wurde über einen Antrag diskutiert, der den Gebrauch des Vetorechts im Sicherheitsrat einschränken wollte.

Es wäre jedoch ungerecht, wollte man die abgelaufene Tagung der Vereinten Nationen nach diesen fruchtlosen Anstrengungen beurteilen. Daß diese Bemühungen, den schweren Spannungen in der Weltpolitik zum Trotz, mit allseitigem Ernst, in würdiger Haltung und in einer Atmo- sphäre der Sachlichkeit unternommen wurden, beweist schon an sich, daß die große Friedensorganisation mehr ist als eine schöne Illusion. Man mag sich im übrigen dabei erinnern, daß ihre Autorität die Russen seinerzeit veranlaßte, ihre Truppen aus dem Iran zurückzuziehen, die Holländer dazu bestimmte, eine Verständigung mit den Indonesiern zu suchen, und die Amerikaner davon abhielt, sich die Pazifischen Inseln anzueignen, die vormals unter japanischem Mandat standen. Diesmal haben die Haltung des Sicherheitsrates im Berliner Streitfall und der gemeinsame Schritt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen und des Vorsitzenden der Generalversammlung zur Herbeiführung einer persönlichen Aussprache zwischen den Regierungschefs Großbritanniens, Rußlands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten offensichtlich in Washington und London verstimmt. Die „Times” scheute sich sogar nicht, den Brief Trygve Lie-Evatt einen „faux pas” zu nennen. Auch hier gab die Autorität der zür Erhaltung des Weltfriedens geschaffenen Institution den Ahsschlag und die beiden westlichen Regierungen sahen sich in der Lage, das Gesicht wahren zu müssen.

Ein Übelstand konnte allerdings während der ganzen Tagung im Palais Chaillot nicht verhüllt werden: die Charta der Vereinten Nationen hat wie die auf ihr ruhende Einrichtung die Einigkeit der großen Mächte zur Voraussetzung. Diese Einigkeit fehlte. Ihr Mangel wird eine solche überstaatliche Friedensinstitution immer so lange hemmen, als ihr nicht die großen Mächte eine Souveränität zubilligen, die ihrer eigenen übergeordnet ist. In den ersten Beratungen des Völkerbundes im Jahre 1919 bot dieses Kernproblem bereits den Anstoß zu leidenschaftlichen Debatten, die bis zum Austritt Argentiniens aus der Liga führten. Die Vertreter Großbritanniens waren es damals, welche alle Versuche, dem Völkerbund den Charakter einer überstaatlichen Regierung zu geben, energisch zurückwiesen und den Grundsatz aufstellten, außerhalb des Consensus der souveränen Mächte bestehe die Liga als handelndes Subjekt überhaupt nicht. Diese Auffassung herrscht auch heute im Kreise der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates noch ungeschwächt vor. Ja, sie wird durch das Vetorecht womöglich noch unterstrichen. Bei Fortdauer der Gegensätze, wie sie heute in einer Frage bestehen, die jetzt zum Mittelpunkt der europäischen Politik geworden ist, kann von einer initiativen Wirksamkeit der Vereinten Nationen — abgesehen von peripheren Angelegenheiten — kaum mehr die Rede sein, wenn man nicht darauf verfallen wollte, sich näher und ernstlich mit einer Anregung zu beschäftigen, die im April von dem nunmehrigen kanadischen Premierminister St.-Laurent ausging und später von dem englischen Außenminister aufgegriffen wurde und die in dem Gedanken besteht, innerhalb der Vereinten Nationen eine regionale Untergruppe zur gemeinsamen Selbstverteidigung gegen jeden Angriff zu bilden, was natürlich der alten, schon von der Völkerbundsatzung verpönten Koalitionspolitik bedenklich nahekommt.

Wiewohl St.-Laurent vorgeschlagen hat, sich dabei des Artikels 51 der Charta zu bedienen, ist es doch zweifelhaft, ob ein solches Vorgehen dem Geiste und der Absicht der Charta entspräche. Inzwischen ist aber etwas Ähnliches schon im besten Zuge: die Werbung neuer Mitglieder für den Brüsseler Pakt, mit dem sich England, Frankreich und die sogenannten Beneluxstaaten zu einem Verteidigungsbündnis zusammen-- geschlossen und dem seither die Dominien des britischen Commonwealth ebenso wie- die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung zugesichert haben. Parallel dazu, aber — wenigstens zunächst — unabhängig davon laufen Verhandlungen, die der Vorbereitung einer europäischen Union dienen. Der Gedanke ist im Grunde so alt wie die europäische Politik und in den letzten Jahrhunderten hegten ihn jedenfalls unter anderem Sully, Napoleon und Mazzini. Nach dem Kriege hat Churchill in einer bekanntgewordenen Rede in Zürich im Jahre 1946 die Stunde für gekommen erklärt, in der dieser alte Traum verwirklicht werden müßte. Bald darauf hat dann die französische Regierung im Einverständnis mit der belgischen die Einberufung eines europäischen Parlaments angeregt. Die Regierung Attlee folgte Frankreich nur zögernd mit dem Vorschlag, einen aus Regierungsvertretern bestehenden europäischen Konsultativrat ins Leben zu rufen, während das von Churchill unterstützte französische Projekt ein aus den Parlamenten gewähltes Superparlament im Auge hat. Nach den jüngsten Nachrichten scheint man sich zwischen. Paris und London” dahin geeinigt zu haben, daß beide Körperschaften ruhig nebeneinander tätig sein könnten.

Aber auch dieser schöne Plan stößt wie die notwendige Einigkeit in der Organisation der Vereinten Nationen und wie der Marshall-Plan auf das Problem Deutschland. Trygve Lie und Doktor Evatt rufen den Regierungschefs der Großmächte zu: „Einigt euch doch, sonst , kommen wir in der Befriedung der Welt um keinen Schritt weiter.” Die Leiter der Marshall-Hilfe erklären: „Für die , wirtschaftliche Erholung Europas ist das westdeutsche Industriepotential unentbehrlich.”1 Und ohne Deutschland wäre jede europäische Union ein Torso, mit Westdeutschland aber würde sie die endgültige Zerreißung Deutschlands und Europas bedeuten. Wie Churchill schon in Zürich mit vollem Recht sagte, bildet die deutsch-französische Zusammenarbeit die unerläßliche Voraussetzung einer europäischen Union.: Allein diese Zusammenarbeit beginnt soeben damit, daß die französische Regierung dem zwischen dem britischen und dem amerikanischen Oberkommandierenden in Deutschland vereinbarten Plane, die Entscheidung über das Eigentum an der Stahl- und’Kohlenindustrie der Ruhr einer freigewähltcn deutschen Regierung zu überlassen, den heftigsten Widerstand entgegensetzt.

Aus diesen sich überkreuzenden Dilemmas scheint es wohl nur einen Ausweg zu geben: daß sich die Großmächte so bald als möglich über das gesamte deutsche Problem einigen und mit einer freigewählten deutschen Regierung einen Friedensvertrag schließen. Vielleicht liegen auf dem Wege zu dieser unumgänglichen Lösung im vierten Jahr nach dem Kriegsende doch nicht so viele Hindernisse, wie es im ersten Augenblick scheinen mag. Im Grunde wohl nur der Verzicht Rußlands auf eine Politik, über deren Erfolgsaussichten möglicherweise jetzt auch im Kreml die ersten Zweifel auftauchen. Alles in allem: schwankend zwischen Illusion und Realität haben die Vereinten Nationen wieder einmal eine Feuerprobe bestanden.

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