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Zwischen Ostsee und Suezkanal

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Unbeirrt von der USA-Präsidentenwahl und von der neuesten „Schlußphase” des Vietnamkrieges, beginnt Moskau zwischen Helsinki und Alexandrien ein geduldiges Schachspiel um den Nahen Osten. Simultan gilt es gegenwärtig, einen diplomatischen, militärischen und wirtschaftlichen Aufmarsch gegen fünf bis sechs mögliche „Feindpositionen” zu bewerkstelligen: In Stockholm versicherten Sowjetdiplomaten, der Kreml denke nicht an militärische Interventionen gegen weitere Länder — es sei anderseits nicht gut möglich, daß die Sowjetdiplomatie buchstäblich jeder Regierung des Erdenrunds die völlig friedlichen Absichten Moskaus gegenüber der Um- und Mitwelt kundtue. Im Fall Finnlands sah sich freilich Ministerpräsident Kossygin zu einem privaten Besuch bei Staatspräsident Kekkonen veranlaßt, weil selbst dieser vieljährige Freund über Beruhigungspillen des Kremls hinsichtlich der CSSR vor dem 21. August 1968 und die plötzliche Invasion der Paktmächte mehr als bestürzt war.

Auch in der DDR ging und geht es zunächst um verbale Demonstrationen. Kein Mensch, nicht einmal die führenden Genossen der benachbarten Volksdemokratien und der Kreml selbst sind der Auffassung, daß die Entwicklung dieses vorgeschobensten Randstaates des Sowjetblocks klaglos und „normal” verläuft. Ulbrichts Scharfmacherei vor der Invasion ist gefolgt von dem einmaligen Gouvernantentum der ostzonalen Funktionäre gegenüber den Prager Reformern. Der Eifer der Genossen gleicht der plötzlich ausbrechenden und überschäumenden Bekenntnistreue von Jüngstgetauften und Konvertiten. Können es die ostdeutschen Kommunisten wirklich nicht unterlassen, alle übrigen Kommunisten des Sowjetblocks und der Welt überhaupt zu belehren, was Kommunismus heißt und wie man sich linientreu zu benehmen hat?

Doch es handelt sich in der Tschechoslowakei selbst um mehr als bloße Angriffe der Moskauer „Prawda”, um Belehrungen und Drohungen aller Art. Eindeutig ist das Überdauern der Reformengruppe in Prag befristet. Man braucht gegenwärtig den Parteichef Alexander Dubček, aber man entfernt progres- sistisch gesinnte Funktionäre seinet Umgebung. Das wirtschaftliche Reformprogramm soll durchgeführt werden — aber ohne den Initiator Ota Sik und unter strenger Abkehr von engeren westlichen, vor allem bundesdeutschen Wirtschaftsbeziehungen. Die Weisungen des COMECON, wonach für die Rubelblockländer Bonn tunlichst „auszuklammern” sei, gilt in aller Schärfe für die Prager Planer und Außenhandelspolitiker.

Vorläufig funktioniert die KPC noch immer, vorläufig kann man in der Tschechoslowakei von einem „Apparat” sprechen, der die Solidarität aller Tschechen und Slowaken symbolisiert. Gegenwärtig gibt es noch nicht einmal kleine Kollaborateure und Verräter in Vororte- und Dorfformat. Aber — wie lange? Kein Mensch wird sich auch Illusionen machen, daß im Zeichen der Föde- ralisierung zwischen Tschechen und Slowaken rasch innerstaatlich eine Entspannung und Entlastung eintreten könnte. Der Austausch sowjetischer Besatzungsoffiziere und von in der Tschechoslowakei stationierten Einheiten beleuchtet die psychologisch düstere Situation des Spätherbstes 1968 zur Genüge.

Hinsichtlich aller mit der Tschechoslowakei benachbarter Volksdemokratien läßt sich eine seltsame Überkompensation beobachten. Das berichterstatterische und nachrichtendienstliche Versagen des Westens angesichts der Invasion vom 21. August 1968 hat nachträglich zu einer überhitzten Sensationsmache und zu einer Fülle widersprechender Meldungen und Gerüchte übergeleitet, daß es geradezu Mühe kostet, die nüchterne Übersicht zu wahren. Unbestätigte Meldungen über Attentatsversuche gegen Živkov, Ceausescu, ein angeblicher Selbstmordversuch Kadars, die bereits mehrfach „erfolgte” Okkupation Rumäniens durch Sowjettruppen, eine unmittelbare Bedrohung Albaniens und Jugoslawiens von der Seeseite her, heftige Auseinandersetzungen und ein bevorstehender Machtwechsel im Kreml — mehr kann man von der beflissensten Agentur, von den rasendsten Reportern der westlichen Welt wirklich nicht erwarten!

Wie sieht die Realität aus? Nach der raschen Tat gegen Prag haben die Sowjets wieder Zeit. Die vorgesehene Eskalation des Kremls gegen Rumänien läuft sehr langsam an. Ähnlich wie die Genossen in Tirana, kann auch die Führungsgruppe des Partei- und Staatschefs Nicolae Ceausescu auf „Rechtgläubigkeit” und sogar auf jüngste Zeugnisse der Loyalität gegenüber der befreundeten und verbündeten Sowjetunion verweisen. Wie hoch aber steht gegenwärtig Ideologie bei den Moskauern im Kurs? Tatsache ist, daß Bukarest auch nach, der amer- kanischen Präsidentenwahl und einschließlich neuer rotchinesischer Garantieerklärungen auf sich gestellt bleibt, auf seine Elastizität und seine oft genug unterschätzte Diplomatie. Etwas anders stellt sich die Lage Jugoslawiens dar. Belgrad kann und könnte massive Unterstützung und Hilfe vom Westen erwarten; der Einbruch der Sowjets bis zur südlichen Adria wäre für die USA Immerhin ein Casus belli. Auch im Falle Jugoslawiens aber wird man es verstehen, daß das persönliche Billet doux des Kreml an die Adresse von Tito-Broz eine sofor tige Reaktion Titos auslöste: Sofortige Reisen und Ansprachen in den entferntesten Orten des Landes, besonders aber im Osten und Norden Jugoslawiens, weil (operativ gesehen) von dort tatsächlich der „Feind” kommen kann.

Die Sowjetflotte verfügt in diesem neuen Manöverfeld der Kremlpolitik noch nicht über viele Basen. Noch fehlt ein sowjetischer Flugzeugträger mit Landungseinheiten, die die akute Sorge der Albaner und Jugoslawen bilden. Aber an der Präsenz dieser Macht ist gerade im öst-

liehen Mittelmeer nicht mehr zu zweifeln. Jetzt und diesmal steht Israel der Sowjetunion selbst gegenüber. Die arabischen Gegner bereifen geliefert als vor dem 5. Juni Moskau hat bereits modernere Waffen geliefert, als vor dem 5. Juni 1967. Wird die Aufrüstung in diesem Raume ein Gleichgewicht, eine politische Lösung der Nahostfrage ermöglichen? Wird der Kreml sein neues Bündnissystem mit der arabi schen Welt aufs Spiel setzen und unter Umständen einen neuen, spektakulären Prestigeverlust als Weltmacht in Kauf nehmen? Die Sprache Moskaus gegen die Bruderpartei und den Bündnispartner in Prag weckt auch für den Nahen Osten und das Mittelmeer Befürchtungen.

Genug der „Dialektik” zwischen

Beruhigungspillen, MIG 23, Ulbricht- schen Tiraden gegen Bonn und Prag! Übergenug der Friedensversicherungen, während schon die Bauern auf dem neubestellten Schachbrett vorgeschickt werden! 1962 stand die Invasion Kubas durch die USA zur Debatte. 1968 erfolgte die Invasion der Tschechoslowakei durch die Warschauer-Pakt-Mächte. Was kommt? Der heute verketzerte N. S. Chruschtschow erklärte am 12. Dezember 1962:

„Ist ein neuer Überfall auf Kuba möglich? Natürlich, man kann, was die Handlungen wahnwitziger Militaristen betrifft, keine Garantien geben; aber man kann ganz sicher sagen, daß alle jene Wahnwitzigen, die einen Krieg entfesseln sollten, ein ebenso rühmloses Ende erwartet, wie die Hitlers, Mussolinis und die anderen Barbaren, die die Welt in den Abgrund eines Krieges stürzten.”

Die Frage nach neuen Überfällen zwischen Ostsee und Rotem Meer muß auch heute gestellt werden. Dabei wird man die Gefährdungsfrist bis zum Spätherbst 1969 anzusetzen haben. Bleibt die Hoffnung, daß für den Aggressor das Risiko so überzeugend wird, daß die Menschheit zwischen den beiden „Giganten” trotzdem in Frieden leben kann.

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