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Zwischen Parlament und Standestaat

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Zu unserer unbewähigten Vergangenheit gehört wesentlich die Geschichte Österreichs 1933 bis 1938. Ein Herzstück dieser Zeit bildet die Maiverfassung 1934, die gerade in letzter Zeit im Ringen um das Konkordat und andere innenpolitische Fragen wieder zur Debatte stand. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen im Werden und in den Geburtswehen des „christlichen Ständestaates“ sind heute noch weithin unbekannt. Im folgenden schildert Dr. Theodor Veiter die Vorgänge, die zur Maiverfassung von 1934 führten. Dr. Veiter war von 1929 bis 1934 Sekretär der christlichsozialen Fraktion im österreichischen Bundesrat, besitzt ihre Protokolle sowie einen großen Teil der Protokolle des „Großen Klubs“ dieser Partei, in dem die National- und Bundesräte zu wichtigen Gegenständen gemeinsam tagten. Zudem war Dr. Veiter seit dem Ende der zwanziger Jahre mit Dr. Otto Ender, dem Redaktor der Verfassung, fachlich und persönlich in engem Kontakt, und hat nach dem Ableben des verewigten Altbundeskanzlers sich entschlossen, die teilweise dramatischen Vorgänge nunmehr der Öffentlichkeit bekanntzugeben.„Die Furche“

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Zu unserer unbewähigten Vergangenheit gehört wesentlich die Geschichte Österreichs 1933 bis 1938. Ein Herzstück dieser Zeit bildet die Maiverfassung 1934, die gerade in letzter Zeit im Ringen um das Konkordat und andere innenpolitische Fragen wieder zur Debatte stand. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen im Werden und in den Geburtswehen des „christlichen Ständestaates“ sind heute noch weithin unbekannt. Im folgenden schildert Dr. Theodor Veiter die Vorgänge, die zur Maiverfassung von 1934 führten. Dr. Veiter war von 1929 bis 1934 Sekretär der christlichsozialen Fraktion im österreichischen Bundesrat, besitzt ihre Protokolle sowie einen großen Teil der Protokolle des „Großen Klubs“ dieser Partei, in dem die National- und Bundesräte zu wichtigen Gegenständen gemeinsam tagten. Zudem war Dr. Veiter seit dem Ende der zwanziger Jahre mit Dr. Otto Ender, dem Redaktor der Verfassung, fachlich und persönlich in engem Kontakt, und hat nach dem Ableben des verewigten Altbundeskanzlers sich entschlossen, die teilweise dramatischen Vorgänge nunmehr der Öffentlichkeit bekanntzugeben.„Die Furche“

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Ein vereinfachendes Geschichtsklischee pflegt heute Dr. D o 11 f u ß als einen Diktator hinzustellen. Er war ganz im Gegenteil in seiner politischen Ausgangsposition ein ausgesprochener Demokrat und auch nicht von jenen wirklichkeitsfernen, manchmal beinahe rabulistisch anmutenden staatsphilosophischen Ideen beherrscht, die 1933/34 in Österreich sonst da und dort auftauchten bzw. vertreten wurden. Dollfuß wollte allerdings, und dazu hatte er zweifellos das Zeug, aus Österreich einen von christlichem Geist beherrschten Staat machen. Daß er so etwas konkret verwirklichen zu können glaubte, wurde ihm durch einen jener vielen Zufälle ermöglicht, die die Weltgeschichte bestimmen. Er hatte am 4. März 1933 in Villach auf einer Kundgebung zu sprechen, die vom Bauernbund für Kärnten ausging (der heutige Bundesminister Graf war damals Bauernbund-sekretär in Klagenfurt). Um rechtzeitig dort zu sein, reiste er, bescheiden wie er immer gewesen war, mit dem Abendschnellzug (Wien-Venedig) ab, doch hängten sozialdemokratische Eisenbahner den Waggon absichtlich in Bruck an der Mur ab, so daß er mit dem fahrplanmäßigen Personenzug von dort weiterfahren mußte und statt gegen fünf Uhr morgens erst gegen Mittag in Villach ankam, zudem einigermaßen gerädert. Der Kärntner christlichsoziale Abgeordnete, Chefredakteur Msgr. Michael P a u 1 i t s c h, dessen Einfluß auf den Gang der österreichischen Geschichte 1918 bis 1938 man schwerlich überschätzen kann, vertrat nun die Meinung, Dr. Dollfuß solle sich derartige sozialdemokratische Provokationen nicht länger gefallen lassen und die soeben erfolgte Selbstausschaltung des Nationalrates (Rücktritt aller drei Präsidenten) zum Anlaß nehmen, um autoritär zu regieren. Dollfuß nahm, temperamentvoll wie er war, diese Anregung auf, jedoch mit der Absicht, möglichst bald wieder zu den demokratischen Formen der Regierung zurückzukehren.

Wie es aber schon zu gehen pflegt, frei von den Fesseln des Parlaments, formell, wenn auch zweifellos verfassungswidrig, gedeckt durch das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom 24. Juli 1917 (RGBl. Nr. 307) und dessen überdrehte Auslegung durch den Sektionschef Doktor Hecht als juristischen Berater, entschloß sich Dollfuß in der offenkundigen Staatskrise zur Beseitigung der bestehenden Kelsenschen Verfassung von 1920, die ja am parlamentarischen Versagen mit schuld trug, und zur Ausarbeitung einer neuen, christlichen Verfassung.

Zunächst hatte Dr. Dollfuß keineswegs eine Ahnung davon, wie diese Verfassung aussehen sollte. Nur Andeutungen dazu finden sich in seinen Erklärungen nach der letzten (verfassungswidrigen, aber auch verfassungswidrig mit Polizei dann aufgelösten) Sitzung des Rumpfnationalrates vom 15. März 1933 (Einberufer: Dr. Straffner von der Großdeutschen Volkspartei). Seinen Arbeitsmethoden entsprechend kam es Dollfuß darauf an, jemanden zu finden, der die Detailarbeit einer solchen neuen Verfassung gewissenhaft und auf Grund eigener Verfassungskenntnisse, aber nach von ihm — Dr. Dollfuß — aufgestellten Grundlinien entwerfen würde. Er fand diese Persönlichkeit in dem Landeshauptmann von Vorarlberg und Bundeskanzler a. D. Dr. Otto Ender. Damals hat Dr. Dollfuß noch gar nicht das Ausmaß autoritärer Gedanken erfaßt gehabt, das er später zu verwirklichen wünschte, und er hat mir dies auch ab und zu gesprächsweise erwähnt.

Am 29. Juni 1933 weilte Dr. Dollfuß in Bre-genz und fragte dort Dr. Ender, ob er als Minister für Verfassungsreform in das Kabinett eintreten wolle, um eine neue Bundesverfassung auszuarbeiten. Dr. Ender war von diesem Vorschlag keineswegs entzückt, zumal er verschiedene ihm angedeutete Maßnahmen nicht guthieß. Als ihm Dr. Dollfuß aber zusicherte, die Verfassung werde und müsse demokratisch sein, sagte Dr. Ender zu.

Als Mitarbeiter zog Dr. Ender, der am 20. Juli 1933 bestellt wurde, den Ministerialrat im Bundeskanzleramt, Dr. Hugo J ä c k e 1 (Verfassungsdienst), heran, später Dr. Fritz Schneider, Bregenz, den späteren Landesamtsdirektor, der ein hervorragender Verfassungsjurist war. Klare Richtlinien des Kanzlers lagen noch nicht vor, wenn man von der Rede Dollfuß' auf der Tagung des Reichsgewerbebundes in Salzburg vom 28. Mai 1933 absieht, auf der er den Wunsch aussprach, einer „Länder- und Ständekammer auf die Gesetzgebung, besonders auf die wirtschaftliche Gesetzgebung, einen Einfluß einzuräumen“.

Der erste Entwurf, den Ender während des Sommers 1933 erarbeitete, umfaßte nur die allgemeinen Bestimmungen der neuen Verfassung (9 Artikel). Artikel 1 lautete noch: „Österreich ist eine demokratische, berufsständische Republik.“ Ender vertrat in dieser Zeit dem Bundeskanzler gegenüber wiederholt die Auffassung, daß „berufsständisch“ im Sinne der Enzyklika Quadragesimo Anno vom 15. Mai 1931 wohl mit dem Begriff „demokratisch“ vereinbar sei, auf dessen Verankerung in der neuen Verfassung die Landbundminister (W i n k 1 e r) drängten, nicht jedoch mit dem Begriff „faschistisch“, wie er von Minister F e y und dem Bundesführer des Österreichischen Heimatschutzes, Starhem-berg, gerade um jene Zeit in wiederholten Reden als Grundlage des künftigen Österreichs gefordert wurde. Dieser erste Entwurf erfuhr eine kleine Überarbeitung (Aufnahme des künftigen Staatswappens, Festlegung der Farben Rot-Weiß-Rot). Die übrigen Bestimmungen (Weg der Gesetzgebung usw.) konnten noch nicht ausgearbeitet werden, da alle diesbezüglichen Weisungen des Bundeskanzlers noch ausstanden.

Nach wiederholten Besprechungen mit Dollfuß — der Ministerrat wurde mit der Verfassungsfrage während des Jahres 1933 über des Kanzlers Wunsch überhaupt nicht befaßt — erarbeitete Ender einen rohen Umriß des Weges der Gesetzgebung (mitgeteilt in der Sitzung der christlichsozialen Bundesratsfraktion am 11. September 1933), der noch einen stark verkleinerten Nationalrat bzw. später Volksrat kannte, während daneben ein Ständerat (aus den Berufsständen gebildet), ein Länderrat (9 oder 18 führende Ländervertreter) und ein Herrenhaus (später Staatsrat; vom Bundespräsidenten auf Lebenszeit, in einem späteren Entwurf auf zehn Jahre ernannter Senat) eingerichtet werden sollten. Um im Volksrat nach Möglichkeit das konservative Element in den Vordergrund zu stellen, war gleichzeitig eine Wahlrechtsreform geplant, die im Detail von Ministerialrat Doktor P u 11 a r ausgearbeitet wurde, welche ein Mehrstimmenwahlrecht für Familienerhalter, für persönlich haftbare Leiter von Betrieben mit mehr als 20 Arbeitern, für Personen mit besonderer Verbundenheit mit der bäuerlichen Scholle und für Arbeiter mit einer mehr als 20jährigen Dienstzeit in ein und demselben Betrieb vorsah. Aktiv wahlberechtigt sollten Männer und Frauen nach dem vollendeten 30. Lebensjahr sein. Die kulturelle Gesetzgebung sollte der Volksrat, die wirtschaftliche der Ständerat ausüben, während Länderrat und Staatsrat über sämtliche Gesetze Beschluß fassen sollten. Überdies sollte eine Finanzkammer von 39 Mitgliedern eingerichtet werden. Volksrat mit Länderrat und Staatsrat sollten zusammen den Volkstag, Ständerat mit Länderrat und Staatsrat den Ständetag bilden. Die endgültige Beschlußfassung über die Gesetze hatte im Volkstag oder im Ständetag oder in der Finanzkammer zu erfolgen, je nach der Materie. Dieser Verfassungsentwurf enthielt zum erstenmal eine Präambel, welche. folgendermaßen lautete: „Im Namen Gottes des Allmächtigen, von dem dieses Recht ausgeht, erhält das österreichische Bundesvolk zur ständischen Gliederung in seinem auf den Ländern aufgebauten christlichen deutschen Bundesstaat diese Verfassung.“

Auf eine Überarbeitung dieses Entwurfes nahm auch der Sektionschef im Bundesministerium für Heerwesen, Dr. Robert Hecht, Einfluß. Von ihm stammt der Entwurf des zehnten Hauptstücks „Notrechte der Verwaltung“. *

Am 9. September 1933 erklärte Bundeskanzler Dollfuß im Rahmen der Veranstaltungen des Allgemeinen Deutschen Katholikentages in Wien: „Wir werden ständische Formen und ständische Grundlagen, wie sie die Enzyklika Quadragesimo Anno uns so schön verkündet, zur Grundlage des Verfassungslebens nehmen. Wir haben den Ehrgeiz, das erste Land zu sein, das dem Ruf dieser herrlichen Enzyklika wirklich im Staatsleben Folge leistet.“ Diese Worte, deren Widerhall in der Öffentlichkeit und über den Rahmen Österreichs hinaus ein überaus starker war, gaben zum erstenmal Richtung und Sinn in die Arbeiten für die neue Verfassung. Ender, der sich bei seiner Aufgabe ausdrücklich nur als ausführendes Organ der Anweisungen des Bundeskanzlers betrachtete, verließ nun die Gedanken einer bloßen Verbesserung der alten Verfassung unter Einbau einzelner autoritärer und ständischer Elemente. Damit wuchs nun freilich die Aufgabe ungemein. Diese Erkenntnis war es, die den Bundeskanzler Dollfuß ver-anlaßte, um die Wende von September auf Oktober 1933 eine Notiz in den Zeitungen erscheinen zu lassen, derzufolge ein „Provisorischer Länder- und Ständerat“ ernannt werden sollte. Die Wirkung dieser Notiz war nun freilich die, daß sich ungef“hr 150 Stände für diese Vertretung anmeldeten und überdies noch rund 100 Einzelpersonen in Briefen an den Verfassungsminister nachzuweisen suchten, daß sie. teils wegen ihrer Befähigung, teils wegen der Notwendigkeit einer Erhöhung ihres Einkommens, als Ständevertreter ernannt werden müßten. Der Bundeskanzler ließ hierauf den Plan fallen.

Im Laufe des Oktober 1933 bis in den November hinein arbeitete Ender die Partie der gesetzgebenden Körperschaften aus in einem fünften Entwurf. Er sah bereits vier Körperschaften vor. Während des Dezember und Jänner wurde dieser Teilentwurf um die übrigen Hauptstücke erweitert, so daß mit dem 30. Jänner 1934 der erste vollständige Verfassungsentwurf vorlag, der bereits in den großen Zügen die am 1. Mai 1934 Gesetz gewordenen Bestimmungen enthielt.

In der Folgezeit hat Ender noch (ohne Ein-rechnung des Endtextes) drei, also insgesamt acht vollständige Verfassungsentwürfe ausgearbeitet. Rechnet man jedoch die zeitlich gesondert vorgetragenen und ausgearbeiteten Entwürfe bzw. Umarbeitungen der verschiedenen Hauptstücke und des Motivenberichtes hinzu, so ergibt sich eine Gesamtzahl von ungefähr 13 Entwürfen.

Der Verfassungsentwurf kam am 2. Februar 1934 vor den Ministerrat, der sich sohin zum ersten Male damit zu befassen hatte. Der Ministerrat ging auf das Meritorische des Entwurfes nicht ein. Nur Artikel 1. der die Fassung hatte: „Österreich ist eine berufsständische Republik“, wurde in die Fassung gebracht, „Österreich ist ein Bundesstaat“. Es wurde beschlossen, ein Ministerkomitee zu bestellen, „das den Entwurf zu prüfen und dem Ministerrat Vorschläge zu erstatten hatte, ob die Verfassung auf Grundlage dieses Entwurfes erstellt werden soll, allenfalls welche erheblichen Änderungen vorzunehmen wären.“ In dieses Ministerkomitee wurden entsandt: Dollfuß, Ender, Schuschnigg, Kerber, Schmitz, Neustädter-Stürmer.

Der Hauptschwierigkeit, der Aufrichtung der Stände, war sich Ender von vornherein bewußt. (Schluß in der nächsten Nummer)

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