ZEUGNISSE EINER ZERRÜTTUNG

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FISTON MWANZA MUJILAS ROMAN "TRAM 83" IST EIN BRACHIALES PORTRÄT EINER AFRIKANISCHEN METROPOLE.

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FISTON MWANZA MUJILAS ROMAN "TRAM 83" IST EIN BRACHIALES PORTRÄT EINER AFRIKANISCHEN METROPOLE.

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,Weltliteratur' ist ein großer Begriff, der nicht zufällig erfunden wurde, als die Kolonialmächte die Welt unter sich aufteilten, so wie die ,Weltmusik' auftauchte, als die aktuelle Globalisierungswelle über uns kam. Zweifellos ist damals wie heute die berufliche und touristische Mobilität sprunghaft angestiegen. Die Frage ist nur, was die aus der kapitalisierten Hälfte der Erdkugel Kommenden in den Hinterhöfen ihres ökonomischen Wohlstands jeweils sehen, die Kolonialbeamten im klimatisierten britischen Club in Hongkong damals, oder die Teilnehmer wohlorganisierter und hochpreisiger Trekking-Touren auf den Kilimanjaro heute? Und wie viel Klischee ist in jener Literatur aus den betroffenen Weltgegenden selbst, die es in die westlichen Verlagsmaschinerien schafft und dann mitunter etwas blauäugig als originäre Stimme bejubelt wird?

Erbarmungslos, aufgeraut

Natürlich könnte man sich diese Fragen auch beim Roman "Tram 83" von Fiston Mwanza Mujila stellen. Er wurde 1981 in der Demokratischen Republik Kongo geboren und lebt heute, so die Verlagsinformation, nach Stationen in Belgien und Deutschland in Graz. Doch was der Autor mit seinem 2014 in Frankreich erschienenem Buch vorlegt, ist das atemlos brachiale Portrait der Stammkundschaft in der heruntergekommenen Bordellbar "Tram 83" inmitten einer afrikanischen Metropole im fiktiven "Stadtland". Personage, Lebensbedingungen, Alltagsrituale - alles ist hier so erbarmungslos aufgeraut wie Sprache und Struktur des Romans selbst. Wie Litaneien präsentiert der Autor die endlose Kette möglicher Schicksalsschläge und Unglücksfälle, es ist ein systemischer Fakt, dass hier keiner auch nur einigermaßen unbeschädigt durchs Leben kommen kann. Und trotzdem organisieren sie sich ihre kleinen Freuden und Feste bei Bier, Hundespießchen und Sex nach Maßgabe der jeweiligen Möglichkeiten und nach dem Motto: "Das Leben ist kurz und man muss es auskosten".

Der Autor weiß um die Klischee-Gefahr, die Aussagen dieses Generalisierungsgrades innewohnt. Wenn er einen völlig unmusikalischen Afrikaner in der Pariser Metro trommeln und singen lässt, erntet der trotzdem jede Menge Beifall, denn das (Musik)Gefühl ist "auf ewig Negersache, oder, sagen wir es klar und deutlich, weil jeder Schwarze mit Dreadlocks" einfach ein guter Musiker sein muss, das hat er nun einmal im Blut.

Der Roman setzt am Bahnhof des vom Bürgerkrieg zerrütteten Stadtland ein, im nördlichen, an Bodenschätzen reichen Teil des Landes - vielleicht ist dem Autor auch deshalb an einer Stelle die Bezeichnung "Sudan" in die Feder gelaufen. Der Bahnhof "war im Grunde nichts als ein halbfertiges, von Granateneinschlägen zerschundenes Metallgerüst mit ein paar Gleisen und Lokomotiven, die noch an Stanleys Eisenbahntrasse erinnerten".

Dieses Bild durchzieht den Roman als Kurzversion der afrikanischen Geschichte seit der ,Entdeckung' durch Afrikaforscher wie Stanley und Livingstone. Das koloniale Erbe bestimmt die Gegenwart und verbindet sich mit neuen Formen der Ausbeutung von Land und Leuten; "Touristen" heißen in der Jargon-Sprache die ausländischen Grubenbesitzer unterschiedlicher ökonomischer Potenz. Über den Roman ist ein Netz aus Bibelzitaten gelegt, in sarkastischer Erinnerung an den einstigen Missionseifer der katholischen Kirche. "Es steht geschrieben", brabbelt eine der Figuren im Bierrausch, "in Minen und Zügen geboren, in Steinbrüche müsst ihr kriechen für die Zeit eures Lebens, bis die Prophezeiungen eintreffen. Wie Macht, Dummheit und Hämorrhoiden wird auch Armut vererbt."

Der Roman zeichnet ein Kollektivschicksal der Ausweglosigkeit. Auch die Erzählstimme kippt oft unvermutet aus der neutralen Außenperspektive in eine undefinierte Wir-Position. Kleine Gaunereien jeder Art sind hier eine stets willkommene Option und eine Notwendigkeit - was sind schließlich 150 gestohlene Dollars aus der Börse eines Minenbetreibers im Vergleich zu den 3000 Tonnen täglich in seiner Mine abgebautem Kupfer oder Kobalt -, aber nie ein Ausweg.

Omnipräsente Prostitution

Im Mittelpunkt der Ereignisse, die mit einem Flammeninferno enden, steht der Gegensatz zweier Freunde. Der so umtriebige wie skrupellose Requiem war viele Jahre lang Soldat, im Ausland und im heimischen Bürgerkrieg. Aktuell lebt er gut und "angesehen" von seinem Geschäftsmodell: eine prall gefüllte Aktentasche mit Kopulationsfotos aller Honoratioren, von ganz oben bis zum regionalen Establishment. Dass sie nicht publik werden, ist vielen einiges wert. Der andere ist der Schriftsteller Lucien, der schon mit seiner Profession nicht ins Milieu passt, noch schlechter aber kommt seine ortsunübliche Haltung in der Kopulationsfrage an.

Denn die Basis des geschilderten Soziallebens ist die omnipräsente Prostitution. Die Gesellschaft im "Tram 83" ist - wie wohl überall jenseits der engen Grenzen des zivilisierteren Norden - eindeutig und unerbittlich auf Mann gestimmt. Die Damen treten im Kollektiv auf, als Schar von ,Küken' und ,Single-Mamas', die pausenlos ihre Dienste auf der Gemeinschaftstoilette oder wo immer anbieten. Dass sie es müssen, um zu überleben und ihre Kinder durchzubringen, wird deutlich, aber sexuelle Begeisterung eindeutig auch ihnen zugeschrieben, als gäbe es unter dem ökonomischen Diktat des Prostitutiven ein Kräftegleichgewicht zwischen Geben und Nehmen. Zu einer anderen Perspektivierung des Machtverhältnisses trägt auch nicht gerade bei, dass just jene junge Frau, die an Lucien ernsthafter interessiert scheint, selbst ein lukratives Bordell mit minderjährigen ,Küken' betreibt.

Lucien nimmt nicht teil an diesem Karussell, das stempelt ihn genauso zum Außenseiter wie die Tatsache, dass er nicht arbeitet bzw. herumgaunert, sondern nur vor sich hin kritzelt. Dann taucht der Verleger Malingeau auf, der Luciens Epos über die Ideengeschichte der Welt, heruntergebrochen auf das Schicksal Afrikas, tatsächlich drucken will. Freilich weiß er von seinen Aufenthalten in der Schweiz, dass auch der Literaturbetrieb seine angesagten Locations hat, und Schwarz-Afrika gehört nicht dazu; er empfiehlt ein lateinamerikanisches Land als Handlungsort, und wenn schon Afrika, dann allenfalls Mauretanien. Trotzdem, eines Tages ist das Buch da und auch ein Skandalblatt mit einigen von Requiems Fotos: der finale Showdown ist nicht mehr aufzuhalten.

Tram 83

Roman von Fiston Mwanza Mujila

Übers. von Katharina Meyer und Lena Müller.

Zsolnay 2016 208 S., geb., € 20,60

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