Zum Faktor der russischen Identität geworden

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Sedisvakanz in Moskau: Ende Jänner wählt der Heilige Synod der russisch-orthodoxen Kirche den Nachfolger des am 5. Dezember verstorbenen Patriarchen Aleksij II. In seinem letzten Interview, das Aleksij vor seinem Tod gegeben hat, verteidigt der Patriarch die neue Allianz zwischen seiner alten Kirche und dem heutigen Staat.

"Werden Sie sterben? Gehört der Geist zum Körper oder zur Seele? Was macht die Seele, wenn der Körper schläft?"

Dem Vorsteher des Klosters Optina Pustyn im Kreis Kaluga, Archimandrit Wenedikt, geht es im Gespräch ausschließlich um das, was er "die eine Wahrheit" nennt: den orthodoxen Glauben. Alexander, ein junger Deutsch-Russe, hat eine Frage. Er habe gehört, dass ein wahrer Russe orthodox sein müsse. Ob man sich auch taufen lassen könne, wenn man nicht an Gott glaube? "Was für ein Unsinn", antwortet der Abt unverblümt. Auch wenn man atheistisch erzogen worden sei: Auf das eigene Gewissen komme es an, auf nichts und niemanden sonst. Wer getauft werden wolle, müsse sich der Wahrheit stellen. Ein dostojewskijsches Gespräch kommt in Gang.

Im 19. Jahrhundert war Optina Pustyn das vermutlich wichtigste Kloster Russlands. Geistesgrößen wie Gogol, Dostojewksij oder Tolstoj kamen hierher, um mit dem "Starez" - einem besonders begnadeten Seelenführer unter den Mönchen - zu sprechen.

Die Klosteranlage ist erst seit 1987 wieder von Mönchen bewohnt; unter Stalin war sie zu einem landwirtschaftlichen Kombinat umgewidmet worden. Die Mönche hatte man vertrieben, manche auch ermordet. Jetzt ist alles wieder da: das naturnahe Leben der Klostergemeinschaft, die schlichte Schönheit der Gottesdienste, das Bemühen um Seelsorge und Glaubensförderung.

Nach Jahrzehnten von Martyrium, Verfolgung und staatlicher Repression steht die russisch-orthodoxe Kirche, der etwa 70 Prozent der Bevölkerung angehören, in neuer Blüte.

Neue Blüte nach Jahrzehnten von Martyrium

Mit kräftiger staatlicher Unterstützung werden Kirchen renoviert oder neu gebaut, Klöster instand gesetzt, theologische Lehranstalten eröffnet. Allein in Moskau gibt es derzeit über 400 Kirchen. Zur schlimmsten Zeit waren es nur acht. In einem ORF-Interview kurz vor seinem Tod spricht Patriarch Aleksij II. im Hinblick auf die vielen Menschen, die zu Glaube und Kirche zurückkehren, von einem "Wunder, das wir heute sehen".

Eine Rückkehr? Nach den Erfahrungen der religionsfeindlichen Zeit ist es kaum verwunderlich, dass Priester und Bischöfe die neue Freiheit genießen. Die Kirche garantiert Kontinuität; unversehens ist sie wieder zu einem wichtigen Faktor russischer Identität geworden. Dennoch: Die heutige Lebensrealität ist mit jener des 19. Jahrhunderts nicht zu vergleichen.

Nach dem Niedergang der Sowjetunion habe sich das Land einer "Ideologie des Supermarkts", einer "Gesellschaft des rasenden Konsums" verschrieben, diagnostiziert der Moskauer Filmregisseur Pawel Longin. Aber nicht alle können mithalten, nur wenige sind reich geworden. In dieser Orientierungslosigkeit ortet der Künstler ein Verlustgefühl, eine Sehnsucht nach geistigen Werten. Die russische Seele, sagt er, sei im Grunde religiös. Die russisch-orthodoxe Kirche präsentiert sich folgerichtig als Hüterin traditioneller Werte. "Freiheit und Menschenrechte scheinen dem Menschen alles zu erlauben", sagt Patriarch Aleksij II. "Aber es muss sittliche Kriterien geben."

Diesem Befund würde im St.-Filaret-Institut, einer theologisch-religionswissenschaftlichen Lehranstalt, die sich in einem Moskauer Hinterhof versteckt, niemand widersprechen. Hier studieren Frauen und Männer nicht, um einen kirchlichen Beruf zu ergreifen, sondern schlicht um über Glaube, Religion und Welt Bescheid zu wissen - und damit Verantwortung zu übernehmen für eine Gesellschaft, die sich in einer tief greifenden Neuorientierung befindet. Zum Abendgebet kommen Hunderte und nehmen in Kauf, dass sie nicht in der Kapelle Platz finden, sondern dem Gebet per Lautsprecherübertragung in Hörsälen und Seminarräumen folgen müssen. Gebetet wird auf Russisch, nicht auf Altkirchenslawisch - was etwa in Optina Pustyn undenkbar wäre. Man dürfe nicht die Liturgie zu den Menschen hinabsenken, sagen die Mönche dort, sondern müsse die Gläubigen zu ihr emporheben. Dabei ist das Verständnisproblem gering; Altkirchenslawisch ist dem Russischen sehr nahe. Trotzdem ist es den Neuerern wichtig, in der heute gebräuchlichen Sprache zu beten, um die Distanz zwischen Kult und Leben zu verringern.

Soziale und kulturelle Initiativen

"Bei uns sind Gebet, Glaube und Leben miteinander verbunden", sagt der Priester Grigorij Kotschetgow, der Leiter des Instituts. St. Filaret gehört zu einer kirchlichen Bruderschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Glauben auch außerhalb des Gotteshauses zu verwirklichen. Solche Gemeinschaften mit ihren sozialen oder kulturellen Initiativen stoßen mitunter auf konservative Kritik und sind kein Massenphänomen. Aber sie haben den Blick nach vorne gerichtet und zeigen Wege in die Zukunft.

Kirche und Staat seien in ein neues Verhältnis zueinander getreten, betont Patriarch Aleksij II. in seinem letzten Interview. Unter den Zaren war die Kirche Staatsreligion, in der Sowjetzeit unter staatlicher Kontrolle. Jetzt, im neuen Russland, seien Staat und Kirche getrennt, und erstmals mische sich der Staat tatsächlich nicht in innerkirchliche Angelegenheiten: "Die Kirche lebt ihr eigenes Leben." Trotzdem sind die Beziehungen zwischen Staat und Kirche eng. Die Kirche braucht für ihre Bauvorhaben Geld vom Staat, dieser wiederum sucht nach dem Kommunismus eine neue Staatsidee, die die Orthodoxie bieten kann. Präsident und Patriarch zeigen sich gerne gemeinsam.

Staat - Kirche: bedenkliche Partnerschaft?

Für Grigorij Kotschetgow ist die Rede von einer Partnerschaft zwischen Staat und Kirche bedenklich. Er sieht die Gefahr einer neuen Staatskirche - mit allen Einschränkungen, die das für das kirchliche Leben bedeute. Anna Schmaina-Welikanowa, eine engagierte orthodoxe Christin, die an einer Moskauer Universität vergleichende Religionswissenschaft lehrt, sieht die Funktion der Kirche in Russland vor allem als "Dekoration" im Staatstheater, das sie mit dem faschistischen Modell des frühen Mussolini in Verbindung bringt: "Die Kirche nimmt dieselbe Stelle ein wie das alte Rom im Bewusstsein Mussolinis." Von einer "Übergangsphase" spricht Pawel Men, Bruder des 1990 ermordeten Priesters, Theologen und Religionsphilosophen Alexander Men. Die Autoritätshörigkeit der großen Mehrheit hält er für ein postsowjetisches Syndrom, das nicht leicht zu überwinden sei: "Politische Klugheit kommt nicht sofort." Men wünscht sich eine Kirche, die in Distanz, ja in Opposition zur politischen Macht steht. "Wenn totalitäre Schablonen aus der Sowjetzeit in Funktion bleiben, dann erwartet uns die nächste totalitäre Welle von Regimen - und eine kirchliche Elite, die dem Staat dienen wird." Ein "Kampf um Freiheit und Knechtschaft" sei täglich im Gang, sagt Men.

Alte Fragen im neuen Russland. Es ist eine Zeit des Übergangs, mit Hoffnungen, Wünschen, Zurufen. Ob die Zukunft demokratisch oder autoritär sein wird? Die Antwort steht noch aus. Aber man steigt nicht zweimal in denselben Fluss; die Wiederkehr der Kirche ist keine Rückkehr in alte Verhältnisse.

Alexander jedenfalls zeigt sich vom Gespräch mit dem Abt beeindruckt. Er will jetzt nicht nur getauft, sondern auch Christ werden. Wie zu Zeiten Dostojewskijs: Die Tradition entfaltet offenbar auch unter Heutigen ihre Kraft, wenn sie überzeugend vertreten wird.

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