Zum Wahnsinn verdammt

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"Enrico" von Manfred Trojahn im Opernhaus Graz.

In-Frage-Stellen der Realität durch Konfrontation mit dem Wahnsinn ist seit dem 19. Jahrhundert ein zentrales Thema der Kunst. In seiner dramatischen Komödie "Enrico" nach Luigi Pirandellos "Heinrich IV." setzt sich der 1949 geborene Manfred Trojahn mit dieser Thematik auseinander: Durch einen Sturz vom Pferd bei einem Maskenzug hat der Titelheld sein Gedächtnis verloren und ist in eine historische Scheinwelt geflohen. Diese erhält er auch aufrecht, als nach zwölf Jahren sein Gedächtnis zurückkehrt. Mithilfe von zwei Bildern, die ihn selbst in der Maske Heinrichs IV. und seine damaligen Angebetete, Marchesa Matilda Spina, im Kostüm der Mathilde, Markgräfin von Toskana, zeigen, vergegenwärtigt er sich Tag für Tag den vergangenen Augenblick, verleugnet den Fortgang der Zeit. Zur Katastrophe kommt es, als sein Neffe einen Psychiater engagiert, der Enrico mittels einer "Verlebendigung" der alten Porträtbilder durch die Tochter der Marchesa und deren Verlobten in die Realität zurückholen will. Im Moment der erzwungenen Konfrontation mit der Wirklichkeit bleibt Enrico seiner inneren Wahrheit treu und attackiert den einstigen Rivalen Belcredi. Damit ist er für immer zur Rolle des Wahnsinnigen verdammt.

Manfred Trojahn zählt zu jenen Komponisten, die in den 70er Jahren durch ein gewandeltes Geschichtsbewusstsein, ein neues Verhältnis zum Vergangenen und zum Fortschritt bekannt geworden sind. Grundlage seines Schaffens bilden die von der klassischen Avantgarde als überholt angesehenen traditionellen Formen wie Symphonie oder Oper. Komponieren bedeutet für Trojahn Übersetzen von Realität in eine andere, ebenfalls realistische Erscheinungsform: die des Klanges. Ziel ist nicht oberflächliche Anbiederung, sondern ernsthafte Kommunikation mit dem Publikum. Seine Haltung könnte man als bewusst konservativ bezeichnen im Sinne des Versuchs, Bewahrenswertes aus der Vergangenheit zu erhalten, ohne dabei auf Neuerungen zu verzichten.

Die Grazer Inszenierung (Kerstin Maria Pöhler) fokussiert die Gegensätze zwischen Normalität und Wahn. Die bunte Maskerade der von Enrico engagierten Schauspieler prallt auf die Nüchternheit der vom Doktor instruierten Besucher. Gelang es auch nicht durchwegs, die Dramatik der Musik auf die Bühnenhandlung zu übertragen, gewann die Aufführung doch zunehmend an Spannung. Alle neun Szenen spielen in dem in zerbrochener Perspektive gezeigten, etwas altmodisch möblierten Empfangszimmer von Enricos Villa (Bühne und Kostüme: Frank Fellmann). Ein schwarzes Loch im Zentrum der Bühne repräsentiert das Dunkel der Vergangenheit. Projektionen eines Burghofes illustrieren Enricos Wahnvorstellungen.

Musikalisch bietet man Beachtliches: Souverän meistert das Grazer Philharmonische Orchester unter der Leitung von Roger Epple die Schwierigkeiten der Partitur, die von lyrisch-melodiösen Solostellen bis zu virtuos grundierten Klangflächen und in der Dynamik extremen Höhepunkten reichen. Ingrid Habermann (Marchesa Matilda Spina) und Margareta Klobucar (deren Tocher Frida) überzeugten mit einwandfreier stimmlicher Leistung sowie durch darstellerisches Engagement. Viel Applaus erntete Hector Guedes, dessen anfangs etwas blasser Enrico im zweiten Teil deutlich an Profil gewann. Einwandfrei Andrea Martin als skeptischer Belcredi, Andries Cloete als Enricos sensibler Neffe und Gerhard Hochschwendner als sachlicher Dottore. Alles in allem eine sehenswerte Produktion.

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