Zwei Häuser für elf Bücher

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Die Schätze der flämischen Buchmalerei waren Jahrhunderte verborgen.

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Die Schätze der flämischen Buchmalerei waren Jahrhunderte verborgen.

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Sie ist eine Kunst von höchstem Ruhm, größter Ausstrahlung und gewaltiger Beliebtheit, trotzdem bekommen wir ihre Werke kaum zu Gesicht. Und wenn mittelalterliche Buchkunst ausgestellt wird, dann bei heruntergelassenen Vorhängen in kärglich bemessenem Kunstlicht. Viele ihrer Werke könnten, in Gold und großartiger Farbenpracht strahlend, unser Auge erfreuen, dürfen es aber nicht. Sie müssen das Licht scheuen, denn es ist ihr Tod. Jede Stunde, in der man sie dem Sonnenlicht aussetzt, raubt ihren oft zarten, oft prallen Farben etwas von ihrer Intensität. In tiefster Finsternis, geborgen zwischen dicken hölzernen und ledernen Buchdeckeln, haben sie sich über die Jahrhunderte hinweg jene Leuchtkraft bewahrt, von der den Glasfenstern in den gotischen Kathedralen und den Tafelbildern auf den Altären und in den Museen längst ein Gutteil abhanden gekommen ist.

Daher gilt Andre Malraux' Wort vom "musee imaginaire", wonach die Weltkunst dank der Reproduktionstechnik heute weltweit in einem imaginären, heute würde man sagen: virtuellen Museum jedermann zugänglich ist, für diese Werke ganz besonders. Während die Glasfenster und Altarbilder jedermann zugänglich waren, war die Buchkunst extrem privat und elitär, nur den Besitzern der Unikate zugänglich: Den Klerikern in den Abteien oder den königlichen, fürstlichen und gräflichen Eigentümern kostbarer Stundenbücher. Erst das 20. Jahrhundert hat auch diese Werke demokratisiert. Die Illustrationen im Stundenbuch des Herzogs Jean de Berry, um ein markantes Beispiel zu nennen, fanden durch Postkarten und Bucheinbände eine gewaltige Verbreitung.

Faksimiles kompletter Codices unter Verwendung derselben Materialien wie im Original mit echten Goldauflagen kosten den Gegenwert eines Kleinwagens. Der andere Weg ist die optimale Ausnützung dessen, was Qualitätsdruck heute kann. Das Werk "Flämische Buchmalerei - Vom 8. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts" von Maurits Smeyers läßt die Augen übergehen. Es bietet zweierlei, beides kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Über 600 exzellent in Farbe gedruckte Abbildungen geben einen umfassenden Überblick über die mittelalterliche Buchkunst, wobei die Fokussierung auf die flämische kein Nachteil ist, da auch die wichtigsten Strömungen hier einen Brennpunkt hatten, vollendeten Ausdruck fanden und viele ihren Ausgang nahmen. Dazu kommt der Text des 1999 mit 62 Jahren frühverstorbenen Professors der Universität Löwen, Smeyers. Der Spiritus Rector des Studienzentrums für flämische Buchmalerei war einer jener Gelehrten, die wissenschaftliche Erkenntnisse ohne Niveauverlust in einer klaren Sprache spannend zu vermitteln wissen.

Wir erfahren nicht nur, was die Bilder "bedeuten", was die Künstler beabsichtigten, was von ihnen erwartet und gefordert wurde. Wir erfahren auch eine Menge über ihre Stellung in der Gesellschaft, die sich im Lauf der acht Jahrhunderte Buchkunst stark veränderte, ihre Arbeitsbedingungen, die Techniken, die ökonomischen Verhältnisse und nicht zuletzt über die Auftraggeber. Zum Beispiel Philipp den Guten (1419 - 1467). Der Herrscher Burgunds hatte zwar von seinem Vater Johann Ohnefurcht etwa 250 Handschriften geerbt, die Sammlung aber in den ersten 20 Jahren seiner Herrschaft kaum ausgeweitet. Sein Interesse für die Buchkunst erwachte erst nach der Befriedigung seiner territorialen Ambitionen, dann aber explosiv, und da er seine Aufträge über viele Hunderte von kostbaren Büchern meist nicht an burgundische Künstler, sondern vorwiegend in die südlichen Niederlande vergab, konnte die flämische Buchkunst nicht zuletzt dank ihm sogar die Pariser Konkurrenz überrunden. Selbstverständlich diente die Bibliophilie dem Prestige des Herzogs, dessen Bibliothek schließlich auch den Vergleich mit jenen von Papst Nikolaus V. oder des Fürsten Cosimo Medici von Florenz nicht zu scheuen brauchte.

Über einer Heiligen Schrift konnte der Kopist in zugigen, ungeheizten Räumen jahrelang sitzen, und nach ihm machten sich Seite nach Seite der Rotschreiber und der Illuminator ans Werk. Ihre Befreiung von der Feldarbeit in den Klöstern (außer während der Ernte) war ein zweifelhaftes Privileg. So schrieb der Kopist Petrus von Santo Domingo in Silos 1109: "Wer nichts vom Schreiben weiß, der achtet unsere Arbeit nicht. Falls Ihr es selbst versucht, werdet Ihr merken, wie schwer diese Arbeit ist. Sie macht unsere Augen krank, unseren Rücken rund, Brustkorb und Bauch werden zusammengepreßt, die Nieren funktionieren nicht mehr. Daher, lieber Leser, schlage behutsam das Blatt um, berühre mit dem Finger nicht die Buchstaben. Denn wie der Hagel den Feldfrüchten schadet, so ist der unvorsichtige und schlampige Leser eine Heimsuchung für Schrift und Buch."

Die Lamentatio der Kopisten und Illuminatoren blieb uns als vielstimmiges Lied erhalten. Ein Mönch aus Corbie schrieb: "Nur drei Finger halten die Feder, aber der ganze Körper tut beim Schreiben weh." Cennino Cennini mahnte die Schreiber und Buchmaler: "Noch etwas anderes kann Eure Hände so unsicher machen, daß sie zittrig und schwach werden wie Blätter im Wind. Und das ist der Umgang mit Frauen ..." Der Gegenwert zweier Häuser wurde denn auch in Tournai anno 1277 für elf gewiß nicht luxuriöse Bücher bezahlt.

Flämische Buchmalerei. Vom 8. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Von Maurits Smeyers Aus dem Holländischen von Marlene Müller-Haas und Franz J. Lukassen Verlag Urachhaus, Stuttgart 1999, 528 Seiten, über 600 Farbbilder, Ln., Leinenschuber, bis 31.3. öS 2.146,- danach öS 2.592,- /e 155,95/188,36.

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