Zwei Leben für die Poesie

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Tag, zwei Lyriker von zwei Kontinenten und aus zwei Jahrhunderten: Christian Morgenstern und Octavio Paz verbindet die Poesie und ein Datum - der 31. März 1914.

Den Beginn des Großen Krieges erlebte er nicht mehr: Der Dichter Christian Morgenstern starb am 31. März 1914 42-jährig in Meran. Zwei Tage zuvor hatte seine Frau Margareta Geburtstag, der Schwerkranke ließ sich, erzählt Biograf Jochen Schimmang, das Bett ans Fenster schieben, um den Frühlingssonntag zu genießen.

Christian Morgensterns Leben umfasst das des Deutschen Reichs: Geboren wurde er nämlich 1871, also im Jahr der Gründung. Und kurz nachdem er starb, brach der Erste Weltkrieg aus, ging diese Epoche zu Ende.

Der Spross einer Künstlerfamilie (Vater, Großvater und Urgroßvater waren Landschaftsmaler) wurde mit einem aufmerksamen Blick auf die Natur und Bilder groß. Er las bald Nietzsche und schärfte an ihm seine Kritik an der Wilhelminischen Gesellschaft, kam mit 23 Jahren nach Berlin, lebte vom Schreiben für Kulturzeitschriften und lernte Schriftsteller kennen, die Neues versuchten. Das tat er selbst auch bald.

Mit Galgenhumor

Mit seinem erster Gedichtband "In Phantas Schloß - ein Zyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen“ (1895) versuchte er eine "Durchgeistigung der Realität“. Da hatte bereits der Humor seinen Auftritt, das Markenzeichen der Morgenstern’schen Lyrik. Auch die berühmten "Galgenlieder“ nahmen zu dieser Zeit ihren Anfang, wenngleich noch unpubliziert. Im "Galgenbund“ hatten sich einige Künstler zusammengeschlossen, die versuchten, die Welt wie vom Galgen aus anzusehen, denn: "Man sieht vom Galgen die Welt anders und man sieht andere Dinge als Andere.“

1905 erst wurden die "Galgenlieder“ publiziert, und Morgenstern betrat lyrisches Neuland mit seiner "Umwortung der Worte“. Er löste die Wörter aus ihren ursprünglichen Bedeutungen und Nasob¯em und Mondschaf, Palmström und v. Korf eroberten die literarische Welt und blieben wirklich bis heute. Morgenstern gilt zurecht als Vorreiter der konkreten Poesie, mit seinem berühmten Gedicht "Fisches Nachtgesang“; er wusste aber auch wunderbar mit dem Klang der Laute umzugehen, etwa in seinem berühmten Gedicht "Das große Lalula“.

Als 22-Jähriger erlitt Morgenstern die erste schwere Lungenerkrankung. 1900 brach sie wieder aus und führte dazu, dass er viel Zeit in Kliniken und Sanatorien verbrachte. Im Winter 1905/6 brachten ihn mystische Erfahrungen dazu, das "Tagebuch eines Mystikers“ zu beginnen, sie fanden auch Eingang in seine Lyrik. Nachdem er 1909 einen Vortrag von Rudolf Steiner gehört hatte, setzte er sich auch mit dessen Schriften auseinander.

1908 lernte er Margareta Gosebruch von Liechtenstern kennen, die ihm beim Redigieren half und ihn später auch pflegte. 1910 heiraten sie, aus gesundheitlichen Gründen fand die Hochzeit zuhause statt. So schlecht es Morgenstern auch ging, er veröffentlichte in diesem Jahr noch zwei sehr unterschiedliche Bücher: "Palmström“, dem er v. Korf zur Seite stellte, und den Band "Einkehr“, den er seiner Mutter widmete, die an Lungentuberkulose gestorben war, als Morgenstern neun Jahre alt war. Seine eigene Lungenerkrankung prägte sein Leben, bis es am 31. März 1914 zu Ende ging.

Politische Diskussionen

Rund 9900 km entfernt erblickte am selben Tag, an dem Christian Morgenstern starb, ein anderer Dichter das Licht der Welt: Octavio Paz, der spätere Literaturnobelpreisträger. Er erlebte von klein auf die politischen Diskussionen zwischen dem liberalen Großvater und dem Vater, einem Zapata-Anhänger: über Demokratisierung, Industrialisierung, Modernisierung. Zu diskutieren gab es in diesem neuen Mexiko genug: Vier Jahre zuvor, 1910, war in der Mexikanischen Revolution der langjährige, diktatorische Präsident gestürzt worden.

Der Hitler-Stalin-Pakt und die Enthüllungen über die stalinistischen Arbeitslager trugen dazu bei, dass sich Paz - anders als andere lateinamerikanische Intellektuelle - vom Kommunismus abwandte. Er war nicht nur politisch interessiert, sondern auch lange in Amt und Würden: als Botschafter für Mexiko, unter anderem in Indien. Dort war er, als 1968 Studenten in Mexiko-Stadt für Reformen in der Regierungspartei protestierten - und die Regierung mit Gewalt reagierte und ein Blutbad anrichtete. Aus Protest legte Paz sein Amt als Botschafter zurück. Ganz anders seine Reaktion, als der Aufstand der Indios in Chiapas am 1. Januar 1994 von der Regierung blutig niedergeschlagen wurde. Paz distanzierte sich von den Aufständen, die er von extremistischen Organisationen aus den Städten gesteuert sah, unter anderem von Befreiungstheologen, und verteidigte den Staat.

Zwar setzte sich Paz in seinen Essays zeitlebens - die aztekischen Ursprünge mythisierend - mit dem mexikanischen Wesen auseinander (auch mit dem "Anderen“, das die Indios der spanischen Gesellschaft waren und das die mexikanische Identität überhaupt erst ausmacht), aber die konkrete Geschichte, die konkreten Lebensbedingungen des mexikanischen Volkes schien er dabei aus dem Blick zu verlieren. Dabei hatte er die Armut kennengelernt, als er sein Studium abgebrochen und in Yucatan eine Schule für Bauern- und Arbeiterkinder gegründet hatte.

Wort als Brücke

Als Diplomat trat Paz für den Dialog ein, der kein Ultimatum kennt. Er "hebt die Unterschiede zwar nicht auf, aber schafft eine Zone, in der Andersartiges nebeneinander besteht und sich verwebt.“ In den Poetiken, die seine Lyrik begleiteten, schrieb er vom Gedicht als einem Ort der Begegnung, vom Augenblick, in dem die Gegensätze verschmelzen. "Man muß kein Mystiker sein, um diese Gewißheit zu streifen. Wir alle sind Kinder gewesen. Wir alle haben geliebt.“

"Freiheit, die sich erfindet und mich erfindet Tag für Tag“ Zum 100. Geburtstag von Octavio Paz Gedanken für den Tag von Brigitte Schwens-Harrant

31.3.-5.4.2014, jeweils 6.56, Ö1

Christian Morgenstern

Eine Biografie. Von Jochen Schimmang

Residenz 2013, 271 S., geb., € 24,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung