Zwei sehr verschiedene Nachbarn

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Die „Süddeutsche“ ortet Sand im deutsch-französischen Getriebe: Missverständnisse und Verdächtigungen prägen das Verhältnis.

E s ist noch einmal gutgegangen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy konnten im Streit über die europäische Wirtschaftsregierung einen Kompromiss verkünden. Die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union sollen demnach von Fall zu Fall in die Rolle einer Wirtschaftsregierung schlüpfen. Bei Bedarf sollen sie zu diesen Zweck mitunter auch im Kreise der 16 Euro-Länder zusammenkommen können. Das ist im Grunde das, was Angela Merkel sich gewünscht hat. Eine institutionalisierte Wirtschaftsregierung der Euroländer mit eigenem Sekretariat wollte sie unbedingt vermeiden. Nach einem echten Kompromiss klingt das eigentlich nicht. […] Schon seit geraumer Zeit gibt die deutsch-französische Freundschaft Rätsel auf. Leidvoll klug geworden durch die Erfahrung zweier Weltkriege, haben Deutsche und Franzosen so viel in gute Beziehungen investiert wie vermutlich wenige Völker in der Welt. Sie haben eine Infrastruktur gegenseitiger Verflechtung geschaffen, die von einem Jugendwerk mit jährlich 200.000 Teilnehmern bis zu einem gemeinsamen Fernsehsender reicht. Und doch prägen den deutsch-französischen Alltag immer häufiger Missverständnisse, Verdächtigungen und Formelkompromisse. Fast ein halbes Jahrhundert nach Abschluss des Elysée-Vertrages müssen Deutsche und Franzosen feststellen, dass sie ein riesiges Fundament geschaffen haben, das in der Stunde der Not aber nicht verlässlich trägt.

Reminiszenz an die Emser Depesche

Ein französischer Kommentator ging jüngst so weit, das Sparpaket der schwarz-gelben Bundesregierung mit der Emser Depesche zu vergleichen, die zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 geführt hatte. Der Vergleich ist so abwegig wie aufschlussreich. Während Deutschland ganz mit sich und seinem Streit über die Etatkürzungen beschäftigt war, wurden die Einsparungen im Nachbarland als unziemlicher Druck wahrgenommen, diesem Beispiel zu folgen. Inzwischen ist das geschehen. Frankreich hat sich genötigt gesehen, selbst Einsparungen in Höhe von 45 Milliarden Euro bis 2013 anzukündigen […].

Deutsche und Franzosen ticken unterschiedlich

In der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich gezeigt, wie unterschiedlich Deutsche und Franzosen ticken. Wo die einen Inflation fürchten, warnen die anderen vor Deflation. Wo die einen an die Verantwortung des Staates für seine Kasse erinnern, betonen die anderen die Verantwortung des Staates in der Krise. Mit ihrem gegensätzlichen Temperament verleihen Merkel und Sarkozy dieser Lage fast karikaturhaft überzeichnet zwei Gesichter: hier schwerfällige Bedächtigkeit, dort hektischer Aktionismus.

Unterschiedliche Interessen allein können das Problem nicht sein. Deutsche und Franzosen haben in Jahrzehnten gelernt, mit diesen zu leben und sich zum Wohle Europas zusammenzuraufen. […] Ausgerechnet in der existenziellen Krise der vergangenen Jahre aber ist es nicht gelungen, in Deutschland und Frankreich eine Solidargemeinschaft spürbar werden zu lassen. […] Hier muss endlich nach einem neuen Anfang gesucht werden.

Davon hängt die Zukunft der Europäischen Union ab. Lange Zeit haben kleinere Länder, vor allem im Osten, die Übermacht der beiden Großen gefürchtet. Nun müssen sie erkennen, dass es viel gefährlicher ist, wenn diese gemeinsame Macht Europa nicht in Bewegung hält. Bisher haben Deutschland und Frankreich stets vermieden, dass die Union handlungsunfähig wird, und sei es durch Formelkompromisse. Das ist gut, aber nicht gut genug.

* Aus „Süddeutsche Zeitung“, 16. Juni 2010

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