Zwischen Angst und Normalität: Immigration in Großbritannien

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Der ehemalige ORF-Korrespondent Günter Schmidt über die Probleme der britischen Regierung mit den alten und neuen Einwanderern und den ungeschickten Umgang der Politik damit.

Es hätte die Wahlchancen des angeschlagenen britischen Premierministers Gordon Brown erhöhen sollen. Dem eher grantig wirkenden Schotten sagt man nach, dass er lieber Ansprachen vor seinen Labour-Funktionären hält, als mit einfachen Leuten zu reden. Auf einer Wahlkampftour in der Nähe von Manchester und – natürlich – im Beisein von Fernsehteams demonstrierte er Volksverbundenheit und unterhielt sich mit der 66-jährigen Gillian Duffy, einige Zeit auch unter vier Augen. Anschließend trat der Premierminister vor die Kameras und sagte, er sei froh, mit Mrs. Duffy gesprochen zu haben. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Auto – und sagte zu einem Mitarbeiter, das Gespräch sei ein Desaster gewesen. Die Wählerin sei einfach eine bornierte Frau. Brown hatte zu seinem Pech eine Grundregel des öffentlichen Auftretens vergessen: Rede nie einen gefährlichen Unsinn, wenn ein Mikrofon in der Nähe ist. Es dauerte jedenfalls nur Minuten, dann konnte man bereits im Internet hören, welche Meinung Brown von der Wählerin hatte.Was hatte Brown so in Rage versetzt? Offenbar, so The Times, hatte die Frau die Frage gestellt: „All diese Osteuropäer, die jetzt da sind, wo kommen die eigentlich her?“ Damit war das Thema „Einwanderung“ Bestandteil des Wahlkampfs.

In Großbritannien leben derzeit über 4,5 Millionen Menschen, die im Ausland geboren sind. Sie kamen in Wellen ins Land. Im Zweiten Weltkrieg waren es die Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. In den fünfziger und sechziger Jahren waren es Menschen aus den in die Unabhängigkeit entlassenen britischen Kolonien.

Die Westinder aus der Karibik, die Inder und Pakistaner, die Flüchtlinge aus Ostafrika, sie alle veränderten das Gesicht Großbritanniens. Das löste Ängste aus. Der konservative Politiker Enoch Powell sorgte 1968 für gewaltigen Wirbel, als er einen Bürgerkrieg unter rivalisierenden Einwanderern voraussagte, sobald ihre Zahl zwei Millionen erreichen würde. „Ströme von Blut“ würden fließen. Die Diskussion spaltete die Konservativen. Edward Heath schmiss Powell aus seinem Schattenkabinett. Margaret Thatcher fand die Formulierung zwar hart, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie mit ihm sympathisierte.

Enoch Powell selbst wurde später oft gefragt, was ihn zu einer solch drastischen Ausdrucksweise bewogen hatte. Die beiden Großparteien wollten das Thema unter den Teppich kehren, sagte er. Das habe er verhindern wollen, was ihm sichtlich auch gelungen ist. Im ersten Jahrzehnt nach der bunten Einwanderung gab es immer wieder Missverständnisse und Auseinandersetzungen. Mitte der sechziger Jahre gab es – von den Briten misstrauisch beäugt – eine erste Protestveranstaltung von tausend Menschen als Demonstration gegen rassistische Übergriffe der Mehrheitsbevölkerung. Daraus entwickelte sich im Lauf der Jahre der Notting-Hill-Karneval. 1976 kamen schon 150.000 Menschen. Zum ersten Mal gingen randalierende westindische Jugendliche gegen die Polizei vor. Auch in den folgenden Jahren gab es immer wieder Ausschreitungen. Der Karneval entging nur knapp einem Verbot. Heute ist der Notting-Hill-Karneval weitestgehend akzeptiert und ist eine der größten Veranstaltungen dieser Art in Europa geworden. Für das nächste Fest Ende August erwarten die Veranstalter über eine Million Besucher.

Funktionierender Alltag, negative Umfragen

Ein Viertel der Einwohner von London sind Einwanderer. Im Stadtteil Wembley, früher nur bekannt wegen seines Fußballstadions, sind es gar 52 Prozent. Offizielle Angaben weichen oft von der gefühlten Realität ab. Aber im Großen und Ganzen scheint die Integration zu funktionieren. Farbige Busschaffner, Polizisten und Verkäufer sind der Alltag. Ebenso wundert sich niemand, wenn ein chinesisches Halal-Restaurant einem gebürtigen Kenianer gehört.

Funktioniert also das britische Modell von Einwanderung und Integration? Wohl nicht ganz. Anfang des Jahres wurde das Ergebnis einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Umfrage vorgestellt. Danach verlangen 77 Prozent der Befragten eine Verringerung der Einwanderung. Selbst bei Angehörigen von ethnischen Minderheiten war noch ein Viertel für eine Beschränkung. Es gibt mehrere Gründe, warum der gelebte Alltag und die Stimmung in der Bevölkerung so stark auseinanderklaffen. Da ist in erster Linie die EU. Seit es da den Binnenmarkt mit seiner Niederlassungsfreiheit gibt, ist es genau genommen ein statistisches Unding, EU-Bürger mit Nicht-EU-Bürgern in derselben Kategorie zu zählen. Bei der EU-Erweiterung 2004 hat die britische Regierung im Gegensatz etwa zu Deutschland und Österreich darauf verzichtet, eine Übergangsbestimmung für die Niederlassungsfreiheit zu verlangen. Mit dem ersten Tag ihrer EU-Mitgliedschaft konnten die Osteuropäer formlos auf die Insel arbeiten kommen. Und sie kamen – laut Schätzungen um die 500.000 Menschen. Eine Flut, mit der niemand gerechnet hatte. Das war der Kern der aufmüpfigen Frage von Mrs. Duffy an ihren Premierminister: Wo kommen denn die Osteuropäer her? Eine angesichts der Vorgeschichte peinliche Frage. Die richtige Antwort wäre vermutlich gewesen: Sorry, wir haben uns verrechnet und schlecht verhandelt. So etwas kommt aber in einem Wahlkampf beim Wähler schlecht an.

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