Zwischen Herz und Verstand

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Zum Dossier. Gott feiern - besser: feiern im Angesicht Gottes benennt einen Wesenszug von Liturgie. Das Furche-Dossier bietet eine Bilanz der liturgischen Erneuerung in der katholischen und der evangelischen Kirche an, dazu die streitbare Kritik an gängigen (nicht nur musikalischen) Praktiken im Gottesdienst, sowie einen exemplarischen Blick auf die - noch junge - Form der Frauenliturgie.

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Zum Dossier. Gott feiern - besser: feiern im Angesicht Gottes benennt einen Wesenszug von Liturgie. Das Furche-Dossier bietet eine Bilanz der liturgischen Erneuerung in der katholischen und der evangelischen Kirche an, dazu die streitbare Kritik an gängigen (nicht nur musikalischen) Praktiken im Gottesdienst, sowie einen exemplarischen Blick auf die - noch junge - Form der Frauenliturgie.

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Religion braucht einen Ort. Religion verlangt nach Quellen, aus denen die Menschen schöpfen, und nach einer Konkretion, sodaß diese Quellen erfahrbar und erlebbar werden. Liturgie - ein Wort, das einen derartigen Ort der Quellenerfahrung benennt.

Einerseits, so erklären nicht nur Religionssoziologen, nimmt europaweit die kirchlich geprägte Religiosität rapide ab. Andererseits, so wird konstatiert, grassiert Religiosität - frei schwebend, schwer zuordenbar, oft wie ein Lego-Haus aus allen möglichen Steinen zusammengebaut.

Religion ist somit gleichzeitig "in" und "out". Für Liturgie, Gottesdienst - also: feiern im Angesicht Gottes - gilt das nicht minder. An den Knotenpunkten des Lebens - Geburt, Ehe, Tod ... - kommen auch weit Fernstehende ihrer traditionellen Religion wieder näher, oft ist die Liturgie einer Hochzeit, eines Begräbnisses oder der traditionellen Feste wie Weihnachten der letzte Verbindungsfaden mit der sonst wenig geliebten Mutter Kirche.

Gleichzeitig ist in andere, quasireligiöse Bereiche des Lebens so etwas wie "Liturgie" eingedrungen. Insbesondere die auf ein Ereignis hin versammelte Masse wurde und wird durch (säkulare) Liturgie gezähmt: Die Massenbegeisterung der NS-Ideologie verdankte den Gutteil ihrer Faszination derartigem Moment, auch kommunistische Paraden, wie sie in den letzten Bastionen des Staatsmarxismus immer noch veranstaltet werden, schöpfen aus einer "liturgischen" Tradition. Selbst politisch relativ unverdächtige Ereignisse wie Olympische Spiele geben mit ihren Fackelzügen quer durch die Welt und den immer aufwendigeren Eröffnungs- und Schlußfeiern eine Art "Liturgie" der Gegenwart vor.

Daneben nehmen die Medien (insbesondere das Fernsehen), die die Kultur stark prägen, dramaturgische und rituelle Anleihen an liturgischen Vorbildern: der Ablauf so mancher Talk-Show kann da die postmoderne Verwandtschaft nicht leugnen. Wenn dann eine tatsächliche Liturgie noch als TV-Spektakel inszeniert werden kann (besonders eindrückliches Beispiel: die kirchliche Trauerfeier für Lady Di im September 1997), bietet die Mediengesellschaft einen perfekt aufbereiteten Ort, wo (scheinbar) zu den Quellen der Existenz vorgedrungen wird.

In dieser Unübersichtlichkeit hat es die etablierte Religion nicht leicht. Dazu kommt, daß Berührungsängste gegenüber den liturgischen Versatzstücken der Medien vorhanden sind. Weil aber die Gegenwartskultur von den Medien dominiert wird, sind diese Ängste meist kontraproduktiv: Auseinandersetzung mit solch medialer "Liturgie" - ob in der Abgrenzung, ob als Befruchtung - ist notwendig.

Faktum bleibt jedoch: Die traditionellen Kirchen verlieren Gläubige in Europa. Das äußert sich sichtbar darin, daß die Gottesdienste schütter besucht sind. Von daher scheint es evident, daß gerade die Liturgie einen vordringlichen Ansatzpunkt für das Ringen um eine neue religiöse Attraktivität von Kirche bedeutet. Kein Zufall, daß die Reform der Liturgie auch heute noch als die augenfälligste Veränderung der katholischen Kirche durch das II. Vatikanum gilt.

Der im Juli 1999 verstorbene Wiener Liturgiewissenschaftler Hans Jörg Auf der Maur, ein leidenschaftlicher Anwalt der liturgischen Erneuerung, hat - unter Hinweis auf das Konzil - immer wieder betont, daß der Gottesdienst eine der Grundfunktionen im Handeln der Kirche ist: "Das geistliche Leben und die pastorale Arbeit gehen aus der Liturgie als Quelle aus und sind auf die Liturgie hin ausgerichtet als auf ihren Höhepunkt."

Derartige theologische Überlegungen weisen darauf hin, daß die Schwierigkeiten der europäischen Kirchen (der nichtkatholischen, der katholischen) auch Auswirkungen auf die Gestalt der Liturgie und die Weise, Gottesdienst zu feiern, haben müssen.

Mit anderen Worten, Kirche muß ihre Sprache wiederfinden, die sie gegenüber den Menschen verloren hat oder zunehmend verliert: Gerade in der Liturgie geht es um eine Sprache, welche die Menschen trifft. "Sprache" meint hierbei mehr als "Reden", auch die Sprache der Zeichen, die Kommunikation untereinander - verbal wie nicht-verbal -, das Sprechen über und mit Gott: all das ist (neu) zu finden. Zwar mangelt es weder an Versuchen, weiterzugehen, noch an der Kritik daran (vgl. die Beiträge Seite 18-20).

Dennoch: Wie sollte jene Sprache beschaffen sein, die wiederzufinden wäre, damit Liturgie diese Quelle und diesen Höhepunkt des Lebens darstellt? Einige Kriterien, Mosaiksteine: * Es geht um eine Sprache, die eine Balance hält zwischen Herz und Verstand: Das Christentum ist Wort- und Verstandreligion, es darf sich nicht hinter süßlichen Weihrauchschwaden verstecken, um klare Rede und Unterscheidung zu vernebeln. Christentum ist aber auch sinnlich: ein Zeichen oder eine Geste mag mehr sagen als Worte, und ein kleines Wort, welches das Herz berührt, bewirkt mehr als die Schwatzhaftigkeit mancher Verkündigung.

* Balance ist auch nötig zwischen Alltag und Abgehobenheit: Liturgie ist herausgehoben aus dem Trott der Tage, Gottesdienst heißt "Feiern" - aber nicht abgehoben von den Sorgen, Nöten und Fragen der Menschen. Auch dies gilt gleichermaßen für Sprache und Zeichen.

* Liturgie sollte Raum für die Sprache der Bibel sein. Das Modell einer heilenden Sprache ist hier zu entdecken; in der Bibel kann man die verlorene Sprache wiederfinden: "Wie ein Kind, das getrunken hat und an der Brust seiner Mutter ruht: so ist meine Seele in mir" - Zärtlichkeit ausgedrückt vom Dichter des 131. Psalms. Oder Klage und Verzweiflung: "Mein Gott, warum hast mich verlassen!?" (Psalm 22).

* Wiederzufinden in der Liturgie wäre auch die Sprache der Dichter und Musiker, das verdichtete Wort und der Klang, die anrühren.

* Schließlich bedeutet Liturgie eine Wiederfindung des Gemeinsamen. Menschen kommen zusammen - wissend: Ich bin nicht allein. Auch das beginnt beim Sprechen: Wenn Menschen gemeinsam sprechen, dann singen sie. Die Psalmen der Bibel sind ja ebenfalls Lieder: Gotteslob, Sprechen mit Gott und über die Menschen, Freude, Trauer, Hoffnung - all das liegt Menschen auf der Zunge: Eigentlich bedeutet die Wiederentdeckung des gemeinsamen Redens in der Liturgie eine radikale Hinwendung zum Singen. Andere Kulturen drücken das Gemeinsame im Tanz aus; hierzulande wirkt dies meist fremd, auch wenn es diesbezüglich geglückte Versuche gibt.

Gottesdienst, Liturgie sollte zum Ort jener wiedergefundenen Sprache der Christen werden: Vielleicht könnten müde gewordene Kirchen sich auf diese Weise wieder zu Hoffnungszeichen und Zukunftsträgern entwickeln.

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