Zwischen Missbrauch und ehrlichen Gefühlen

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Das Erfolgsstück "Blackbird“ des schottischen Dramatikers David Harrower im Wiener Theater in der Josefstadt in der - etwas ungenauen - Inszenierung von Alexandra Liedtke: überzeugend in seiner Nichteindeutigkeit.

Eine in weiß gehaltene Spielfläche hängt bedrohlich schräg im Bühnenraum. Im Verlauf der knapp 95 pausenlosen Minuten wird sie fast unmerklich um 90 Grad gedreht und aus der Schräglage in die Waagrechte gebracht, bis auch die scharfen Schatten, die die beiden Figuren auf die Wand werfen, verschwunden sind.

Diese vom jungen Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt ersonnene Bühne ist ganz äußerliches und fast buchstäblich zu verstehendes Zeichen für das Leben der Figuren, das gehörig aus dem Lot zu sein scheint oder noch genauer: für deren prekäre Seelenlage, die durch die Schatten der Vergangenheit aus dem Gleichgewicht ist. Und sie übersetzt auch sinnfällig, was Harrower in seinem 2005 geschriebenen Stück mit der Wahrnehmung des Zuschauers anstellt.

Heimliches, ungleiches Verhältnis

Was ist geschehen? Es dauert in der Inszenierung von Alexandra Liedtke im Theater in der Josefstadt beinahe zwanzig Minuten, bis jene Sätze fallen, die erklären, warum diese attraktive junge Frau (Maria Köstlinger) gekommen ist, um den in die Jahre gekommenen, etwas mickrig wirkenden Alten (Erwin Steinhauer) in der heruntergekommenen, mit Plastikmüll und Essensresten übersäten Kantine eines Großkonzerns zur Rede zu stellen. "Ich bin hierher gekommen und wollte Peter sprechen. Gekommen ist Ray.“ Zu diesem Ray, der sich jetzt Peter nennt, hatte Una vor neunzehn Jahren ein heimliches und vor allem ungleiches Verhältnis. Sie war damals zarte zwölf und er gestandene vierzig. Sie hat ihn aufgespürt, ihn auf einem Foto erkannt und will nun von ihm wissen, warum. Aber es ist nicht so, wie das Stück zunächst suggeriert und der Zuschauer nur allzu bereit ist zu verstehen. Nein, nicht vergewaltigt hat er sie. Möglicherweise. Vielmehr will sie wissen, warum er sie, nachdem sie sich auf einer Grillparty in der Nachbarschaft kennengelernt hatten, sie zusammen an einen romantischen Ort am Meer gefahren waren und in einem Hotel Sex hatten, alleine im Hotelzimmer zurückließ. Sie will die Wahrheit über die Art ihrer Beziehung, will Antworten haben, um vielleicht endlich ins Reine zu kommen.

Von Liedtke etwas zu ungenau choreografiert, durch ärgerliche, bedenklich schwache Musikeinspielungen orchestriert, aber zusammengehalten durch die präzise mäandernden Dialoge dieses Well-made-play, belauern sich Köstlinger und Steinhauer wie verletzte Tiere. In wütenden, öfters verzweifelten und nur zaghaft melancholisch gefärbten Rückblenden enthüllt das ungleiche Paar die Vorgänge jenes Tages und die Zeit danach. Ray saß sechs Jahre im Gefängnis und ging dabei, wie er sagt, durch die Hölle. Danach nahm er einen anderen Namen an und baute sich mühsam eine neue, bescheidene Existenz auf. Sogar in einer Beziehung sei er, heißt es. Auch Una erging es nicht gut. Sie ist traumatisiert, aber eben nicht allein durch den vermeintlichen Missbrauch und die anschließende Verlassenheit, sondern weil die Gesellschaft sie stigmatisierte, sie weniger als Opfer denn als Mittäterin für eine Beziehung, die nicht sein darf, ächtete. Eine zweite oder vielleicht die einzige Vergewaltigung.

Am Ende fehlen die Gewissheiten

Harrowers "Blackbird“ entsagt jeder Eindeutigkeit und ist schon aus diesem Grund kein klassisches Stück über Pädophilie. Vielmehr spielt er ein Spiel mit der Wahrnehmung des Zuschauers und dessen moralischen Überzeugungen. War es ein Missbrauch? Sicher, denken wir, denn Ray hat seine Überlegenheit der kindlichen Zuneigung gegenüber ausgenutzt. Was aber, wenn es ehrliche Gefühle waren, er die Person geliebt, nicht weil, sondern obwohl sie ein Kind war? Hätte er trotzdem entsagen müssen? Sicher. Aber was ist mit ihren Gefühlen? Una spricht von einem ehrlichen Begehren der Frühreifen, spricht von echter Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Harrower vermeidet es, eindeutige Antworten zu geben. Er will Fragen stellen und zwingt die Zuschauer dazu, hinzusehen - oder besser noch: hineinzusehen in die Figuren, in ihre ambivalenten, im doppelten Sinne unerhörten Gefühlslagen. Als wir schon fast glauben, Ray sei einst aufrichtig gewesen, gibt Harrower dem Stück eine erneute Wendung: Ein kleines Mädchen betritt die Bühne, zutraulich ruft es nach ihm - und sofort sind die Gewissheiten über den Haufen geworfen.

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