Zwischen Revision und Untergang

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Der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth beschäftigt sich mit der demokratischen Sittlichkeit wirtschaftlichen Handelns: Mangelnde Chancengleichheit führt zu sozialen Unruhen. DIE FURCHE war dabei, als Honneth vorige Woche in Wien im Rahmen der "Marie Jahoda-Summer School of Sociology“ an der Nationalbank einen Vortrag hielt.

Schon am Eingang der Nationalbank gibt es Diskussionen darüber, wer noch ins Gebäude eingelassen wird. Es passen bei Weitem nicht alle hinein, die das wünschen. Was hier heute gesagt werden soll, scheint auf breites Interesse zu stoßen. Die Aktualität des Problems verdeutlicht der Nationalbankgouverneur Ewald Nowotny. Es bleiben ihm nur ein paar Minuten Zeit, um dem Publikum Axel Honneth vorzustellen, dann muss er wieder an den Schreibtisch. Er würde Prof. Honneths Ausführungen nur zu gerne folgen, "aber sie wissen ja, es sind bewegte Zeiten“. Mit diesen Worten entschuldigt Nowotny am späten Dienstag Abend voriger Woche seine Abwesenheit und macht sich erneut an die Arbeit - einen Tag nach den wieder angelaufenen Spekulantenangriffen auf den Euro, diesmal steht Italien im Fokus. Es wirkt fast zynisch, dass nun im Kassensaal der OeNB, die Unmöglichkeit der kapitalistischen Gesellschaft diskutiert werden soll, während im Gebäude zeitgleich mit Hochdruck an der Rettung des Systems gearbeitet wird.

Seit Anfang Juli ist Axel Honneths neues Buch "Das Recht der Freiheit“ im Handel. Nun strömen die Menschen an diesem schwül-heißen Hochsommerabend zu seinem öffentlichen Vortrag in der Nationalbank in Wien. Wenn es eine der Folgen der Finanzkrise ist, dass die bedeutenden Sozialphilosophen einen Zulauf wie Pop-Bands erfahren, dann besteht eventuell noch Hoffnung, so könnte man meinen.

Honneth steht in der Tradition der Frankfurter Schule nach Adorno/Horkheimer und Habermas. Er leitet heute deren Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt. Doch nicht der Umstand, dass er auf den Schultern von Riesen steht, macht seine Anziehungskraft aus. Honneth sucht Wege aus der moralischen Beliebigkeit des wirtschaftlichen und politischen Handelns im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Mit seiner Arbeit will er eine Grundlage für normativ anspruchsvolle Urteile über wirtschaftliches Handeln schaffen.

Gewinnmaximierung statt Moral

"Es erscheint heute als abwegig, das System des kapitalistischen Marktes als Sphäre individueller Freiheit oder der sozialen Gerechtigkeit zu begreifen“, so Honneth. Um beurteilen zu können, ob es sich bei den aktuellen Entwicklungen um eine Deformation, Revision oder den Untergang der freien Marktwirtschaft handelt, möchte er die Idee der Marktwirtschaft in der Europäischen Geistesgeschichte rekonstruieren und so vollständiger beschreiben, als dies bislang geschehen ist. Die Ausgangssituation scheint dabei klar:

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist entstanden, um die Bedürfnisse des Menschen mithilfe des Geldes und ohne Rückgriff auf sittliche Werte und Moral zu befriedigen. Beziehungen sollten nur noch über den Markt vermittelt werden. Das Prinzip der Nutzen- und Gewinnmaximierung erschien rationaler und berechenbarer als die fehleranfällige Moral der feudalistischen Herrscher. Diese "great transformation“ versprach eine schnellere, effektivere und produktivere Gesellschaft. Es wurde jedoch bald befürchtet, dass diese scheinbare Rationalität mit einer Beschädigung des sozialen Lebens einher geht. Bereits im 18. Jahrhundert wurden, lange vor Marx, nicht die Verelendungstendenzen der Arbeiterschaft kritisiert, sondern "atmosphärische Veränderungen“ im sozialen Leben. Der "homo oeconomicus“ tauchte als Karikatur bereits in den Romanen des frühneuzeitlichen Englands auf. Ein derartiger Menschentyp würde die Moral aushöhlen. Seine Leidenschaften würden sich in bloße Interessen verwanden, so die damalige Befürchtung.

Erst im 19. Jahrhundert gerieten tiefer liegende Probleme in die Kritik. Abgesehen von Karl Marx’ Feststellung, dass die neue Produktionsweise offensichtlich nicht zur versprochenen Freiheit der Arbeiter führte, wurde von den damaligen Intellektuellen ein fundamentaler Widerspruch angeklagt. Unter anderen konstatierten etwa Hegel und Émile Durkheim eine unüberbrückbare Lücke zwischen dem Prinzip der Nutzenmaximierung und der Moral. So Durkheim zu dem Schluss, dass das neue System zwar vorgelagerte, nicht aber kontraktuelle moralische Regeln bräuchte. Die vom Markt vorgenommene Koordinierung kann nur gelingen, wenn die Mitglieder sich wechselseitig zu mehr verpflichten als zur Erfüllung von Verträgen.

Heute erscheint dies vielleicht naiv, doch glaubten die beiden Denker, dass das neue System nur funktionieren kann, wenn Chancengleichheit, Wahlfreiheit und sinnvolle Arbeitstätigkeiten gegeben sind. Laut Honneth intendierte bereits Hegel die Einführung eines Minimallohns oder einer Absicherung im Arbeitslosenfall. Émile Durkheim schien im Sinne der Chancengleichheit nötig, illegitimen Reichtum zu sanktionieren, etwa durch die Unmöglichkeit, Vermögen zu vererben. Hegel befürchtete sonst die "Empörung des Pöbels“. Zu dieser Empörung sollte es mit der russischen Revolution auch tatsächlich im großen Stil kommen. Bald danach gab es keine vermittelnden Stimmen mehr. Entweder war man für oder gegen die Marktwirtschaft.

Institutionelle statt individuelle Freiheit

Axel Honneth schließt sich in seiner Theorie nun der "verschütteten Theorietradition“ Hegels und Durkheims an. Der Markt muss demnach zunächst als eine Sphäre gemeinsamer Kooperation begriffen werden können, damit danach der freie Wettbewerb akzeptiert werden kann. "Es braucht den normativen Anspruch der Erfüllung individueller Freiheit“, so Honneth.

Praktisch fragt er sich: "Erhöht eine politische Entscheidung oder wirtschaftliche Handlung den Zwang zur Perspektivübernahme der Gegenseite? Erhöhen zum Beispiel Reformen des Markts den Grad diskursiver Verständigung? Und: Trägt eine neue Entwicklung der Idee der Chancengleichheit Rechnung?“

Diese Forderung hält Honneth selbst für sehr radikal, denn sie bedeutet, dass alle Marktteilnehmer im gleichen Maß Verträge einhalten müssen, oder diese verweigern können wie die jeweils andere Seite. Mit Blick auf die Möglichkeiten des durchschnittlichen Arbeitnehmers im Vergleich zu einer "systemrelevanten Bank“ erscheint diese Forderung wirklich radikal.

Der heutige Markt ist für Honneth ein Feld institutioneller Freiheit und nicht so sehr individueller Freiheit. Chancengleichheit bedeutet nur noch die Fähigkeit und Tüchtigkeit, zu entwickeln, selbst am Markt teilzunehmen. Der Markt als anonymes System wird heute gänzlich isoliert von Marktteilnehmern betrachtet. Der Einzelne wird zurückgeworfen auf seinen Kampf um Anerkennung.

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