Zwischen Schöpfung und Erschöpfung

19451960198020002020

Obwohl jung verstorben, hinterließ der als sperrig geltende Komponist Max Reger ein vielfältiges Werk, das auf eine lange Schaffenszeit schließen ließe. Eine Tagung anlässlich seines 100. Todestages lädt zum Entdecken dieses Œuvres ein.

19451960198020002020

Obwohl jung verstorben, hinterließ der als sperrig geltende Komponist Max Reger ein vielfältiges Werk, das auf eine lange Schaffenszeit schließen ließe. Eine Tagung anlässlich seines 100. Todestages lädt zum Entdecken dieses Œuvres ein.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Sinn von Gedenktagen ist in des Wortes doppelter Bedeutung diskutabel. Soll man Komponisten vom Rang eines Mozart oder Beethoven, von der Beliebtheit eines Verdi und Puccini nach dem Diktat des Kalenders auf die qualitative Goldwaage legen? Beherrschen sie nicht ohnehin jahraus jahrein die Opernspielpläne und Konzertprogramme? Und verhelfen umgekehrt einem biederen Kleinmeister oder einem seinerzeitigen Tondichter á la mode der gute Wille bemühter Ideenbringer und die Anstrengung rühriger Organisatoren zu einer Renaissance des einstigen Glanzes und zu einem neuen Platz im Repertoire von Bühne und Podium?

Doch es gibt ein Segment, eine Nische, vielleicht ein Niemandsland zwischen den beiden Extremen. In diese Zone von Musikern, über die das Kunsturteil schwankt bzw. deren Rang (noch?) keine breite Akzeptanz gefunden hat, gehört wohl Max Reger. Am 11. Mai 1916 ist er in Leipzig plötzlich gestorben, gerade erst 43 Jahre alt, dabei aber mit einer Lebensleistung, deren Vielfalt und Meisterschaft auf die Ernte einer langen Schaffenszeit schließen ließe.

Vom Talent zum Genie

Dieser Tage ist mir eine seltsame, gleichwohl gehaltvolle Enzyklopädie im Taschenformat aus dem Jahre 1912 in die Hände gefallen, die sich selbst "Eine Hauskunde für jedermann" nennt. Dieses Werk, "Spemanns goldenes Buch der Musik", schreibt über den damals zeitgenössischen Komponisten: "Reger ist einer der eigenartigsten und dabei fruchtbarsten unter den jüngeren Komponisten. Seine Polyphonie ist reich und kühn, seine Harmonien bieten dem Ohre völlig Ungewohntes. Kein Wunder, daß Reger von seinen Anhängern als ein neuer Messias auf den Schild gehoben wird, während der Mehrzahl seine Musik noch ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch ist." Der Geruch des Schwierigen und Verschlossenen sowie das Dilemma des Herben und Sperrigen haften diesem Meister bis heute an. Hermetik statt Hermeneutik gilt demnach als ein dominantes Merkmal seines musikalischen Idioms. Den Sprung vom Talent zum Genie hat er freilich zu Lebzeiten bald geschafft, und so konnte man bereits damals nicht von einem Künstler sprechen, der 'eine glänzende Zukunft hinter sich hat'.

Max Reger ist für viele bisweilen nicht mehr als ein Name, um den sich diffuse Vorstellungen ranken. Man denkt an sein Orgelwerk, an vertrackte Kammermusik, auch an überlange und spröde Solokonzerte vom Typus einer "Symphonie mit obligatem Klavier". Dass in seinem Oeuvre Bühnenwerke fehlen, trägt zu dieser Schablone des Abseitigen und dem Stereotyp des Komplizierten weiter bei. Wer sich auf Regers Werk gründlich einlässt, wird allerdings bald reichlich belohnt, und das anhaftende Vorurteil weicht einem gereiften Urteil. Der geduldige Hörer entdeckt einen mitunter leichtfüßigen Melodiker, der etwa im Walzer seiner eingängigen Ballett-Suite (op. 130) eine im besten Sinne hochkarätige Unterhaltungsmusik anbietet. Die musikalische Entdeckungsreise führt den neugierigen Musikfreund auch zu den Mozart-Variationen für Orchester (op. 132), die das schlichte Thema einer Klaviersonate so kunstvoll wie packend, quasi mit Röntgen-Ohren, "aushorchen". Für das Klavier hat Reger auch duftige Miniaturen im Gefolge von Schumann und parallel zu Debussy geschaffen, hingeworfene Albumblätter, die aber auch im Gewand eines Zyklus auftreten können, wie die Sammlung Träume am Klavier (op. 143) aus der Spätzeit belegt.

Inspiriert vom Lyriker Eichendorff

An eine Form von Synästhesie ließe sich denken, wenn man zwei seiner wichtigsten Orchesterwerke näher betrachtet: Denn beide Stücke verdanken sich anderweitigen künstlerischen Bezirken und deuten diese musikalisch aus. Die Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin (op. 128) sind von Gemälden des seinerzeit berühmten Malers angeregt und verkörpern gleichsam einen späten Vertreter oder Ausläufer der Programm-Musik. Der geigende Eremit hält sich an eine Kirchentonart, Spiel der Wellen lädt zum Vergleich mit Debussys Jeux de vagues aus seiner symphonischen Dichtung La Mer ein. Der Schlusssatz Bacchanale bedient einen bewährten musikalischen Topos: Man denke nur an Wagners Tannhäuser oder ein bekanntes polnisches Lied von Fréderic Chopin. Die Toteninsel aber, als Bild um die Jahrhundertwende geradezu eine Signatur des künstlerischen Geschmacks, hatte damals in wohlfeilen Kunstdrucken manch bürgerliche Wohnzimmer geschmückt und diente noch 1976 als Vorlage für den Walkürenfelsen in Patrice Chéreaus Bayreuther "Jahrhundert-Ring". Regers tönender Entwurf mischt fahle, geheimnisvolle Klänge mit der Anziehungskraft eines heimlich-unheimlichen Ortes. Eine romantische Suite (op. 125) wurde durch die Dichtung von Regers lyrischem Hausheiligen Joseph von Eichendorff inspiriert. Im Wechsel der künstlerischen Genres setzt der Komponist die Gedichte Zauberei der Nacht, Elfe und Adler in die Satzbezeichnungen Notturno, Scherzo und Finale um.

Susanne Popp, die Reger-Expertin schlechthin, hat ihrem monumentalen Beitrag zum heurigen Gedenkjahr den Titel Werk statt Leben verliehen, der im Übrigen auch eine Lesart Werkstatt Leben gestattet. Und in der Tat hat dieser Musiker seinem rastlosen Schaffensdrang und der inneren Mission alle anderen Bedürfnisse untergeordnet. Selbst Regers notorischer Appetit und die sprichwörtliche Trinkfreudigkeit, beide mitschuldig am physischen Niedergang, lassen sich als Formen von Maßlosigkeit während der kurzen Momente der Entspannung deuten. In einem Brautbrief an seine künftige Gattin Elsa entwirft der Künstler eine strenge Tagesordnung für die spätere Ehe: "Um 7 Uhr früh stehen wir auf; punkt 8 Uhr beginne ich zu arbeiten -bis 1 Uhr; dann essen wir zu Mittag; von 2 bis 6 1/2 Uhr arbeite ich dann wieder; dann abendessen; von 7 1/4 bis 9 1/2 Uhr lesen wir zusammen u. dann arbeite ich noch bis nachts 12 Uhr." Welche Frau könnte diesem Angebot widerstehen?

Eine Tagung zum Todestag

Von der Schöpfung zur Erschöpfung -auf diesen Nenner könnte man die späten Lebens-und Leidensjahre Regers bringen. Vom 2. Jänner bis zum 1. April 1916 ist er nach eigener brieflicher Prognose kaum zehn Tage zuhause; und auch dort, in seinem Jenaer Domizil, erwarten ihn Korrekturarbeiten und berufliche Korrespondenz. So stellt er Anfang Mai dem Verlagsleiter Henri Hinrichsen verheißungsvoll ein Andante und Rondo capriccioso für Violine und kleines Orchester in Aussicht: Er könne das Werk demnächst "absolut sicher liefern, es ist alles fertig; ich muß nur noch die Klavierbearbeitung machen und die Partitur nochmals genau durchgehen". Doch das fixierte Datum der Abgabe, den 1. Juni 1916, wird Reger nicht erleben. Er stirbt in der Nacht zum 11. Mai in einem Leipziger Hotel. Auf dem Tisch seines Zimmers aber liegen die Korrekturfahnen der Acht geistlichen Gesänge.

Dieser Titel ist auch das Stichwort zum Übergang von der Vergangenheit in die nahe Zukunft: Das Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien veranstaltet vom 21. bis 23. September eine gehaltvolle Tagung zum Liedschaffen des musikalischen Jahresregenten und sieht dabei auch ein Konzert vor. Gerade diese intime Form der Vokalmusik hat Reger in allen Spielarten von Stimmung und Tonfall erprobt und ausgekostet. Die Fülle seiner Stücke auf diesem Feld ist kaum zu überblicken: Allein sein op. 76 Schlichte Weisen enthält 60 (!) Lieder nach Texten verschiedener Lyriker, von namhaften Dichtern wie Ludwig Uhland oder Theodor Storm, aber auch von völlig vergessenen Autoren wie Richard Braungart und Sofie Seyboth. Das Symposion und seine künstlerischen Angebote sind für alle Interessierte frei und unentgeltlich zugänglich.

Ästhetik der Innerlichkeit Max Reger und das Lied um 1900 Tagung &Liederabend, Wien, 21.-23.9. www.musikwissenschaft.univie.ac.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung