Zwischen Tugend und Terror

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Der französische Maler François Chifflart stellte es 1877 als wachsames Auge dar, dessen Blick unnachgiebig auf die dunklen Winkel der Seele gerichtet ist. Als unsichtbare Instanz, die Menschen in tragische Konflikte führen kann, hat es Eingang in die Dramen der Weltliteratur gefunden. Seine Wirkung entfaltet sich durch mächtige moralische Emotionen wie Schuld und Scham. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, sah darin sogar "den Keim, aus dem sich alle Religionen gebildet haben“. Für die moderne Wissenschaft hingegen blieb das Gewissen ein weitgehend rätselhaftes Phänomen.

Einen groß angelegten Versuch zur Erhellung dieser mysteriösen inneren Stimme haben nun Eckart und Renate Voland vorgelegt. In ihrem Buch zur "Evolution des Gewissens“ beleuchtet das deutsche Ehepaar - Eckart Voland lehrt Philosophie der Biowissenschaften, Renate Voland ist Psychologin - die Herkunft und Funktion der moralischen Urteilsfähigkeit konsequent aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie.

Shakespeare als Fundgrube

Reizvoll an diesem Versuch ist die Tatsache, dass er zwangsläufig an den Schnittstellen verschiedenster Disziplinen angesiedelt ist: Theorien und empirische Befunde aus Biologie, Soziologie und Anthropologie fließen hier ebenso ein wie aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung und experimentellen Ethik. Dass die wissenschaftlichen Überlegungen immer wieder durch literarische Beispiele wie etwa Shakespeares Dramen verdeutlicht werden, liefert ansatzweise auch Querverweise zur illustren Kulturgeschichte des Gewissens. Denn wodurch strafende Emotionen wie Schuld und Scham angefacht werden, ist nicht nur individuell, sondern auch historisch sehr unterschiedlich. Nicht zuletzt kann das Gewissen das menschliche Verhalten in vielerlei Richtungen navigieren: Wie die Autoren bemerken, kann es "Gehorsam und Widerstand, Kooperation und Verrat, Mord und Pazifismus, sowohl ein Höchstmaß an moralischer Solidarität als auch blanken Terror hervorbringen.“

Wie aber passen Ethik und Evolution überhaupt zusammen, wo doch das Gewissen uns gerade davon abhält, Eigeninteressen rücksichtslos gegenüber unseren Mitmenschen durchzusetzen?

"Kooperative Fortpflanzung“

Eckart und Renate Voland verweisen hier auf jüngste Forschungsarbeiten, wonach Selbstlosigkeit keineswegs einen Widerspruch zu Darwins Theorie bilden muss. So mag sich zum Beispiel ein selbstloser Freundesdienst langfristig über das Prinzip der Wechselseitigkeit auszahlen - ein Befund, der auch im modernen Konzept der "egoistischen Gene“ bestehen kann. Darüber hinaus aber versuchen die Autoren zu erklären, warum das Gewissen auch eine Selbstlosigkeit ohne jeden Eigennutzen hervorbringen kann, ja oft sogar ein Verhalten, das unzweifelhaft mit biologischen Nachteilen verbunden ist.

Laut These des Autorenpaars verfügen Menschen über zwei Moralsysteme: Eines habe evolutionär weit zurückreichende Wurzeln mit einer im Endeffekt opportunistischen Orientierung am eigenen Nutzen. Die menschliche Moralfähigkeit im engeren Sinn, die Verhalten unabhängig von seinen Konsequenzen bewertet, hingegen sei in der Stammesgeschichte erst später entstanden - im Zusammenhang mit einer Entwicklung, die als bezeichnend für den evolutionären Sonderweg des Menschen gilt. Diese wird von Anthropologen etwas lapidar als "kooperative Fortpflanzung“ bezeichnet: Gemeint ist die Entwicklung von Familiensystemen, in denen die selbstlose Zuarbeit von Helfern erforderlich ist, um alltägliche Lebensaufgaben zu bewältigen. Die altruistische Helferrolle fällt oft Kindern zu, die von ihren Eltern frühzeitig in die Pflicht genommen werden, indem ihnen das Gefühl der "Geborgenheit durch Gehorsam“ eingepflanzt wird.

Nähe zur Psychoanalyse

Demnach wäre das Gewissen gleichsam eine "eingefrorene Instanz“, in der die Bedingungen der kindlichen Kognition lebenslang konserviert sind. Hier sind Sigmund Freud und die in der Psychoanalyse so wirkmächtig beschriebene väterliche Autorität nur ein paar Theorie-Schritte entfernt. Es verwundert daher nicht, dass evolutionäre Anthropologen mit Anspielung auf Freud darüber räsonieren, dass "in unserer besonders engen Familienökologie die Quelle aller Neurosen, Psychosen und Probleme der Welt“ zu finden sei.

Folgerichtig sehen auch Eckart und Renate Voland in gewissen psychischen Störungen im Zusammenhang mit Sucht und Schuldgefühlen künftige wissenschaftliche Anwendungsbereiche ihrer Theorie.

Ihre sorgfältige Arbeit ist von einer streng naturalistischen Sichtweise bestimmt: "Nach allem, was die Wissenschaft weiß, ist der Mensch ein reines Produkt des biologischen Evolutionsgeschehens. Das betrifft nicht nur seine äußeren Merkmale, sondern auch die Strategien seines Denkens, Fühlens und Handelns und schließt das mit ein, was man Moral nennt“, sagt Eckart Voland, Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung, im Gespräch mit der FURCHE. Dies entspricht dem im Rahmen der Bruno-Stiftung formulierten "Evolutionären Humanismus“, der mit wissenschaftlich gespeister Religionskritik einhergeht. Es erscheint aber nicht ganz abwegig, dass gerade in diesem Fall der Dialog zwischen Wissenschaft und Religion das Verständnis noch weiter vertiefen könnte.

Evolution des Gewissens

Von Eckart Voland und Renate Voland. S. Hirzel Verlag 2013.

236 Seiten, geb., e 32,00

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